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Die Mär vom unbekannten Maler

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Es war im heurigen Frühjahr. Der Nachtzug nach Salzburg war stark besetzt, so daß man nicht schlafen konnte. Das brachte mich mit meinem Gegenüber, einem groß gewachsenen jungen Mann, in ein Gespräch. Nach freundlichen Belanglosigkeiten erzählte er, daß er gerne reise; vor allem den Süden liebe er. Auf meine Frage nach seinem Beruf sagte er, daß er Maler sei, worauf ich sagte, daß ich Kritiker sei. Das ergab zugleich Kontakte und — ich kann es ihm wahrlich nicht verübeln — von seiner Seite eine gewisse skeptische Distanz. Doch die gemeinsame Liebe zum Süden brachte uns einander näher. Er erzählte von Wanderungen in Kalabrien und ich von der Argolis.

An der Art der Naturbeobachtung erkannte ich den Maler: wie er Luft und Geschmack kostete, um ihre sichtbaren Entsprechungen zu finden; wie er den Wind im Gras und das Zirpen der Grillen nicht nur mit dem Gehör, sondern auch mit den Augen wahrnahm; wie seinen Erfahrungen überhaupt ein bestimmter Ursprung im Sichtbaren zugrunde lag. Lind ich fand bestätigt, daß Maler alle Dinge viel sinnlicher und konkreter erfahren als Menschen, die nicht malen; unsere Erfahrungen wieder -sind allgemeiner, umfassender, abstrahierender.

Er erzählte mir, daß er im Herbst ausstellen werde. Als ich ihn fragte, ob er als junger Künstler bei dem ungeheuren Aufgebot, das alljährlich zweimal da Parade halte, nicht unterzugehen fürchte, meinte er: nein. Gerade das gebe jemandem, der etwas könne, die Chance, aufzufallen und hervorzustechen.

Nun lud die Gesellschaft bildender Künstler zu einer großen Herbstausstellung ein. Ich ging hin, besorgte mir den Katalog, sah mir die Gedächtnisausstellung für einen frühverstorbenen Maler an, der die lebendigsten Bilder von allen geschaffen hatte, ärgerte mich über die penetrante Mischung von Dilettantismus und Routine in der Kollektion eines Herrn X., besah Vitrinen, die mit Medaillen gefüllt waren, und suchte schließlich den Namen des jungen Malers im Katalog. Ich fand ihn. Mit einem Oelbild unter 240 Nummern war er vertreten. Ich sah das Bild. Es wäre mir nicht aufgefallen, hätte ich es nicht gesucht. Vielleicht war es schlecht gewählt, und er hat in seinem Atelier noch ganz andere Sachen stehen, ich weiß es nicht. Was soll ich sagen? Es gibt viele, die nicht besser malen und malen doch.

Ich war enttäuscht. Ein vielversprechendes Gespräch, nachts in einem D-Zug geführt, hatte mich neugierig gestimmt und nun war nicht viel dahinter. Ich hatte einen jungen Menschen kennengelernt, voll Erlebnissen und Erwartungen, die Füße auf der Erde und das Ziel in den Sternen, einen prachtvollen Kerl, der die Welt liebte, die Nächte im Süden und das Meer, einen jungen Menschen, der Erkenntnis suchte und sich auf das Abenteuer der Kunst eingelassen hatte. Und nun hatte er dieses Abenteuer — soweit mir ein einziges Bild schon ein Urteil erlaubte — nicht bestanden.

Ich ging zurück zu den anderen Bildern. Sprach nicht aus vielen, die da versammelt waren, die gleiche Liebe zur Welt, zu einer kleinen Trattoria am Ligurischen Meer, zu einem sonnenüberfluteten Stück Erde in der Provence? Es wird so sein: alle diese Maler lieben die Welt und wollen sie rühmen, alle versuchen, dem flüchtigen Eindruck durch ihren Pinsel und ihre Leinwand Dauer zu geben und ihn der Vergänglichkeit zu entreißen. Aber sie versuchen etwas Unmögliches und müssen scheitern. Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Kunst erreicht uns, anders als die äußere Wirklichkeit, nicht durch alle unsere Sinnesorgane, sondern immer nur durch ein einziges; bildende Kunst durch das Auge. Wir können Bilder weder schmecken noch riechen noch hören. Sie sind der erlebbaren Welt gegenüber also um vieles im Nachteil.

Um neben der Welt bestehen zu können, müssen Bilder sie übertreffen; dort, wo es ihnen möglich ist, im Sichtbaren. Sie müssen die Vielfalt der Erscheinungen verwandeln in wenige klare Formen und Farben. Sie müssen die Wirklichkeit zusammenziehen und verdichten, damit sie in konzentrierter, wirkkräftiger Form im Bilde anwesend ist. Erst in uns, im Beschauer, entfalten sich die sichtbaren Zeichen dann wieder zur ganzen Fülle und zum ganzen Umkreis der Welt. Das ist das, was wir die Evokations-kraft der Kunst nennen: die Kraft ihrer Zeichen, die Erscheinungswelt aufs neue hervorzurufen. Und nicht bloß diese: sondern auch andere, dem leiblichen Auge nicht wahrnehmbare Welten hinter oder neben der Welt der Erscheinungen. Eine neue, verwandelte, dauernde Welt entsteht durch die Kunst in uns; nicht bloß irgendein bestimmter Tag an der Adria erwacht zu neuem Leben, sondern die Adria mit allen ihren möglichen Tagen, gewesenen und nie gewesenen, kommenden und niemals kommenden ..,

Dies ist's, was die Kunst der Welt voraus hat:

die Dichte, die alles im Keim enthält. Es ist das Geheimnis der Kunst, diese Keimkraft zu haben.

Noch einmal ging ich durch die Hallen mit den Bildern. Alle Gemälde erzählten davon, daß ihre Schöpfer in fremden Ländern gewesen waren, sich von der ungeheuren Bläue des mediterranen Himmels angezogen fühlten und Schönheit in entlegenen Winkeln und abbröckelndem Gemäuer entdeckt hatten. Die Bilder weckten in mir Erinnerungen, nicht mehr. Ich sah, daß die Maler die Welt geliebt hatten, aber in ihren Bildern blieben sie hinter ihr zurück.

Viele Bilder zeigten den Süden. Aber wo war das Zirpen der Grillen, das Rauschen der Fi-nien, der Geschmack von Rotwein und Tau, der Fischgeruch der Gassen Venedigs? Sosehr ich auf die Bilder einging: nichts davon verspürte ich in mir.

Leb darum wohl, unbekannter Maler. Möge Gott dir immer deine Liebe zur Welt erhalten. Glaube mir: es ist viel, wenn wir die Welt lieben. Auch wenn sich diese Liebe nicht in unserer Kunst, sondern nur in unserem Leben erfüllt.

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