7115834-1996_15_07.jpg
Digital In Arbeit

Die mystischen Wurzeln der Kirche entdecken

Werbung
Werbung
Werbung

Würde Jesus heute leben, würde er nicht Gleichnisse von Schafen und Hirten erzählen, sondern über Autobahnen, Aids und Computer. Er würde sich selbst in einer völlig neuen Sprache ausdrücken", ist Pater Henri Boulad überzeugt. Die Botschaft, die der aus Ägypten stammende Jesuit seinen Zuhörern vermittelt, ist existentiell. Wenn er redet, bewegen sich nicht nur die schmalen Lippen, sondern auch die Arme, die Hände, eigentlich der ganze Körper. Trotz seines Alters von 65 Jahren strahlt er eine ungebrochene Lebendigkeit aus, die unzählige Christen immer wieder neu fasziniert. Ab Montag, 15. April, hält der Caritasdirektor für Nordafrika und den Nahen Osten wieder in ganz Österreich viele Symposien, Vorträge und Tagungen.

Boulad ist durch seine zahlreichen Bücher (von denen neun in Österreich erschienen sind) als Mystiker und wortgewaltiger Verfechter der Erneuerung des Christentums in der ganzen Welt ein Begriff. Viele Menschen schöpfen aus seinen Ansichten Kraft. Denn er versteht es nicht nur, Situationen treffend zu analysieren, sondern auch komplizierte theologische Fragen in einfacher Sprache zu beantworten. Diese Fähigkeit hat der Jesuit im täglichen Umgang mit den Menschen „von der Straße", dem Volk Ägyptens, das bei ihm Bat sucht, gelernt. Seine Weisheiten sind authentisch, sie kommen aus dem täglichen Gebet und der Meditation. Seine Spiritualität ist von einer selten gewordenen Tiefe und Badikalität. Sie erinnert an den Satz Karl Bahners: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.

Boulad fordert, daß die Erneuerung kirchlicher Strukturen von spirituellen Ansätzen geleitet ist. Dieser Gedanke begleitet ihn bei seinen Vortragsreisen durch Europa, wo die religiöse Praxis ersatzlos schwindet. Den Kirchen gelinge es nicht, diesem Trend entgegenzusteuern, stellt der Pater nüchtern fest. „Es mangelt ihnen an Phantasie und Vorstellungskraft, neue Wege zu finden, die Menschen zu erreichen, mit ihnen zu sprechen und die Kirche umzugestalten." Eine Neuevangelisierung liege nicht darin, Altes zu wiederholen, da die meisten Christen eine autoritäre Kirche nicht länger hinnehmen würden. „Sie möchten konsultiert werden und nicht einfach Regeln und Strukturen übergestülpt bekommen. Gläubige, die heute den Eindruck gewinnen, als Teil des Ganzen nicht ernst genommen zu werden, verlassen die Kirche", weiß der Jesuit.

Eines der Hauptprobleme liegt für ihn in der weithin unverständlichen kirchlichen Sprache, die den Glauben in Dogmatik, Exegese und Philosophie gliedert. Die Liturgie erscheine dabei lebensfern und altmodisch, weit weg von den Sorgen, dem Denken und Fühlen der Leute. „Die einzige Sprache, die die Menschen verstehen, ist die, die mit ihrem täglichen Leben zu tun hat. Das war die Sprache Jesu." Anstatt östliche Gruppen oder Sekten zu bekämpfen, rät Boulad den christlichen Kirchen in Europa, ihre eigenen mystischen Wurzeln wiederzu-entdecken. Auch wenn das Leben laut und geschäftig sei, wachse die Zahl der Anhänger von Yoga, Zen oder der Transzendentalen Meditation.

Hier müsse die Kirche Alternativen anbieten, denn „der moderne Mensch ist außergewöhnlich offen für solche spirituellen Erfahrungen". Christliche Mystik heißt für ihn, mit Gott in eine Beziehung zu treten. Dazu müsse man „sich von den.störenden Dingen befreien, sie loslassen. Man könnte auch sagen, die Menschen müßten die Wüste wiederentdecken, das Leben mit einfachsten Mitteln." Das bedeute nicht, wie ein Bettler zu leben. Im Gegenteil, man könne durchaus seine Zivilisation beibehalten, müsse aber hinter die Dinge blicken und dürfe sich nicht von den technischen Errungenschaften abhängig machen.

In diesem Zusammenhang sieht der Jesuit die Schwierigkeit, daß die Leute nicht mehr allein sein können. Sie würden dann versuchen, die Einsamkeit durch Fernsehen, Telefonieren und andere Beschäftigungen zu überwinden. Doch Einsamkeit sei eine große Kraft und unerläßlich im Beifungsprozeß einer Person. „Sie ist der einzige Weg, wirklich Mensch zu werden. Man muß die Leere akzeptieren." Gerade das Gebet und die Meditation erfordern die Einsamkeit.

Solche mystischen Erfahrungen lerne man aber nicht aus Büchern, sondern, wie das Beispiel der Gurus in östlichen Beligionen zeigt, nur von einem persönlichen Lehrer. „Daran fehlt es im Christentum. Die Kirche ist zu sehr Institution, mit Priestern und Predigern, die wieder und wieder dieselben Gebote und Vorschriften wiederholen", kritisiert der Pater. Um dies zu ändern, bedürfe es eines radikalen Umdenkens, einer Rückbesinnung auf die christlichen Wurzeln. Das heißt für ihn: eine Kirche der Armen, eine Kirche für die Armen und eine arme Kirche.

Der Ordensmann mit ägyptischer und libanesischer Staatsbürgerschaft, aufgewachsen in einem französisch geprägten kulturellen Umfeld, bezeichnet sich als „nahöstlicher Cocktail mit einem Schuß europäischen Blutes". Seine vielfältige Identität habe er immer als Chance gewertet, „auf den Pferden dreier Kontinente, verschiedener Welten, unterschiedlicher Kulturen zu reiten" und dazwischen Brücken zu bauen. Boulad tritt unermüdlich dafür ein, die riesige Kluft zwischen den reichen und armen Ländern zu überwinden. Vor vier Jahren wurde der frühere Leiter der ägyptischen Caritas zum Präsidenten der Caritas des gesamten Orients berufen. In dieser Funktion arbeitet er eng mit Regierungen und islamischen Organisationen zusammen. Denn „95 Prozent unserer Hilfsempfänger sind Moslems. Wir schauen nicht darauf, welcher Religion jemand ist, denn wir unterstützten die Ärmsten der Armen, egal wer sie sind", betont Boulad. Zwar gebe es Probleme mit fundamentalistischen Strömungen im Islam, doch solche existieren auch im Christentum. Damit diese in beiden Beligionen nicht stärker werden, müssen man „zum Herzen der Texte in Bibel und Koran vorstoßen, zu der Quelle, aus der sie stammen. Das ist die mystische Erfahrung des Geistes in uns. Dieser Geist ist allen Menschen in derselben Weise eingegeben - bevor sie Muslime oder Christen geworden sind."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung