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Die neuen Beichtväter

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Reden ohne Tabus: Was Menschen früher schamhaft verschwiegen hätten, sagen sie jetzt vor TV-Kameras und einem Millionenpublikum.

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Reden ohne Tabus: Was Menschen früher schamhaft verschwiegen hätten, sagen sie jetzt vor TV-Kameras und einem Millionenpublikum.

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Es ist schon erstaunlich, aufweiche Art und Weise heute mit den täglichen Sorgen umgegangen wird. Viele Menschen sagen sich: „Ach, irgendwie'werd' ich schon fertig mit meinen Problemen!"

Früher gab es dafür auch den Beichtstuhl. Da kniete der eine nieder und redete. Er wollte von seiner Schuld befreit werden. Der andere saß da und hörte einfach zu. Und nichts von dem Besprochenen drang nach außen ...

Heute ist das anders. Viele Beichtstühle bleiben leer. Dieses herkömmliche Eingeständnis von Schuld,'das Nachdenken über sich selbst, spielt im Leben vieler Menschen kaum mehr eine Rolle. Dafür gibt es jetzt die Psychotherapeuten. Wer es sich leisten kann und keine Hemmungen hat, legt sich auf die Couch zu einem intimen Gespräch.

Aber auch die psychotherapeutische Hilfe bei der Bewältigung von Schuld und Problemen spielt in der Gesellschaft eher eine untergeordnete Bolle, obwohl das Problempotential gewaltig ist, wie die Therapeuten immer wieder betonen.

Der heute herrschende Umgang mit Belastungen ist ein ganz anderer. Eine merkwürdige Art der Selbstentblößung hat Einzug gehalten und scheint immer interessanter zu werden: die Talkshow im Fernsehen. Wer Kabelfernsehen hat, kann sich bereits den ganzen Tag durch die verschiedensten Shows zappen. Unaufhörlich wird getalkt, geplappert, psychologi-siert ... Wer salbungsvolle Talkmaster mag, wird ebenso bedient wie jene, die aggressiven bis kaltschnäuzigen Stil schätzen.

Solche Sendungen sind Quotenhits geworden - zur Freude der Fern-sehmacher und ihrer Finanzchefs. Geredet wird über alles: Partnerschafts- und Familienprobleme, Sex(praktiken), Affären, Spielsucht, Abtreibung, Vergewaltigung, Gewalt in der Ehe, Verbrechen ...

Zuletzt sorgte ORF-Talkmasterin Vera Russwurm mit ihrem Gast für Aufregung: Im Studio saß eine wegen Anstiftung zur Körperverletzung rechtskräftig verurteile Frau (ein Polizist wurde in diesem Zusammenhang getötet) und durfte ihre Depressionen und Probleme fernsehgerecht kundtun. Einen ähnlichen Fall gab es bereits im Vorjahr, als sich eine Frau (sie hatte ihren Mann getötet) bitterlich über die Justiz beklagen durfte.

„Erzählen Sie!" sagt der Talkmaster. Und jeder darf reden - und sich ganz toll dabei finden. Das Fernsehen macht alle gleich. Nichts unterscheidet eine Hausfrau von einem Mitglied des britischen Königshauses. Eineinhalb Stunden stand Lady Diana einem Sender Rede und Antwort und „beichtete". Ihre Ehe mit Prinz Charles, die Affären, die Liebhaber ...

Was ist los mit dieser Gesellschaft? Wollen sich die Menschen überhaupt nicht mehr, so wie früher, mit ihren eigenen Problemen beschäftigen, sondern nur mehr an den Erzählungen anderer „erbauen"?

Sind die Fernsehshows das moderne Gegenstück zum römischen Zirkus und den damaligen Sensationen geworden? Sind sie vergleichbar mit ähnlichen Vorgängen im Mittelalter, als die Leute zusammenströmten, um sich am Feuertod von Katzen zu delektieren, oder sich bei öffentlichen Ketzerverbrennungen am eigenen Schauder zu ergötzen?

Andere sehen in den Talk-Profis gar schon die neuen „Beichtväter". Immerhin wird genau diese Form der Unterhaltung auch bereits als Beichte und Lossprechung inszeniert („Du bist schwul? Aber das macht doch nichts!")

Worum geht es? Um die schändliche Ausbeutung von Menschen, vom Schicksal oft gebeutelt, durch clevere Quotenjäger und Geschäftemacher? Gibt es keinen moralischen Geschmack mehr?

Der Grazer Kultursoziologe Manfred Prisching, der Präsident des Weltverbandes der Psychotherapeuten, Alfred Pritz, und der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner versuchen auf den folgenden Seiten diese Phänomene zu beleuchten und entsprechend zu bewerten (siehe zum Thema auch den Beitrag des Grazer Sozialwissenschafters Kurt Remele auf Seite 4).

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