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Digital In Arbeit

Die moderne Tsetsefliege

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Früher einmal mußten die Menschen viel, sehr viel arbeiten, um überhaupt leben zu können. Arbeit zu haben bedeutete gesicherte Existenz und gab die Möglichkeit, sich und der Familie die eine oder andere kleine Freude des Daseins gönnen zu können. Es war das Privileg einer ganz kleinen, begüterten Gesellschaftsschicht, von der schweren Arbeit befreit zu sein und viele Stunden jeden Tages für Bildung und auch Vergnügen zur Verfügung zu haben. Freizeit zu besitzen war ein beneidetes und von Millionen Menschen erträumtes Vorrecht, und unzählige Generationen dumpf eingespannt im ständigen Zwang, zu arbeiten, lebten dahin in der unerfüllbaren Sehnsucht, auch einmal die bunte Vielfalt des Lebens frei und ungebunden erleben zu können.

Jetzt aber, knapp innerhalb eines Jahrzehnts, konnte ein fast überkompletter Wohlfahrtsstaat errichtet werden. Rente und Freizeit sind die Parolen. Man weiß, das es eine Fülle ungelöster Aufgaben gibt, es ist auch dem Nichteingeweihten möglich, unschwer zu erkennen, daß die ständige Reduktion der Arbeitsstunden im Mißverhältnis zum Volumen der notwendigen Arbeitsleistungen steht. Aber wider alle Notwendigkeit wird für die Ausweitung der Freizeit die Arbeitswilligkeit und auch Arbeitsmöglichkeit eingeschränkt.

Kampf gegen die Arbeit

Allen Altersklassen, soweit sie überhaupt noch in einem Arbeitsprozeß stehen, hat diese Entwicklung eine beträchtliche Freizeit mit sich gebracht. Fast durchweg stehen zum Wochenende zwei volle Tage frei zur Verfügung, und das bisher Erreichte soll erst den Anfang kommender Regelungen darstellen. Man ist absolut nicht geneigt, die ungeheuren Gefahren, die sich aus der Mißachtung der Arbeit ergeben, sehen zu wollen. Der Kampf gegen die Arbeit ist zu einem Prinzip geworden, zu einem politischen Schlachtruf, und man fordert jegliche Bequemlichkeit, die wie Rauschgift jede eigene Initiative lähmt. Während man im Osten die Menschen systematisch dazu erzieht, nach der beruflichen Arbeit „freiwillig" — und oft auch mit unleugbarer Begeisterung — zusätzlich zu arbeiten, sich zu bilden und die Freizeit sinnvoll zu verwerten, legt man hier im Westen das Hauptgewicht aller politischen Forderungen auf das Erreichen eines mühelosen Lebens. Was in den totalitären Staaten zu einer immensen inneren Stärke führt, die immer wieder unterschätzt wird, kann dort, wo man die Menschen unkontrolliert sich selbst überläßt, zu einer tödlichen Existenzbedrohung führen. Denn es ist schwer, eine systematisch mit unausgefiillter Freizeit verzärtelte Generation wieder zur freudigen Arbeitsleistung zurückzuführen.

Der soziale Wohlfahrtsstaat enthebt jeden einzelnen der Pflicht, für sich selbst verantwortlich zu sein und über das eigene Schicksal nachdenken zu müssen. Oberstes Ziel ist es, so bald wie möglich dem Arbeitsprozeß entfliehen zu können und eingeordnet zu werden in das Millionenheer der Rentner. Keine einzige politische Partei setzt sich heute für die Arbeit ein, man wetteifert aber, immer neue Privilegien für die Arbeitsscheu zu verschaffen. Dieses Unrecht führt zu immer größerer Belastung der Arbeitswilligen, die aber im Wohlfahrsstaat immer mehr an Stimmen verlieren, da sich die Zahl derer, die — fern der Arbeit — von den Benefizien der sozialen Versorgung leben, immer größer wird.

„Laßt mich schlafen!“

Die Wortführer politischer Parteien werden aber sofort auf die Möglichkeit der Freizeitgestaltung hinweisen und den Beweis zu erbringen trachten, daß doch jedem Menschen jetzt viel mehr Möglichkeiten offenstehen. Man wird, voll Stolz auf die „sozialen Errungenschaften“, behaupten, daß der uralte Traum der Menschheit endlich erfüllt wurde, daß man bei einem Minimum an Arbeit - wenn überhaupt — nun endlich sich all den Dingen zuwenden kann, die das Leben zu bereichern vermögen. Ur.d man übersieht dabei die höchste einfache Er fahrungstatsache, daß derjenige, der nicht arbeiten will, auch gar kein Interesse mit sich bringt, die Freizeit nutzbringend zu verwerten. Wohl verfallen immer mehr Menschen dem Motorisierungswahn und verbringen jedes Wochenende, stundenlang in Kolonnen gepfercht, im Kraftfahrzeug. Wohl staut sich schon bei den Nachmittagsvorstellungen alt und jung vor den Lichtspieltheatern, und auch das geistloseste Produkt auf der Leinwand wird hingenommen. Der Konsum an Genußmitteln steigt unaufhaltsam, da man ja schließlich etwas vom Leben haben möchte, und allerorts wuchern jene bekannten Stationen, die kulinarische Genüsse anpreisen. Die Freizeitgestaltung bringt also keine innere Bereicherung mit sich, sie führt zu größerem Genußmittelkonsum, zur trägen Befriedigung körperlicher Be-

dürfnisse, zu einer immer offensichtlicher werdenden geistigen Interesselosigkeit, zum Motorrausch und letzten Endes zum Schlaf. Und damit sei ein beängstigendes Symptom des Versorgungsstaates aufgezeigt.

Wer nämlich im Umgang mit den Menschen Gelegenheit hat, ihre Lebensgewohnheiten zu beobachten, wer — aus welchen Gründen auch immer — während des Wochenendes mit Angehörigen verschiedenster Gesellschaftsklassen zusammentrifft, wird auf ein Phänomen aufmerksam werden, das eigentlich noch nie Gegenstand der Zeitkritik geworden ist. Man kommt an einem Samstag oder Sonntag in Häuser, wo in jeder Familie nachmittags alles schläft. Man ist an diesen Tagen an sich spät aufgestanden, hat dann ausgiebig gegessen und sich dann wieder hingelegt. Oft sorgt der Genuß alkoholischer Getränke für die nötige Bettschwere, und es gibt Familien, wo man nicht einen Nüchternen antrifft. Erst abends steht man auf, um sich vor den Fernsehschirm zu setzen oder ins Kino zu gehen. Bei dieser anstrengenden Tätigkeit darf es nicht an reichlichem Alkohol, Nikotin und Koffein fehlen. Umfragen bei unzähligen Menschen ergeben immer wieder dasselbe verblüffende und doch erschreckende Ergebnis: man ist, inmitten des Wohlfahrtsstaates, dazu übergegangen, den köstlichen Qewinn sozialer Kämpfe einfach zu verschlafen. Die Freizeit, die Zeit überhaupt, das Leben in seiner Gesamtheit kann nicht gemeistert werden, und so legt man sich nieder, zieht sich zurück ins Bett und verschläft die freien Tage.

Daß man dann noch viel weniger Beziehung zur Arbeit hat, daß es nach solch durchschlafenem Wochenende noch schwieriger ist, richtig ausgeglichen wieder an die Arbeit zu gehen, ist nur verständlich. Je größer die Freizeit, um so weniger weiß man sie zu schätzen und um so größer wird das Ressentiment gegen die Arbeit.

Die Geschichte schläft nicht

Ein Volk, gelähmt durch den Abbau der eigenen Initiative, durch den sozialen Fortschritt dem Lebenskampf entfremdet, die Arbeit als lästiges Übel betrachtend, versinkt in einen von Genußgiften versüßten Schlummer. Eine ganze Generation beginnt, die eigene Schicksalsstunde zu verschlafen. Der entscheidende Aufruf Präsident Kennedys, härter zu leben, ist noch nicht an die Ohren unserer Sozialpolitiker gedrungen. Aber hoffentlich erkennt man bei uns rechtzeitig, daß ein träges und durch Bequemlichkeit paralysiertes Volk früher oder später untergehen müßte. Es ist so angenehm, jeder Entscheidung auszuweichen, es mag so einträglich sein, die Verantwortung abzulehnen und nur für das gegenwärtige Interesse einer politischen Partei zu arbeiten. Aber die Situation der Welt duldet keinen Dornröschenschlaf. Es ist ein ganz verhängnisvoller Irrtum, wenn man in der Jetztzeit’ der Meinung ist. aller Fortschritt dieser Erde liege in der Schaffung einer möglichst langen Freizeit. Es trägt beängstigend schlechte Früchte, wenn man vor allem die Jugend dem Müßiggang preisgibt und jede positive Bindung an die Arbeit zu zerstören trachtet. Die politische Partei, die hofft, immer nur durch Förderung der Bequemlichkeit Stimmen zu gewinnen, wird vielleicht damit bei allen Arbeitsunwilligen Anklang finden, die Gefahr eines jähen Umbruchs wird damit aber immer größer. Denn im Osten kennt man nicht jene Art von Freizeit, wo man dahinschlummern kann. Millionen junger Russen und Chinesen nutzen jede Minute der Freizeit, um sich zu bilden und sich bereit zu machen für die großen weltgeschichtlichen Entscheidungen.

Glaubt man in gewissen Kreisen wirklich, daß es dann in Europa eine Insel geben wird, wo man, wohlig gebettet auf die Paragraphen des Wohlfahrtsstaates, ungehindert wird schlafen können?

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