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DIE NEUE WELLE

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La nouvelle vague, die Neue Welle, ist in Frankreich zu einer geläufigen Formel der Alltagssprache geworden. Auch der „Mann von der Straße” und seine Frau haben sich angewöhnt, nicht von der neuen Mode, sondern von der Neuen Welle in der Mode zu sprechen; die französischen Halbstarken in ihren schwarzen Lederjacken sind natürlich nicht eine neue Generation, sondern eine Neue Welle, und auch auf den neuen Herrn des Weißen Hauses ist die ozeanische Metapher alsobald angewendet worden. Das Wort scheint darum so beliebt zu sein, weil die in ihm enthaltene Wertung angenehm schillert. Es enthält nämlich beide Reaktionen in sich, mit denen der bereits Installierte auf ein neues Phänomen zu reagieren pflegt. Als solches ist es ihm zugleich begrüßenswert und dubios, und man läßt gern im ungewissen, welches der beiden Gefühle überwiegt.

„Nouvelle vague” ist aber nicht nur eine Wertung, und desgleichen wird nicht unterschiedslos jedes neue Phänomen mit dieser Etikette versehen. Offensichtlich meint das Wort auch einen ganz spezifischen Lebensstil — einen Lebensstil, mit dem eine bestimmte Schicht junger Leute (sowie mit ihnen jung sein wollende Mittvierziger) sich von allem Voraufgehenden zu unterscheiden glaubt. Am deutlichsten springt dieser Lebensstil im Film ins Auge: dank der Präzision im einzelnen, die sie dem Femsehschirm voraus hat, ist die Kinoleinwand ja noch immer das Reservoir Nr. 1, dem der Zeitgenosse seine Lebensmodelle entnimmt.

Seit der Filmregisseur Chabrol mit seinen beiden, mit einfachsten Mitteln erstellten Erstlingen „Der schöne Serge” und „Die Cousins” über Nacht berühmt geworden ist und dabei erst noch hohe Summen eingespielt hat, gibt es eine ganze Schule der filmischen „nouvelle vague”. Ein gewisse Zeit lang war es für Regieneulinge ziemlich leicht, Kredite zu bekommen — schon ihr Mangel an „Routine” schien sie für den künstlerischen wie für den kaufmännischen Erfolg zu prädestinieren. Das hat inzwischen etwas nachgelassen — zu oft ging seither die Rechnung nicht auf. Aber die Schule hat sich dabei doch konstituiert und läuft vorerst noch wie jede einmal in Gang gebrachte Maschinerie dieser Art weiter. Was also ist die Botschaft, die da verkündet wird?

Bei der Analyse solcher Schulen — sei es nun im Film oder in der Malerei oder der Philosophie — begeht man meist den gleichen Fehler: man sucht sie nach den zwei, drei Meisterwerken zu definieren, die ihneji entsprungen sind. Meisterwerke aber sind nie typisch. Die Neue Welle des französischen Films beispielsweise nach „A bout de souffle” (deutscher Titel: „Außer Atem”) des Welschschweizers Godard beschreiben zu wollen, wäre eine Sackgasse. So unmoralisch dieser Film auch ist (und zwar „unmoralisch” im Wortsinne und nicht im gewohnten Sinne der Fleischschau), seine ersten beiden Drittel sind atemlos tempiert und regietechnisch eine fugenlose Einheit von Angestrebtem und Erreichtem. Das Gattungsmäßige, Typische aber kommt viel reiner heraus in jenen zahlreichen Streifen in der Art der „nouvelle vague”, die nur noch Gähnen hervorrufen. In ihnen tritt das Rezept, ja die Schablone nackt zutage.

Ihr hauptsächliches Personal sind junge Menschen, die nie Jean heißen, sondern zum mindesten Gerard oder, noch eindeutiger „sophisticated”, Hubert und Philibert; die Mädchen jedoch dürfen durchaus „Jean” (französisch ausgesprochen!) ‘ heißen, wenn es nicht gerade eine Claudine oder giar Chantal ist.

Das erste Kennzeichen dieser jungen Menschen ist eine in Gesicht, Gebärde und Kostüm gleichmäßig zu tragende, lässigblasierte Eleganz; auch wenn man sich salopp gibt, etwa mit über Tennishosen fallendem Polohemd, ist das „Ich kann es mir leisten” nicht zu überhören.

Das zweite Kennzeichen ist, daß diese jungen Herren und Damen sozial nicht einzuordnen sind. Die Generation der Eltern wird selten sichtbar oder dann nur als komische Kontrastwelt; arm scheinen sie jedoch nicht zu sein, denn ihre Söhne und Töchter haben nicht nur keinen Beruf, sondern offensichtlich auch keine materiellen Sorgen in dieser Welt, deren Hauptverkehrsmittel offene englische Sportwagen (zum Jux manchmal auch ein Scooter) sind. Diese Filme spielen denn auch in einer kontinuierlichen Ferienwelt: auf Jagdschlössern in der Sologne (aber gejagt wird nicht, das wäre zu brutal), auf Sonnenbadeterrassen in St-Tropez oder, vollends vom Festland der Anstrengungen und des Schweißes gelöst, auf einer Jacht draußen im blauen Meer. Von Paris kommen allerhöchstens die westlichen Villenvororte in Frage — schon die Avenue de l’Opėra wäre zuviel des Engagements.

V7”as ist der Inhalt dieser Filme? Es ist kennzeichnend, daß “ man ihn meist schon vergessen hat, wenn man das Kino verläßt, und es ist sehr schwierig, sich diese vielen „Nouvelle- vague”-Filme in der Erinnerung noch auseinanderzuhalten. Probleme scheint es nämlich in dieser Welt nicht zu geben. Es fehlt jede politische Anspielung, religiöse Sorgen sind eTst recht verpönt, und „allgemeine Ideen” irgendwelcher Art scheinen als vulgär zu gelten. Das einzige Problem ist offenbar, wie man mit der Abwesenheit jeglicher Probleme fertig wird. So sucht man denn die Langeweile mit dem totzuschlagen, was sich aus dem Haushalt des zuwenig angestrengten Körpers (Sport, zumindest Anstrengungen erfordernder Sport, ist auch unfein) ergibt: man schläft durcheinander — alle Kombinationen sind erlaubt. Auch daraus erstehen keine Konflikte, denn wenn der Partner, zu dem man sich mit dem Whiskyglas in der Hand lässigen Schrittes begibt, gerade besetzt ist, so ist das nicht mehr, als wenn gerade einer die Zeitung liest, die man selbst lesen wollte.

Ganz ohne Kontraste sind diese Filme natürlich gleichwohl nicht. Am Rande ragen doch andere Welten herein, deren Vorhandensein mit müder Verwunderung zur Kenntnis genommen wird. Da ist einmal eine untere, animalische Welt, mit Vorliebe im Bereich der Dienstboten lokalisiert, wo es kurioserweise noch echte Lust zu geben scheint und wo man gar imstande ist, sich um eines Mädchens willen zu prügeln. Das Satyrspiel feiert da in Spitzenhäubchen und Livree Urständ. Die Tragödie aber ist ebenfalls außerhalb: sie wird von Personen verkörpert, die man zwar als gleichwertig anerkennt, die aber „das Spiel” nicht mitzuspielen vermögen, weil sie irgend etwas zu ernst nehmen: die Liebe, irgendein Ideal’ irgendeine Aufgabe. Ihre Funktion ist, daran zu zerbrechen und mit ihrem Ausscheiden (durch Selbstmord oder eine andere Flucht) das Spiel kurz zu unterbrechen. Diese Pause erlaubt es dem im Spiel Bleibenden, den Gestrauchelten mit einem von etwas Wohlwollen untermalten gereizten Bedauern zu mustern, ehe er sich eine neue Zigarette (mit russischem Mundstück) anzündet.

Die Pausen sind überhaupt das Hauptgestaltungsmittel der Neuen Welle im Film, ln ihnen möchte sie die Welt, die sie zuvor sorgsam ausgefiltert hat, in einem anderen Aggregatzustand wieder einströmen lassen. Die Pause wird „laut” wo die Hauptfiguren mit leerem Blick ins Nichts starren. Was sie denken, wird nie gesagt; aber man spürt: es ist unendlich viel Die Denkbewegung jedoch wird unterstützt von summenden Jaguarmotoren, von an den Jachtbug platschenden Wellen oder am häufigsten von Jazzmusik. Nicht etwa „heißer” Jazz, Gott bewahre — man ist weit entfernt von jener anderen Neuen Welle, den „röhrenden zwanziger Jahren” des Charleston. Wir sind in den schleichenden sechziger Jahren des Jahrhunderts; Rock’n’Roll mag für die Jugend gut sein — für unsere Dandies sind Blues und Slows die richtige Kost. Notfalls geht’s aber auch mit Vivaldi oder Palestrina.

Ein anderer, allzu häufig verwendeter Kunstgriff in diesen Filmen ist, Bedeutung durch völlig bedeutungsloses Reden zu suggerieren. Bei beiden aber, bei den Pausen wie bei den Gesprächsfetzen, unterläuft der künstlerische Irrtum, der die eigentliche Schwäche der Neuen Welle im Film ausmacht. Ihre Regisseure sehen meist nicht, daß auch das Nichts gestaltet sein müßte. Ein Maler, der weiß malen will, kann nicht einfach die Leinwand frei lassen; er muß vielmehr das aufgesetzte Weiß durch andere Töne zum Leuchten bringen. Wieso läßt der Film „Awentura” des Italieners Antonioni, der von der Pariser Neuen Welle als Krönung ihres Wollens empfangen worden ist. so unbefriedigt? Weil er das Nichts durch Abwesenheit auszudrücken versucht: durch das Verschwinden einer Person, durch das Ausbleiben eines Gefühls, durch das Fehlen eines Sinnes.

Wie anders verhielt sich da das ausgereifte und ausgewogene Kunstwerk Jean Renoirs „La Regle du Jeu” (Die Spielregel). Dieser Film von 1939 enthält im Grunde schon die ganze Neue Welle von heute in sich und hat sie zugleich in sich über-

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