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Die Mutter ging fort

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Auf dem Kai schritten sie zuerst schweigend dahin, Jean-Louis, den Blick zur Erde gerichtet, Abel, ein Boot betrachtend, das zwei in das Wasser der Seine setzten. Sie entfernten sich seine-aufwärts vom Boulevard; der ländliche Charakter der Insel wurde ausgeprägter; auf diesem vernachlässigten Flecken Erde war es sehr friedlich; von Zeit zu Zeit pfiff ein Lastkahn oder ein Schlepper, bevor er unter der Brücke durchfuhr.

„Wie merkwürdig“, nahm Abel, den das Schweigen rasch bedrückte, das Gespräch auf, „solange du in der Rue Vaneau warst, zu H%use warst, kannten wir einander nicht... was ich kennen nenne. Ich habe den Eindruck, der Mensch, der neben mir lebte, war nicht derselbe wie der, der du jetzt bist. Es ist ein Unsinn, ich weiß. Niemals haben wir miteinander so gesprochen wie heute.“

Jean-Louis antwortete nicht und schüttelte nur den Kopf. „Und doch“, fuhr Abel fort, „... ich weiß nicht... es muß etwas Ähnliches in dir und in mir sein, daß wir beide... von zu Hause fortgegangen sind.“

Er konnte dem, was er fühlte, nicht ganz auf den Grund kommen. Es war kein bewußter Gedanke, sondern ein instinktives Empfinden, das Bedürfnis, sich an diese Ähnlichkeit mit seinem älteren Bruder anzuklammern. Und zugleich ahnte er in seinem Bruder einen Widerstand, dessen Sinn ihm unverständlich war, der ihn aber beunruhigte.

„Was ist das also, die Familie? Man glaubt, man hat alles gemeinsam, weil man du zueinander sagt und einander beflegelt. Und erst wenn alles zerstört ist, entdeckt man, daß wirklich etwas da war, das uns vereinte, das aber niemand auszusprechen wagte. Sind alle Familien so? Im Grunde bleibt man einander immer fremd.“ „Ich weiß nicht“, antwortete Jean-Louis, „wir waren vielleicht nicht eine Familie wie die andern. Wenn Mama dagewesen wäre ... doch nein, eben weil es nicht möglich war, hatte sie alles aufgegeben.“

„Hast du sie wiedergesehen?“

„Ja.“

Er schwieg einen Augenblick, als zögere er, dieses Thema anzuschneiden. Doch seitdem die Anspielung auf ihre Mutter in ihr Zwiegespräch geglitten war, quälte ihn das unvergeßliche Bild.

„Erinnerst du dich an sie?“ fragte er.

„Nein“, gestand Abel leise und bedrückt.

„Du warst so klein, als sie fortging, es ist ganz natürlich.“

„Und doch denke ich, ich weiß nicht warum, seit einiger Zeit immerfort an sie. Es war sogar ganz merkwürdig: wie wenn sie in dem, was ich vorhatte — das Haus zu verlassen wie du —, eine Rolle spielen sollte.“

Da sein Bruder schwieg, fuhr er fort: „Findest du es nicht ganz abscheulich, daß Vater es uns nicht erlaubt hat, sie zu besuchen?“ „Ich habe nie das letzte Wort in dieser Sache erfahren. Vielleicht hat er ihr eine schriftliche Erklärung abverlangt, daß sie auf uns verzichte. Oder auch...“ Er zuckte mit den Achseln, es war so leicht möglich, daß sie nichts getan hatte, um dieses Recht für sich in Anspruch zu nehmen.

„Ja freilich“, sagte Abel mit Wut in der Stimme, „er war vollkommen im Recht.“

„Allerdings.“ Jean-Louis fühlte wieder die Erschütterung, die er als Heranwachsender erlebt hatte, als er nach und nach die Tragik entdeckt hatte, die aus der Abwesenheit der Mutter erwuchs. Als sie aus dem Haus geflohen war, war war er noch sehr jung,- knapp zehn Jahre. Aber die Erinnerung an diese elegante Erscheinung, an das starke Parfüm, das er im Stiegenhaus roch, wenn sie ausgegangen war (sie war immer ausgegangen), an das allzu heftige Lachen, das sie wie eine Schranke den Menschen entgegensetzte, war in ihm lebendig geblieben. Einmal hatte er einem Auftritt zwischen seinen Eltern beigewohnt (später erst hatte er es verstanden), einem kurzen, sehr unklaren Auftritt, dessen Worte er nicht hätte wiedergeben können, der sich ihm aber als ein Doppelbild “eingegraben hatte: sein Vater stand unbeweglich, lächelte unausgesetzt, strich seinen Bart mit nachlässiger Gebärde und fixierte mit einem außerordentlich grausamen Blick dieMutter, die, Erregung und Spott in der Miene, mit den duftigen ihn ausfragte, sagte er mir: ,Wenn man seine Hölle auf Erden durchgemacht hat, bleibt der Himmel, für drüben ...' Du weißt, daß er jetzt nur mehr von dem einen spricht, vom Himmel...“ Er zuckte die Achseln.

„Ich weiß nicht, ob diese Dinge existieren“, sagte Jean-Louis ernst, „der Himmel, die Hölle. Aber sie hat viel gelitten.“ Es kostete ihn Überwindung, zu sprechen. „Als ich sie wiedersah, wohnte sie in einer Art Werkstatt, in 1 einem Hinterhaus auf dem Boulevard Emile-Augier, über den Bahneinschnitt hinaus, weißt du, wo? Es war dort sehr ruhig, etwas sonderbar. Auf dem Boden, auf den Möbeln, auf dem Diwan lagen allerlei Pelze: und es roch immer noch nach ihrem Parfüm ... Ich läutete; sie kam selbst öffnen; sie erkannte mich nicht sofort. Sie war schon so mager, ihre großen Augen ließen das Gesicht noch schmäler erscheinen.“

„Sie starb kurz danach?“ fragte Abel mit erstickter Stimme.

„Acht Monate später. Ich konnte nur schwer an ihr die Züge wiederfinden, die ich im Gedächtnis bewahrt hatte. Es verstrich ein Augenblick — ich schwieg, ich fand kein Wort —, dann wickelte sie sich fester in ihren Seidenschlafrock und trat ein wenig zurück. Sie sagte mir nur: ,Du bist es, Jean-Louis?' Da begann ich zu zittern. Sie sah so bestürzt aus, sie war so schrecklich unglücklich. Ich hätte so gern ein Wort gefunden, ein Wort, um ihr zu sagen, warum ich gekommen war. Ich hatte schon so viel erraten! Ich wußte schon, daß jene Gerechtigkeit, an der sie zerbrochen war, nicht die wahre Gerechtigkeit ist. Verstehst du, was ich meine? Schließlich habe ich hervorgestottert: ,Du siehst, Mama, ich bin gekommen.' Sie ließ mich neben sich niedersetzen; sie tastete mich ab, als ob sie plötzlich blind geworden wäre. Und sie fand auch nichts anderes als: ,Ja, du bist gekommen.' Dann stand sie unvermittelt auf und stürzte auf die Stiege, die zum ersten Stock führte. Sie kam mit einer großen Schachtel Marrons glaces herunter. ,Du hattest sie früher gern,

Federn einer Boa spielte und den Eindruck eines Vogels in der Schlinge machte. Kurze Zeit darauf hatte sie die Gouvernante, Fräulein Sucre, eines Abends nach Vezelay gebracht, obwohl nicht Ferienzeit war; und bei seiner Rückkehr hatte der Vater verkündet, daß die Mutter eine sehr lange Reise angetreten habe und daß er nicht sicher sei, ob sie von sich werde hören lassen. Und er hatte verstanden.

Doch erst mit siebzehn Jahren hatte ihn mit herzzerreißender Heftigkeit das Gefühl überwältigt, daß er durch diese Abwesenheit um etwas betrogen wurde. Mehr als ein Jahr hatte er gebraucht, um die Adresse der Mutter zu entdecken. Sie trug einen anderen Namen als den ihren. Und wochenlang hatte er gezögert, sie aufzusuchen. Dann hatte er sich entschlossen.

. „Onkel Paulin hat mir von ihr erzählt“, warf Abel ein. „Was sagt er?“

„Ich weiß nicht genau. Er sagt oft Dinge, die man nicht versteht, oder die man erst lange später versteht. Als ich nicht wahr?“ Es ist eine Dummheit, aber ich fing zu weinen an. Sie küßte mich. Ich dachte, daß die Zeit verstreiche und ich keine Worte finden würde; ich verachtete mich, ich verabscheute mich selbst. Aber es war wie eine Lähmung. Schließlich war sie es, die sprach. Sie sagte: ,Er hat dich also kommen lassen?' Das hat mich aufgerüttelt. ,Ich habe ihn nicht um Erlaubnis gebeten. Er weiß nicht, daß ich hier bin.“ — ,Du mußt es ihm nicht erzählen', sagte sie, indem sie mir über die Haare strich. Ich verlangte keine Erklärung von ihr; das hatte keinen Sinn, meinst du nicht auch? Sie redete von meiner Arbeit. Ich war in jenem Jahr in der Philosophieklasse. Sie hatte eine sonderbare, verschleierte Stimme: sie muß an einer Halskrankheit gestorben sein. Ich wagte nicht, sie zu fragen. Was hätte ich ihr darauf sagen sollen? Konnte ich bewirken, daß alles ausgelöscht würde? Alles ... Ich wußte nicht einmal, worin es bestand. Ich ahnte bloß, was mit ihr geschehen sein mochte. Und sie, du kannst dir das nicht vorstellen, Boulou, es war, als hätte sie Lust, ins Leben wie in eine Frucht zu beißen. Man hatte das bestimmte Gefühl, ihr wahres Leben sei nicht das, das sie in jenem Augenblick führte, und auch nicht das, das sie mit ihrem Gatten geführt hatte. Was also? Ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht sagen: eine Frage, eine Erwartung, etwas, das sie verzehrte. Dabei sprach sie leise; sie lachte, aber das Lachen ermüdete sie, sie begann heiser zu husten. Ich weiß niclrt mehr, was ich ihr erzählt habe; es waren natürlich Dummheiten, lächerliche Schulgeschichten. Sie fragte mich auch über dich und die Schwester aus. Sie sprach ohne Groll, ohne Heftigkeit. Es war ganz so, als ob sie ,ihm' nichts nachtrage.“

„Du hast zu ihr nicht... von ihm ... gesprochen?“

„Nein, ich wagte es nicht. Und dann auch, wozu sollte das gut sein?“

Sie kamen an das Ende des Kais: da sie wegen eines Schuppens, der den Weg versperrte, nicht weitergehen konnten, kehrten sie üm.

„Hast du sie dann öfter wiedergesehen?“

„Nein“, sagte Jean-Louis in schmerzlichem Ton. „Als ich wegging, vergaß ich, sie zu fragen, ob ich wiederkommen könne. Ich wäre gern sofort umgekehrt. Am nächsten und übernächsten Tag ging ich in die Nähe ihrer Wohnung; ich ging lange neben dem Bahneinschnitt.

Ich schaute auf ihre.Tür. Aber ich wagte es nicht... Erst in der Woche darauf entschloß ich mich; die Hausbesorgerin hielt mich im Gange auf. Sie sagte mir, daß sie nicht mehr da sei, daß sie gerade am Vortag übersiedelt sei. Ich bin überzeugt, daß das nicht stimmte. Vom Gang aus sah ich die Vorhänge der Werkstatt: es waren dieselben.“

„Es war vielleicht ein möbliertes Zimmer“, sagte Abel.

„Ich habe an das auch gedacht... doch nein, ich glaube nicht. Sie wollte mich nicht wiedersehen. Ich blieb ganz verdutzt stehen und fand keine Antwort für die Hausbesorgerin. Auf der Straße begann ich rasch zu gehen. Ich war sehr unglücklich. Ich ging rund um die Teiche. Es war Winter. Es war kalt und traurig. Ich verstand nicht, warum sie mich so im Stich gelassen hatte. Aber vielleicht war sie es, die recht hatte, was meinst du? Was konnte ich ihr bringen? Ein wenig neue Leiden? Sie hatte auch so genug!“

Sie schritten wieder schweigend voran.

Aus dem Roman „Das flammende Schwert“; mit Bewilligung des Amandus-Verlages, Wien,

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