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Die Morder sind unter uns“

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So mühevoll die politisch-wirtschaftliche Liquidierung einer Katastrophenepoche von den Ausmaßen des ersten und zweiten Weltkrieges ist, die geistig-kulturelle Gesundung ist noch schwieriger und langwieriger. Es ist wie am Menschen selbst. Wunden am Körper können längst schon vernarbt sein, da in der Seele noch Verwirrung und Schrecken ist. Es zeigt sich das jeweils in der formalen und gedanklichen Unklarheit der Nachkriegskunst. Darstellende Kunst, Buch, Bühne und Film nach 1918 haben etwa ein Jahrzehnt gebraucht, bis sie das furchtbare Erlebnis verarbeitet hatten und in geläuterter Form vorstellen konnten. Auch diesmal wird die würgende Not un-

seres Alltags längst schon abgeklungen sein, bis unsere Maler und Dichter das Won zu gültiger Aussage haben werden.

Wir werden uns dann einer überraschenden Ausnahme erinnern müssen. Dem in russischer Einflußzone geschaffenen ersten großen Berliner Nachkriegsfilm „D i e Mörder sind unter uns“ ist mitten unter den sozusagen noch rauchenden Trümmern der tief getroffenen Metropole bei aller bewußten Selbstbegrenzung seiner Aufgaben im ersten Ansturm gelungen, was einst Remarque und Sheriff und Adrienne Thomas (auch Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ erschien erst 1925) erst nach langen Jahren des inneren Kampfes geglückt ist: die vollendete ethisch-ästhetische Abstraktion des Erlebten, kurz: ein Kunstwerk von Gesinnung.

Es lassen sich keine überzeugenden Gründe zur Erklärung dieses psychologischen, ja beinahe klinischen Überraschungsfalles in der Geschichte der Kunst und des Films herbeiziehen. Die wirtschaftlichen und handwerklichen Voraussetzungen für eine gesammelte und verantwortungsbewußte Filmarbeit lagen im Berlin von 1945/46 mindestens gleich ungünstig wie in Rom und Tokio, von Wien ganz zu schweigen, wo man seit Jahr und Tag eine Handvoll fehlenden Silbernitrates oder einen unausgeschlafenen Amtsrat für die derzeitige Kopf- und Herzleere der Filmschaffenden verantwortlich macht; die Schar der deutschen Künstler in wörtlichem Sinne dezimiert; die Nerven der Übriggebliebenen unter dem Schrecken der kaum verstummten Kampftage und durch tausend Drangsale des Alltags verbraucht; und trotzdem --:

Vielleicht, weil sich Buch und Regie wieder einmal in der ewig ersehnten idealen Einheit vereint fanden, vielleicht, weil zu dieser Einheit noch die ideale Personalunion mit dem Kameradichter — ja, wirklieh: Kameradichter — hinzutrat, vielleicht, weil beide den unerschrockenen Mut zum neuen Gesicht unbekannter Darsteller hatten; erklärt ist damit letzten Endes nichts. Dieser Film steht wie ein erratischer Block in der Ebene. Er ist ein künstlerischer Sonderfäll.

Sein Stoff, kein gefinkeltes, gag-aufgefüll-tes „Sujet“ im herkömmlichen Sinn, sondern eine klare, saubere Fabel: der Weg zurück eines Berliner Chirurgen, der unter der Schockwirkung eines grausamen Kriegsweihnachtserlebnisses apathisch dahindäm-mert, aber durch Tätigkeit und Liebe wieder sich selbst findet. Engel und Teufel stehen auf diesem Weg. Hüben die junge, beherzte Industriezeichnerin und der alte Uhrmacher mit dem sanften, sinnfälligen Namen „Mondschein“ (eine Gestalt von klassischer Herzenseinfalt und Güte von der lauteren Poesie alter Szöke-Szakall-Figuren), drüben eine Legion von Haustratschgeistern und Tingeltangelmarionetten; ein Windhund von Astrolog; und Hauptmann Brückner.

Hauptmann Brückner. Der Haupt-Mann, der im grimmigsten Sinne des Wortes Titel-Held des Films. Der Mörder unter uns. Er hat am Heiligen Abend 1942 unterm Christbaum den Befehl zur „Liquidierung“ der Bevölkerung eines ganzen Dorfes im besetzten Land gegeben, er hat den Tod überlebt und überlistet und münzt noch jetzt aus seiner feiernden Sense Geld (Stahlhelme — Kochtöpfe — iß ja alles ejal). Er ist immer da und immer obenauf. Er ist immer für Deutschlands Aufstieg und redet und redet und es sind die ewigen Töne aus des deutschen Spießers Wunderhorn. Dabei ist dieser gutangezogene, gutfrisierte Kerl — dies eine besondere psychologische Plastik des Films: — nicht penetrant-fratzenhaft, kein Scheusal der alten Bühne. Er ist auf keinen Fall eine nationale Grimasse. Er ist bisweilen sogar gefährlich sympathisch („und det iß meen Jüngster, lieber Doktor!“; Stolz, breites Lächeln). Das Familiäre, das Joviale: das ist das eigentlich Dämonische an ihm. Nichts ist unglaubwürdig an ihm: es hat ihn ein jeder von uns in Krieg und Frieden einmal begegnet und seine Biederpratze gespürt. Oder seine Wolfspranke. Und es wird immer wieder Kain sein, sagt Wildgans einmal. Aber man muß sie hetzen, die Kains, stellen, töten. Es kann freilich nicht ein beliebiger Richter sein. Mein ist die Rache, redet Gott. Nicht der einzelne, nur die Gesamtheit kann ihn strafen — sagt der Film.

Und bis dahin gehen wir beherzt und ohne Zaudern mit diesem Film den gleichen Weg. Aber, es ist da eine Kreuzung, an der sich die Geister scheiden und wir den Weggefährten verlassen müssen. Oder — verläßt er etwa uns? —

Es ist möglich, daß in diesem alle Werte verwirrenden Krieg unter den Lichtern des friedenmahnenden, aber in manchem Herzen zum bloßen bürgerlichen Brauch erstarrten Christbaum ein blutiger Befehl ausr-gegangen ist (das Weihnachtslied im Muhde des Hauptmanns ist eine harte, aber künstlerisch-motivisch noch vertretbare Melodie).' Einmal, vielleicht noch einmal. Die eindringliche Symboliksprache des Films trägt freilich an sich den Hang zur Typisierung, zum Gleichnis des einen für alle, des Einmaligen für die Regel. Und wenn der christliche Braudi an anderer Stelle des Films wiederkehrt — das zweitemal spricht ein Pastor in einer Notkirche unter dem Baum das Weihnachtsevangelium so monoton, daß es „das Herz des unruhig umherrirren-den Chirurgen nicht erreichen kann“ (so meint' es wohl der Film?) — und schließlich ein drittesmal wiederkehrt (und diesmal bricht der Hohn in der Weihnachtsansprache des Hauptmanns an seine Arbeiter offen durch) — dann gerät das ethische Gerüst des Films an einer bestimmenden Stütze bedenklich ins Wanken.

Es ist in den letzten Jahren viel gefehlt und geirrt worden. Aber auch nur einen Bruchteil der Schuld einem Versagen der Botschaft vom „Frieden den Menschen, die eines guten Willens sind“, anzulasten, ist eine abwegige Vertauschung von Ursache und Wirkung, eine unangebrachte Identifizierung der Idee mit ihren Renegaten.

In einem Kunstwerk von so hohem Range und sonst so vornehmer Haltung, wiegt eine solche tendenziöse Entgleisung doppelt schwer. Sie ist geeignet, eine Front gemeinsamer Haltung und Abwehr aufzusprengen, ohne deren Geschlossenheit die Mörder unter uns nicht gestellt werden können. Es bleibt abzuwarten, ob der deutsche Gesinnungsfilm, in welchen Einflußzonen immer er entstehen wird, an solchen versteckten Vorbehalten gegen einen rückhaltlosen und ehrlichen geistigen Zusammenschluß im Dienste der Friedensidee festhalten will oder im Verlaufe weiterer Klärung und Reifung auch diese letzten Hemmungen einer vollen künstlerischen und erzieherischen Entfaltung abtun wird.

Trotz allem — in dern mit unsiditbarem höchsten Preise ausgestatteten Wettkampf um die künstlerische Gestaltung des Kriegsund Nachkriegscrlebnisses, um den Friedensfilm, fällt die erst Runde (im Finish mit der Schweiz: „Die letzte Chance“) unzweifelhaft an Deutschland. Filmösterreich ist in diesem schönen Bewerb vorläufig noch zur Rolle des aufmerksamen, bewegt Anteil nehmenden Beobachters verhalten. Aber es tut gut daran, in den Film „Die Mörder unter uns“ wie in einen Spiegel zu sehen.

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