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Die Mütter der tausend Kinder

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SPÄTSOMMER ÜBER DÖBLING. Die alten Vorortehäuser auf der linken Seite der Hofzeile wärmt der milde Schein, er verklärt das alte Gemäuer der niedrigen Behausungen der einstigen Bachzeile. Rechter Hand dämmert im Schatten die Döblinger Pfarrkirche zum heiligen Paulus, urkundlich bereits 1413 genannt. In der Hofzeile stand das Maria-Theresien-Schlößchen, wo die höchsten Kreise des Hofes verkehrten; hier wurde als erstes Haus ein Gutshof des Nonnenklosters zu Tulln erbaut. Die großen Herren von einst schlafen in erzenen und marmornen Sarkophagen. Der fröhliche Lärm der kleinen Herren von heute, die im Hause Nr. 22 langsam von der Unbeschwertheit des Kindseins in den Ernst der Pflichterfüllung hinübergeführt werden, schallt eine Viertelstunde vor zehn Uhr vormittags plötzlich in die stille Gasse, wo die Schwestern vom armen Kinde Jesu wie jedes Jahr ihre Schulklassen eröffnet haben. Drüben auf der Sonnenseite warten die Mütter auf ihre Sprößlinge, hüben drücke ich die Klinke des Tores nieder, und es ist mir sonderbar zumute. Die Lebenslinie kehrt sich um, man glaubt, wieder nach der Schultasche greifen zu müssen, denkt an Hefte und Aufgaben — aber die Jugend, kleine und große Mädchen, richtige Fräulein, muntere Wogen eines unendlichen Stromes, flutet links und rechts vorbei, und die eigene Jugend liegt so ferne wie die blühenden Fliederbüsche der Döblinger Vorgärten, jetzt im ausgehenden Jahre. Wer als Mann von der Presse gewöhnt ist, durch Schulhäuser geführt zu werden, hat in der Hofzeile während der kurzen Pause, da er auf die Schwester wartet, die als Direktorin amtiert und gerade'AW'Unterrichfsstunde be-S6'1!

InflM, Oeiegtüihelt, fesmrsiglleii, ——f wie grundlegend anders hier das Benehmen der Jugend ist. Man glaubt, in einer großen Familie Gast zu sein.

EINE GROSSE FAMILIE bilden in der Tat, Symbol der menschlichen Gemeinschaft, die vor dem Schultore wartenden Eltern, die Jugend und die Schwestern. Als am 2. Februar 1837 eine kleine Gruppe Mädchen im Hause Fey zu Aachen beschloß, eine Armenschule zu eröffnen, am nächsten Tage ein Kaplan Katechismusbänke aus der Kirche in einen leerstehenden Raum trug und ein anderer durch das Versprechen neuer Holzschuhe von der Straße ab Kinder in die kleine Schule zog, war die Genossenschaft der Schwestern vom armen Kinde Jesu ihrer Berufung und Aufgabe nach gegründet. Das Konkordat von 1 8 55 in Oesterreich legte den Grundstein für das Wirken der Schwestern bei uns. Mutter Clara Fey schickte vier Schwestern, am 11. Dezember 1857 langten sie m Wien ein. Zunächst wohnten sie ÄPPsMi in der Vorstadt Roßau Nr. 132, an der Ecke Porzellangasse und Fürstengasse. Die nächste Station hieß Ober-Döbling, Hauptstraße Nr. 104. „Was das Haus betrifft, so wird der liebe Gott gewiß für das Beste sorgen“, schrieb Mutter Clara Fey am 31. März 1860. Und: „Die Aussicht auf das alte Dominikanerkloster freut mich sehr.“ Als einst Rudolf von Habsburg in den Kampf gegen Ottokar zog, gelobte er die Stiftung eines Klosters zum heiligen Kreuz. 1280 schenkte er dem neuen Konvent die Weinberge zu „Tobeliche“ (Döb-ling), die Herren von Tobelich wurden Rentmeister der Tullner Dominikanerinnen. Ihr Wirtschaftshof stand an der Stelle der heutigen Villa Wertheimstein, die Anhöhe hieß Tullnerberg. Die Erinnerung an den geistlichen Besitz war also 1860 noch lebendig. Das Haus Nr. 104 rühmte Theodor Körner 1812 in einem Briefe: „Unser Zimmer ist im zweiten Stock und hat sieben Fenster mit der königlichsten Aussicht; zwei gehen auf die Berge, drei auf die Donau, zwei auf die Stadt, die herrlich ausgebreitet vor mir liegt.“ Eine Spur der Sicht empfängt auch heute noch der Besucher der weitläufigen Schulgebäude, wenn er über die Dachterrassen geht.

IN DER ROSSAU gab.es freilich noch keine Dachterrassen. Dort haben die Schwestern mit einer zweiklassigen Volksschule begonnen, in den achtziger Jahren wurde sie zu einer vollen Volksschule und Bürgerschule ausgebaut, später entwickelten sich Anstalten mit Oeffentlichkeits-recht, und von besonderer Bedeutung war 1902 die Errichtung einer Lehrerinnenbildungsanstalt.

Nach 1918 richtete man ein Realgymnasium ein, das in den dreißiger Jahren mit einer Fräuen-oberschule verbunden wurde. Zur Lehrerinnenbildungsanstalt kam ein Institut für Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen. Trotz der Ausweitung der Tätigkeit blieb der Gedanke an das sozial gefährdete Kind immer lebendig. Heute gilt es auch, die Mittelschuljugend fürsorgend zu erfassen. Wenn im Jahre 1869 ein kirchenfeindliches Gesetz den konfessionellen Schulen die Unterstützung aus staatlichen Mitteln entzog und man im innersten Winkel der Politik auf ein Aussterben der konfessionellen Anstalten rechnete, so steht man heute, drei Generationen später, noch immer auf demselben Punkt pädagogischer Engstirnigkeit.

AUF DAS AUSSTERBEN rechnet man in gewissen Kreisen weiterhin. Darin liegt System, und das unterscheidet sich wenig von der Taktik nach 193 8, als man Schnellsiede-Lehrgänge für ostbestimmte Lehrerinnen einrichtete, Mutterhaus und Töchterhäuser der Schwestern beschlagnahmte. 1945 fanden die Zurückgekehrten zerbombte Gebäude vor. Aber unermüdlich gingen die Schwestern wieder an die Arbeit. Ohne den festen Glauben, ohne die Liebe zum Beruf, ohne unbändigen Idealismus wäre diese harte Arbeit nicht möglich gewesen. Dreizehn Jahre voller Sorge sind vergangen, und man kann nicht behaupten, daß der Himmel über der Zukunft dieser und ähnlicher Anstalten so blau und sonnig ausgespannt ist wie der dieser Spätsommertage. Es ist jetzt, da die dritte Tranche der Kirchen-bauanleihe aufliegt, gerade der passende Augenblick, durch die Lehr- und Wohnzimmer einer Schule wie jener in Döbling zu gehen. Es gibt nicht einen Raum, in dem das Wirken fürsorglicher Hände fehlte, wo nicht die Geschicklichkeit der Schwestern und Zöglinge förmliche Wunder vollbracht, “hätten, wären es auch nur ein Schachtisch im Aufenthaltsraum, eine aus Bambusstäben hergestellte Aufhängewand für Blattpflanzen, ein hübscher Wandteppich über einer Sitzecke, Büchergestelle und Sessel. Wer rechnen möchte, kann sich beiläufig ausrechnen, was diese Dinge, die eine Atmosphäre von Familiarität schaffen, kosten würden, müßte man sie fertig anschaffen. Jeder Schilling muß ein paarmal umgedreht werden, kein Deus ex machina erscheint bei den Zahlungsterminen. Wenn man das Schulgeld von hundert Schilling bei einer Durchschnittsklasse von 30 als Bruttoeingang mit 3000 Schilling in Rechnung setzt, entspricht dies beiläufig eineinhalb Monatsgehältern. Wie man mit solchem Budget überhaupt das Auslangen finden kann — an die Lehrbehelfe sei nur nebenbei erinnert —, ist unbegreiflich. „Das ginge auch gar nicht“, sagt die Direktorin, „hätten wir nicht in dem grenzenlosen Idealismus der Schwestern ein Kapital.“ Aus der vorigen Tranche der Kirchenbauanleihe wurden mehr als 21 Millionen Schilling für Internate, Schulen und Kindergärten verwendet Im Grunde genommen hat sich der Staat, haben sich die Gemeinden diese Summe erspart. Es ist deshalb im höchsten Maße unbillig, wenn man von den Eltern, die wünschen, daß ihre Kinder in konfessionellen Schulen erzogen werden, steuerlich ebensoviel verlangt wie von anderen Eltern. Draußen in Döbling werden 1100 Kinder erzogen. Von mehr als tausend Eltern nur an diesem einen Platz, die mit ihrer finanziellen Leistung den Staat entlasten, muß eine Welle des Unmuts darüber ausgehen, wie die Schulgesetze verschleppt werden. Es gibt in Döbling 280 Interne. 280 junge Menschen werden umhegt. Wer von auswärts kommt, findet hier ein zweites Heim, geistigen und sittlichen Halt, kann am Kulturleben der Bundeshaupstadt teilnehmen. Von den 280 gibt es 200, die mit Begeisterung Musik betreiben. Was leistet der Staat, was die Gemeinde dafür? Wer es noch nicht wissen sollte: null. Es gibt weder staatliche Zuschüsse noch staatlich angestellte Lehrkräfte für Schulen dieser Art, und man kann sicher sein, daß, wenn irgendwann und irgendwie finanzielle Mittel flüssig werden, eine Hofzeile im dritten Hinterhof des Budgets läge.

DER DRITTE HINTERHOF kultureller Mentalität stimmt traurig, wirkt bedrückend, erregend, macht zornig angesichts dessen, was man an realer Leistung vor sich sieht — nicht nur in der Hofzeile allein. Oben auf dem einstigen Pfaffenberg, heute wohlbekannt als „Am Himmel“, wurden schon 1919 auf Antrag des Magistrats Fürsorgekinder aufgenommen, 1924 eine Haushaltungsschule eröffnet und sogleich 1945 wieder die Arbeit am Erziehungswerk für kleine, vorschulpflichtige Fürsorgekinder begonnen. Heute sind es 60, darunter viele sprachgestörte und vierzig schwachbefähigte Knaben, die man in einer Heim-Sonderschule unterrichtet. Im Kloster Maria-Schutz nächst Enzersdorf unterhalten die Schwestern eine Volks- und Hauptschule, verbunden mit einem Internat und einem Heim für Fürsorgekinder. Draußen in Stadlau hat Maria-Friedau alle Klassen der Volks- und Hauptschule und als einzige Privatschule Wiens auch einen zweiten Klassenzug für schwächer befähigte Hauptschülerinnen. Im Clara-Fey-Heim in Döbling besteht seit 19f2 eine Sonderschule, achtzig Kinder lernen dort in, fünf Klassen, In dem landschaftlich wundervoll gelegenen St. Josefs-Edelhof bei Rohrbach an der Gölsen in Niederösterreich ist den Aermsten der Armen ein Heim eröffnet worden. Etwa 50 vorschulpflichtige Fürsorgekinder atmen, vom Dunst der Großstadt befreit, dort auf. Die vierte Volksschulklasse in Stadlau freut sich jedes Jahr auf ihre Schullandwoche. Eine Gruppe junger Mädchen erhält Anleitung in den Arbeiten des ländlichen Haushalts. Erzbischof Doktor Franz König hat anläßlich des 100. Jahrestages der Arbeit der Schwestern vom armen Kinde Jesu von ihrer „vorbildlichen Erziehungsarbeit“ und ihrem selbstlosen Einsatz geschrieben. Bei der gleichen Gelegenheit sprach der Bundeskanzler von der mühevollen, „oft so wenig bedankten Tätigkeit“ Es ist hoch an der Zeit, daß der Dank greifbare Form annimmt. Die Kinder von Döbling, Stadlau und Enzersdorf sind die Staatsbürger von morgen. An die Kinderzeit erinnert man sich öfter, als unser kommunalisiertes und kollektivistisches Zeitalter glaubt.

SPÄTSOMMER ÜBER DÖBLING ... Die Schwestern, welche mit den Kindern durch den noch grünen Wald oben „Am Himmel“ wandern, einmal das eine Kind, dann das andere an die Hand nehmend, auf Dutzende Fragen immerzu Antwort gebend, ob es einem grünschillernden Käfer gilt, den winzige Kinderhände behutsam vom Wege wegtragen, damit ihn kein Fuß zertritt, oder einem Vogelschrei — diese Schwestern sehen die welken Blätter dieses Jahres nicht. „Ich habe keine Zeit, die aufregenden Nachrichten zu verfolgen, die Tag für Tag die Schlagzeilen aus der großen Welt bringen“, sagt eine Schwester und blickt auf ein Kind, das mit dem Stiel eines Zweiges unbeholfen Buchstaben in den Sand malt. „Die kleine Welt hier ist unabsehbar groß für uns Erzieherinnen, und wir, denen die Zukunft von tausend Herzen anvertraut ist, hoffen mit mütterlichem Gefühl, daß man uns mit unseren Sorgen nicht allein läßt.“

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