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„Die Nacht ist vorgerückt...“

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Sehr geehrter Herr Doktor!

Sie haben, in diesen Tagen in der „Arbeiter-Zeitung“ einen offenen Brief an Pater Lombardi gerichtet, in dem Sie mit ergreifenden Worten die innere Not der vielen „um ihr Lebensglück Betrogenen, Getretenen, Verlassenen“ schildern, denen es so schwer gemacht ist, als Christenmenscben zu leben und die auch die Predigt von dem Gebot der christlichen Liebe „nur inne werden läßt, was ihnen von den Reichen und Mächtigen vorenthalten wird“. Sie fordern deshalb in Ihrem Briefe, auch denen sei zu predigen, die aus schnödem, materialistischem Geist Mammondienst, Verrät" am göttlichen Gebot der Nächstenliebe. treiben und Sie gelangen nach einer Verurteilung jener österreichischen Partei, die den Anspruch erhebe, der einzige und alleinige Verfechter und Schutzherr christlichen Glaubens und abendländischer Kultur zu sein und die durch ihr Tun eine verwerflich bürgerliche Doppelmoral enthülle, zu der Folgerung: „Für alle Sehenden ist es längst klar geworden, daß wir einem Abgrund zueilen. Wer hält uns auf? Keine bloßen Redensarten, keine halben Ratschläge, keine Wohltätigkeitsvereine. Zwei Kräfte können die Welt vor dem Untergang bewahren: das Christentum und der Sozialismus. Nicht bloß ein moralisches Christentum und nicht doktrinärer Sozialismus. Kein Scheinchristentum und kein Pseudosozialismus. Nicht das Christentum von Pharisäern, nicht der Sozialismus von Gewaltaposteln: das wahre Christentum tätiger Menschenliebe, wie es der Menschensohn vorgelebt, der echte Sozialismus der Freiheit und Menschenwürde, wie ihn in seiner wahrhaft demokratischen Lebensform Generationen ersehnt und für ihn gekämpft und geopfert haben!“

Sie sehen, Herr Doktor, in Ihrem Briefe die Verbindung dieser Kräfte um so eher gegeben, als Christentum „in der praktischen Betätigung nur Sozialismus“ sein könne, denn Sozialismus sei praktisches Christentum.

Ihr Brief an Pater Lombardi vermag den Angesprochenen jetzt nicht zu erreichen, doch soll er nicht unbeantwortet bleiben! Nehmen Sie es gut auf, daß anstatt de , großen Predigers ein bescheidener Mann der Feder erwidert, bewogen von der Achtung, die ihm Ihre strenge Wahrheitssuche nicht, erst seit gestern einflößt, und ob der Bedeutsamkeit des Gegenstandes, den Sie an einer; nicht zu überhörenden Stelle zur öffentlichen Aussprache gestellt haben. Wahrscheinlich, sind es auch Sie nicht allein: aus,Ihrem Ver-‘ langen nach einer offenen Auseinandersetzung spricht Wille und Sehnsucht weiterer Kreise; denn Ihr Brief stellt in einer Folge von Veröffentlichungen, die das sozia-' listische Hauptorgan dem Auftreten des Predigers aus Italien widmete, die Höhe einer Stufenleiter dar, die von Spott, Ironie zu Polemik und, endlich jedoch, zu Ihrem ernsten Anruf aufsteigt, also zu dem Erkennen, daß es doch um wichtigere und größere Dinge geht als um eine geringschätzige oder kritische Beleuchtung eines fremden geist- lishen Besuchers unserer Stadt, der es hier unternahm, über das Verhältnis von Mensch zu Mensch und über dessen göttliches Grundgesetz in einem „Kreuzzug der Liebe" zu reden.

Sie haben, Herr Doktor, in Ihrem offenen Briefe den gemeinsamen Ausgangspunkt, in dem Sie dem Redner und jedem ernsthaften Christen begegnen, wohl erspürt. Der Sozialismus hat gewiß nicht seinen Theoremen seinen Eroberungszug durch die Welt zu verdanken, sondern seinem Wort und seiner Werktätigkeit unter den Enterbten, unter den in Elend und Unrecht Vereinsamten, von einem gottvergessenen Zeitalter in Stich gelassenen arbeitenden Massen. Jawohl, es ist ein unbewußtes, von fern her Überkommenes christliches Erbe, das hier, wenn auch mit fremden Bildern beprägt, zur .Münze wurde,

Stellen wir uns den Tatsachen gegenüber, wenn wir vermeinen, daß Sozialismus und Christentum in der Zuordnung ihrer Kräfte die dieser' Menschheit drohende; Katastrophe abwenden können.

Indes: diese Kräfte bewegen sich nicht gleichštrebig und, leider, oft und immer noch gegeneinander. So macht es der Sozialismus der Kirche zum Vorwurf, daß sie, deren Bestimmung es nicht ist, diese irdische Welt zu regieren, sondern den Menschen die Gesetze der gerechten Ordnung zu weisen und unablässig auf deren Einhaltung zu dringen, selbst diesen Gesetzen nicht Gehorsam verschafft, die Reichen nicht zur Erkenntnis ihrer Verpflichtungen gebracht und dergestalt das Unrecht, das Böse, die Armut, das Elend nicht ausgetilgt hat.

Warum verwechselt der Sozialismus Mission und Aufgabe der Kirche stets und immer wieder mit den weltlichen Formen und Funktionen der Gesellschaft,' mit . jenen Fehlern/ die der Erdgebundenheit anhaften? Selbst, Sie, mein . Partner im Gespräch, vermag Ihr lebendiger Gerechtigkeitssinn nicht davor zu bewahren, ein pharisäisches Christentum dort zu erblicken und anzuklagen, wo die politischen Gestaltungen, die aus dem Willen der christlichen Bevölkerung .entsprungen sind, als Menschentum und Menschenwerk Wünsche und Kritiken übriglassen. Doch hier soll uns nur die Frage beschäftigen, wie die Rettung aus dem Chaos erfolgen soll, das mit Ihnen, Herr Doktor, viele andere befürch ten und dessentwegen Lombardi nach Wien kam. . i . ' : r

Der Sozialismus hat im letzten Viertel seines Lebensalters eine’zwiespältige-Entwick- lung durchgemacht. Dem einen Teil ist der alte marxistische Dogmenglaube ver-. blaßt und er gewann praktisch eine freiere Lebensform. Im andern hat der Sozialismus mit erbarmungsloser Konsequenz und Schärfe an seinem materialistischen System weiter-

gebosselt. Nun erhebt er sich, ein furchtbarer Gigant, weltbedrohend über zwei Erdteile. Alles, was er ist, empfing dieser Riese aus seinem Mutterschoß, von der materialistischen Lehre, welche die Leugnung Gottes bedeutet, die Leugnung der unsterblichen Seele, die Verneinung naturrechtlicher Bindungen und die Bejahung der Gewalt. Er beansprucht für sich das Recht der Erstgeburt und Alleinherrschaft und proklamiert s,ich als einzig wahren Sozialismus. — . Gegen diesen Sozialismus der Gewaltapostel rufen Sie, Herr Doktor, mit Recht das wahre Christentum tätiger Menschenliebe und den echten Sozialismus der Freiheit und Menschenwürde auf. Das Christentum tätiger Men schenliebe! Zutiefst empfindet jeder gegenwartsbewußte Christ, was jene Zuordnung der Kräfte voraussetzt und mit. welchem Recht Louis Josef Lehret, Cardijn und Pius XL selbst-den Abfall der arbeitenden Klassen von der Kirche als das große Ärgernis des 19..und 20. Jahrhunderts bezeichnet haben, das große Versäumnis und die große Schuld, die wir Christen bekennen in dem heißen ' Bemühen, sie gutzumachen. „Brüder!", rief Lombardi , die auf dem.- Kinzer- platze um ihn versammelten Arbeiter, an...

Döch verstehen wir es .recht:’ das Christentum erschöpft sein Wesen ; nicht in einer Sozialen Funktion, die Bestimmung der Kirche reicht über die Grenzen der Zeit und ihrer Gesellschaftsordnung,- sie. hat- mehr zu besorgen als nur die leibliche Wohlfahrt, die eie fördert. Sie limschirrtit die geistigen Güter des Menschen,'ihre höchste Bestimmung, ihr heiligster Bereich ist die Sorge um die Seele. Das Christentum ist also nicht weltliches System, .nicht gesellschaftliche Institution, nicht Partei und kann deshalb in Wesen und Verantwortung nicht mit dem Sozialismus, diesem zeitbestimmten weltlichen Ideologie- und Interessengebilde vertauscht und mit ihm auf dieselbe Ebene gestellt werden. Doch: der Gedanke behält sein Recht, den Sie, Herr Doktor, mit dem Verlangen aussprechen, das Christentum und „ein echter Sozialismus der Freiheit und Menschenwürde“ sollen ge- meinsam helfen, das drohende Chaos zu beschwören!

Es gebührt Ihnen Dank, mein Partner im Gespräch, daß Sie abseits von der parteipolitischen Tribüne Gelegenheit geben, in diesen wichtigen Dingen sich , auszusprechen. Der österreichische Sozialismus hat jenen Absturz in den .Leninismus nicht mitgemacht. Er hat wesentlichen Anteil daran, daß die fremde Diktatur an den Grenzen Österreichs halt-

machte, so stark auch einmal in seiner Mitte die Ansätze zu einem „80prozentigen Bolschewismus“ gewesen sein mögen. .Aber in einem ist er noch jener anderen Welt, von der er sich getrennt hat,- verhaftet geblieben: In der Fassungslosigkeit dafür, daß es neben den realen Dingen dieser Erde noch andere und wesenhaft größere Werte gibt, für die mit dem Einsatz aller Kräfte gekämpft werden'muß: die unverlierbaren geistigen Güter des Menschen, Religion, Glaube, christliche Familie, Elternrecht und christliche Erziehung, ja, daß es überhaupt eine Rechtzone gibt, die der staatlichen Willkür, dem Zufall politischer Gruppierungen entzogen bleiben muß. Aus einer noch nicht überwundenen materialistischen Vorstellungswelt heraus wird der österreichische Sozialismus harthörig, wenn die christliche Bevölkerung für ihre Herzensangelegenheiten, f ü r das Un verzicht bar e Verständnis verlangt, für das Reieh und das Recht der Seele. — Hier klafft dann immer wieder der tiefe Riß auf, dieser beklagenswerte Riß, der dem Gemeinwohl so abträglich ist und der gerade in Stunden der Krise und Entscheidung, wie in der letzten Wahlzeit, die deutliche Scheidelinie bildet. Machen Sie, mein hochverehrter Partner im Gespräch, machen Sie Ihren Freunden Mut zu dem Entschluß, den Christ verstehen zu wollen, der die Verpflichtungen aus seinem Glauben an die jenseits des Vergänglichen stehende ewige Welt über alles andere, Zeitbedingte zu stellen hat.

Es wird dieser Aufruf zu einer neuen Gesinnung, zu einem besseren gegenseitigen Verstehen, nicht von heute auf morgen große Erfolge, reife Früchte bringen — er fordert unsere Geduld an. Es geht um so viel, die Gefahren sind so groß und die Bedrängnis, die aus den Klüften erwächst, ist für das Gemeinwohl so schädlich, daß keine Hindernisse uns davon abhalten dürfen, —- nicht die Beseitigung natürlicher politischer Gegensätze, wohl aber die Revision der Vorurteile, der menschlichen Verfremdung zu vollziehen. Der wahrhaft zeitoffene Sozialist und der zeitoffene Christ können sich heute in Wichtigstem verstehen, können zu einer für beide Teile fruchtbringenden Begegnung kommen. An uns ist es, dieser Stunde den Weg zu bereiten. So verstehe ich auch Ihren Brief an Pater Lombardi nicht anders, denn als den Willen, der Revision der geistigen Verfremdung zu dienen. Ich höre Lombardi sagen: „Bruder, helfen Sie mit! Ich rufe Ihnen mit dem Römerbriefe zu: Die Nacht ist vorgerückt, der Tag bricht an."

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