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Die nötige Stunde der Wahrheit

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Für Österreichs Kirche gibt es nach dem „überlangen Karfreitag” kein Ostern ohne Stunde der Wahrheit, ohne aufrichtig durchlebten Karsamstag.

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Für Österreichs Kirche gibt es nach dem „überlangen Karfreitag” kein Ostern ohne Stunde der Wahrheit, ohne aufrichtig durchlebten Karsamstag.

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Bischof Egon Kapellari hat in Zusammenhang mit den Vorgängen rund um die Anschuldigungen gegen Kardinal Hans Hermann Groer von einem „überlangen Karfreitag” gesprochen. Inzwischen sind einige Wochen vergangen und es will in der katholischen Kirche in Osterreich nicht recht Ostern werden. Wir erleben eher einen Karsamstag. Und die aufgebrochenen Fragen betreffen längst nicht mehr nur Kardinal Groer.

Wie kann aus einem Karfreitag Ostern werden? Ein Rückblick auf den ersten Karfreitag, Karsamstag und Ostersonntag kann uns vielleicht erahnen lassen, wie dies geschehen könnte. Bei all diesen Überlegungen soll sich aber niemand vorschnell für den ungerecht gekreuzigten Jesus halten oder sonst die verschiedenen Rollen der Passionsgeschichte auf die heute Beteiligten verteilen. Bei solchen Vorgängen ist es oft nicht leicht zwischen Opfer und Täter zu unterscheiden; Petrus zum Beispiel war beides.

Ein Tag der entfesselten Leidenschaften. Am Karfreitag zeigt sich, was im Menschen alles verborgen ist: in Judas, in Petrus, in den Jüngern, die Jesus im Stich lassen; in den Hohepriestern, Pharisäern und Schriftgelehrten, in Herodes und Pilatus; in den Soldaten, im Volk.

Jesus wird zum Opfer von Selbstgerechtigkeit, Haß, Gewalttätigkeit, Lüge, Angst und Feigheit.

Der Karfreitag ist auch ein lag einer konzentrierten Aktion, um jemanden unschädlich zu machen. Alle Mittel werden eingesetzt: die falschen Zeugen, das Spiel mit der politischen Macht, die Hetze und Verhetzung ... Immer mehr Menschen werden in das Geschehen hineingerissen. Andere stehen ohnmächtig daneben und können den Gang der Ereignisse nicht beeinflussen.

Ähnliche Karfreitage grausamster Art gab es im Leben vieler Völker. Nationalsozialismus und Kommunismus wurden in unserem Jahrhundert zum Karfreitag für Millionen von Menschen. Auch die Kirche hat Karfreitage verursacht. Nicht zu übersehen sind auch die Karfreitage einzelner Menschen, die in der Öffentlichkeit unbeachtet bleiben.

Der Karsamstag ist liturgisch gesehen der Tag der Grabesruhe. Er kann für alle, die am Karfreitag beteiligt waren, noch anderes sein.

Die Wogen der Leidenschaften beruhigen sich. Gedanken über das Geschehene drängen sich auf.

Der Karsamstag kann sein: ein Tag der Desillusionierung, eine Stunde der Wahrheit. Die Beteiligten können nach dem, was geschehen ist, besser erkennen, wer sie sind, was sie getan und versäumt haben. Am Karfreitag wurden ihnen die Masken heruntergerissen.

Judas hat seinen Meister verraten. Die Tat ist zu belastend für ihn; er erhängt sich. Petrus weiß besser, wer er ist; er hat Jesus dreimal verleugnet ...

Den Jüngern und den Frauen sind die Hoffnungen zerbrochen, die sie auf Jesus gesetzt haben. Ob die

Schriftgelehrten, Hohepriester und Pharisäer das schlechte Gewissen zu plagen beginnt? Ob ihre Argumente noch standhalten?

Der Karsamstag kann sein: eine Stunde der Wahrheit, ein Tag der besseren Einsicht, der Scham und der beginnenden Umkehr. Er muß dies aber nicht sein.

Der Karsamstag kann auch sein: ein

Tag der Selbstrechtfertigung, ein Tag des bewußten oder unbewußten Ver-drängens der Wahrheit, ein Tag des Vergessens; man will nicht mehr erinnert werden. Man beginnt zu agieren; entschuldigt sich selbst, beschuldigt die anderen, versucht zu vertuschen ... Wer auf solche Weise den Karsamstag verbringt, der kann nicht auf Ostern hoffen.

Ostersonntag

Der Ostersonntag bringt eine völlig unverhoffte Veränderung; einen Neubeginn, der nicht in der Leistung von Menschen gründet, sondern in der schöpferischen Kraft Gottes, die Tote zu neuem Leben zu erwecken vermag. Diese Kraft erweist sich zuerst an Jesus. Jesus, der Gekreuzigte ist der Auferstandene. Diese schöpferische Kraft Gottes er-

weist sich dann durch Jesus an den Jüngerinnen und Jüngern. Der Apostel Paulus spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Schöpfung.

Jesus wechselt nach den Erfahrungen des Karfreitags seine Mannschaft nicht aus, wie dies alle Kirchen- und Regierungschefs tun würden, sondern läßt sie im Amt. Er erneuert sie und befähigt sie neu zu ihrem Dienst.

Ostern ist kein Gericht über die Versager, sondern eine Aufrichtung. Die Stunde der Wahrheit am Karsamstag hat sie fähig gemacht, sich diesem schöpferischen Wirken Gottes zu öffnen.

Man muß dies noch einmal wiederholen, weil es für heute in keiner Weise selbstverständlich ist: Nach allen Berichten der Bibel gründet der Neuaufbruch zu Ostern in einer Initiative von oben. Ohne diese Initiative von oben hätte es kein Ostern gegeben.

Konsequenzen

Was ergibt sich aus diesem Rückblick an Konsequenzen für uns? Wie kann aus dem Karfreitag ein Ostern werden? Ich möchte mich auf zwei Dinge beschränken.

Erstens: Es gibt für die Kirche kein Ostern ohne aufrichtig durchlebten Karsamstag, ohne Stunde der Wahrheit. Diese Wahrheiten ausfindig zu machen, ist bei dem vielschichtigen Ereignis des gegenwärtigen Karfreitags gar nicht so einfach. Wer sind in diesen Auseinandersetzungen wirklich die ungerecht Verfolgten? Wo sind die Opfer? Wer sind die Täter? Sind nicht viele Opfer und Täter zugleich? Die Versuchung, diesen unangenehmen Fra-

gen aus dem Weg zu gehen, sie zu verdrängen oder zu vertuschen, ist groß. Der Karsamstag ist erst dann aufrichtig durchlebt, wenn jeder sich auch selbst fragt: Was ist mein Anteil an dem vergangenen oder gegenwärtigen Karfreitag der Kirche?

Zweitens: Es gibt für die Kirche kein Ostern ohne Initiative von oben, und zwar von ganz oben, von seiten des lebendigen Gottes, der Tote zum Leben erwecken kann, der die „Kirche von oben”, die „Kirche von unten” und die „Mitte der Mit: te” aus ihren Gräbern zu holen vermag. Die Kirche hat letztlich immer aus diesem Glauben gelebt und sich erneuert. Wo er zerbrach, ist sie verfallen. Die Kirche kann sich nur erneuern auf den Wegen, die das Evangelium lehrt.

Darum müßten alle Initiativen der „Kirche von oben”, „von unten” und „in der Mitte” aus dem Heiligen Geist, den der Auferstandene verheißen hat, geboren werden. Alle Initiativen, die mit der Initiative von oben nicht übereinstimmen, verlaufen im Sand oder bringen neue Karfreitage.

Das wußten nach den Erfahrungen des Karfreitags auch die Jünger und die Jüngerinnen Jesu. Sie versammelten sich und beteten um die Herabkunft des verheißenden Heiligen Geistes.

Sind Betroffene und Beteiligte, sind die „Kirche von oben” und die „Kirche von unten” fähig und willig, die beiden genannten Konsequenzen konkret zu beachten und entsprechende Initiativen zu setzen? Wenn nicht, dann müssen wir weiter auf Ostern warten.

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