6601837-1953_44_05.jpg
Digital In Arbeit

Die Narrentagung Oker die Narrheit der Oesunden

Werbung
Werbung
Werbung

Am Morgen des 1, Juni trat auf einer bewaldeten Hochfläche des Berges Suma in aller Heimlichkeit der Narrentag zusammen. Alle großen Irrenhäuser — einschließlich der Strafabteilungen —, alle Heilanstalten für Geisteskranke waren mit Abordnungen vertreten. Zum Vorsitzenden wurde nicht ohne Widerspruch Gume gewählt, der bekannte, hochgradige Paranoitiker, dessen auch in den verbreitetsten Handbüchern der Psychiatrie Erwähnung getan wird.

Entgegen der Vorstellung, die sich ein Laie davon machen mag, verlief die Versammlung in voller Ruhe und Ordnung. Die Abwesenheit der verhaßten Aerzte und unleidlichen Pfleger stimmte die Teilnehmer so still und heiter, daß jedes Zeichen von Geistesstörung wie weggeblasen war oder zumindest verborgen blieb.

Zwar waren manche Gesichter versteinert oder verzerrt, vieler Augen glanzlos gleich denen Besessener. Ein borstiger, zerraufter Haarschopf erinnerte an den dummen August im Zirkus. Im ganzen aber sahen die Züge der Versammelten nicht viel anders aus als die von Menschen, denen wir täglich in den Sitzungen und Zusammenkünften gesunder, ernsthafter Leute begegnen. Die meisten hockten im kurzen, samtigen Gras der Anhöhe. Andere hatten sich auf die stärkeren Buchenäste gesetzt. Manch einer stand frei und stolz da wie ein Denkmal. Der Vorsitzende hatte auf einem hohen Felsblock Platz genommen, der inmitten der Lichtung aufragte. Er schwang als Zeichen seiner Würde einen prächtigen Knotenstock, an dessen Spitze ein Rosenstrauß befestigt war, hob nun den Blütenstab hoch und gab damit das Zeichen zum Beginn der Arbeiten.

Gume legte in kurzen, antikisch skandierten Sätzen den Gegenstand der Tagung dar. Er war, und sämtliche Teilnehmer wußten es, der gewichtigste, der dringlichste von allen: die Wiedergewinnung der Freiheit.

„Wie bekannt“, führte Gume aus, „halten unsere Feinde uns im Namen der Wissenschaft und der Gesellschaft in abgeschlossenen Folterhäusern grausam gefangen. Diese Haft ist unseres Erachtens äußerst ungerecht. Ungerecht vom Standpunkt der Wissenschaft deshalb, weil die gleichen Aerzte einräumen, unsere Krankheiten seien in den meisten Fällen ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Forschungen unheilbar. Ungerecht auch vom Standpunkt der Gesellschaft, denn der größte Teil der sogenannten Normalen, die der Haft nicht unterworfen sind, ähnelt uns, seinem Denken, Handeln und Gehaben nach, zum Verwechseln. Wir fordern somit das Recht auf Gleichheit und Freiheit. Wir verlangen die Schließung und Aufhebung aller dieser überflüssigen Strafanstalten, die sich den Namen .psychiatrische Kliniken' anmaßen.“

Alle Irren brachen zum Zeichen der Zustimmung in ein so schallendes Gelächter aus, daß die scheuen Waldvögel aufflatterten.

Als erste bat Frau Taibon ums Wort, in ihren Kreisen unter dem Spitznamen „Bacchantin des Mittags“ bekannt.

„Die Peiniger im Doktorhut“, so hub die Dame an, „behaupten, wir böten das Schauspiel von Tobsuchtsanfällen und hysterischen Krisen. Doch seht euch nur um, was täglich in sämtlichen Städten außerhalb unserer Irrenhäuser geschieht. Haufenweise strömen Männer wie Frauen in geschlossene und offene Lokale, umarmen einander paarweise, hüpfen wie von der Tarantel gestochen herum, wirbeln gleich Derwischen im Kreise, winden und verdrehen sich in schamlos tierischen Bewegungen nach Art der Bären (oder Affen — und dies alles vom Schluchzen, Seufzen und Kreischen einer wilden, höllischen Musik begleitet. Schwitzend, erhitzt und erregt treiben sie es wie in rasender Besessenheit, halten wohl ab und zu ein, aber nur für ein Kurzes, dann geht der tolle Tanz beim ersten Ton der barbarischen Kakophonie mit unanständigem Schüttelzucken wieder weiter, Stunde um Stunde, nächtelang. Was halten die liebwerten Irrenärzte von diesem alltäglichen Schauspiel?“

„Kollektivpsychose“, erklärte eine etwas katarrhalische Baritonstimmc, „Irresein aphrodisischen Typs.“

Der zweite Redner des Tages war Baron Suk, berühmt durch eine philosophische Abhandlung über die „Inexistenz des Universums“.

„Sic klagen uns“, sagte er, „der Monomanie, Mythomanie und immoralischer Perversionen an. Ja merken denn unsere gelehrten Herren Phrenologen gar nicht, was täglich in allen Teilen der Welt vorgeht? Dutzende von Millionen geistig angeblich Gesunder beiderlei Geschlechts versammeln sich freiwillig in dunklen, übelriechenden Sälen, um dem unwirklichen, oft rohen oder lächerlichen Treiben von Gespenstern beizuwohnen, deren durchlichtete Schatten auf ein weißes Leinwandrechteck geworfen werden. Die Geschichte dieser Gespenster soll fast immer Bestechung, Betrug, Unterschleif, Ehebruch, Prostitution, Gewalt und Mord verteidigen. Gleichwohl drängen und stoßen sich in diese finsteren Säle Männer mit ihren Frauen, Väter und Mütter mit ihren Kindern, Lehrer und Richter neben käuflichen Mädchen, lüsterne Halbwüchsige neben Lebegreisen und alten Vetteln, die ihrer Jugend nachtrauern. Alle suchen sie da drinnen, bei Bildern, in welchen Sünde und Dummheit gemeinsame Sache machen, ein Betäubungsmittel gegen die Langeweile geistiger Leere, einen Fluchtweg aus dem wirklichen Leben und vor allem Ersatz und Ausgleich für verdrängte Triebe, deren sie sich schämen. Was denken unsere Freunde, die Psychiater, von dieser allgemein verbreiteten, krankhaften Sucht?“

„Kollcktivpsychose“, wiederholte die gleiche Stimme, „Verlangen nach antisozialen Reiz-und Erregungsmitteln.“

Der Vorsitzende gab bekannt, nun habe Dr. Sauroctono das Wort, den die Fachärzte unter der Vorgabe wiederkehrenden zirkulären Irreseins hinter Schloß und Riegel gesetzt hatten.

„Eine noch ernstere Erscheinung“, begann der Doktor mit donnernder Stimme, „läßt sich jeden Sonntag beobachten, und das in allen Städten der Erde, wo zehntausende anscheinend normaler Wesen in offenen Kampfstätten zusammenkommen, um dem bekannten Stoß- und Trittspiel beizuwohnen. Das Spiel hat nichts sonderlich Bemerkenswertes an sich, handelt es sich doch offenbar darum, einen Lederball an einen bestimmten Ort zu bugsieren, ohne sich der Hände zu bedienen. Was indes den vernünftigen Beobachter in starres Staunen versetzt, ist die regellose, wachsende Raserei der Massen, die den Hexensabbat von Luftsprüngen und Fußtritten verfolgen. Die Tausende von Zuschauern geraten wie auf einen Schlag in hysterische, epileptische Wut. Sie zappeln, krümmen sich, beugen sich vor, kommen miteinander ins Handgemenge, gestikulieren und schreien, um die Spieler anzufeuern oder zu beschimpfen. Sie sind toll vor Begeisterung oder tief verzweifelt, als hinge vom Ergebnis dieses kindischen Beginnens ihr Schicksal und die Ehre ihres Landes ab. Aus dem Riesenrund steigt ungeheures Gebrüll und Geheul, steigen Drohungen, Flüche und Verwünschungen, Scherzrufe, Zorngrunzen, Angstschreie, daß man glauben könnte, da drinnen sei statt einer Menge ordentlicher, verständiger Leute ein gepeinigtes Heer Besessener versammelt. Was denken davon, mit Verlaub, unsere scharfsinnigen Schädelforscher?“

„Kollektivpsychose“, antwortete die Baritonstimme, „Anfälle spasmischen Gehirnfiebers.“

Sodann erhob sich der bewährte Rechnungsführer Fatilü, der wie man sich zuflüsterte, von einer gefährlichen Form der Großmannssucht befallen war, und nahm das Wort:

„Mich halten sie“, sprach der Rechnungsbeamte, „unter dem Vorwand des Größenwahns in Einzelhaft, weil ich nämlich behaupte, der Kaiser der Welt zu sein. Diese meine Ausrufung war zwar, wie ich zugeben will, einigermaßen voreilig, denn ein wirklicher Kaiser der Welt hätte sich nie und nimmer in ein Tollhaus sperren lassen. Ich erlaube mir jedoch, zu bemerken, daß es in der Gemeinschaft der sogenannten Vernünftigen zahllose ähnlich gelagerte Fälle gibt. Auf Schritt und Tritt begegnen wir kleinen Prahlhänsen, die sich für große Politiker halten, erbärmlichen Geschäftemachern, die sich als Börsenkönige ausgeben, mittelmäßigen Farbenklecksern, die wähnen, überragende Künstler zu sein, verschwommenen Wirrköpfen, die ihre Hirngespinste für tiefe Philosopheme ausgeben ...“

Doch der unerbittliche Fatilü konnte seine Rede nicht beschließen. Die Kuppe war in aller Stille umzingelt worden. Von allen Seiten brachen kräftige, mit Kettchen und Zwangsjacken bewaffnete Burschen in Weiß vor, liefen herbei, stürzten sich unverzüglich auf die Schar der Ausreißer und forderten sie mit Wink und Zuruf auf, ihnen zu folgen. Die redseligen Empörer verstummten kleinlaut und leisteten keinerlei Widerstand. Alle trotteten sie ergeben hinter ihren Wärtern her. Und so wurde die erste Sitzung des Narrenkongresses in vorbildlicher Ordnung geschlossen.

Aus „Narreteien“, Verlag Herold, Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung