6559246-1948_39_09.jpg
Digital In Arbeit

Die Patenfahrt

Werbung
Werbung
Werbung

„Kannst du aber auch steuern?" fragte mein Vater, als wir das Ufer des tillen Wallerbaches erreicht hatten.

„Steuern? Nein, Vater!" mußte ich beklommenen Herzens bekennen. Es konnte ja sein, daß er mich nun wieder heimschickte, da ich ihm bei der großen Seefahrt also doch nichts nütze war.

Der Vater aber tat nicht dergleichen. Er stieg nur ins Boot, zog den Schlüssel, den ihm der Nachbar gegeben hatte, aus der Tasche umd machte die Kette von dem krummen Stamm der Erle los. Doch bevor er abstieß von der Sandbank, drehte er sich noch einmal zu mir, der ich noch immer stumm auf dem Rasenufer stand, und sprach: „Na, dann fahr halt als Bootgast mit: vielleicht kann ich dich zu sonst etwas gebrauchen!“

So konnte ich doch noch, ehe das Schiff abfuhr, übet den hohen Bord hineinklettern. Ich setzte mich sogleich auf den besten Platz, den das Schiff besaß, vorn auf der Spitzbank am Kiel des Bootes. Der Vater hatte die Ruder schon in den Gabeln stecken. „Fahren wir jetzt!“ sagte ich noch zur Bekräftigung, daß ich schon bereit wäre zur Ausfahrt. Da drehte der Vater die Ruder vom Sitz, tauchte sie tief ins Wasser und zog mit den Armen an.

Doch es zeigte sich, daß wir auf dem Sand festsaßen. So stieg der Vater mit seinen ledernen Bauernstiefeln noch einmal hinaus auf den Sand, schob das Boot ab, daß es knirschte und sprang im letzten Augenblick selbst hinein.

Da schwammen wir nun schaukelnd dem offenen See zu. Um uns blühte und schimmerte ein strahlend sonniger Frühsommertag. Ich kann es sogar heute noch sagen, welcher Tag es gewesen sein muß, wenn ich auch damals gar nicht danach gefragt hatte. Am Vortag hatten wir eine Schwester, die dritte, bekommen. Und heute weiß ich, daß dies der 18. Juni gewesen war.

Deshalb, wegen der Geburt meiner Schwester, schwammen wir ja auch heute dem breiten, offenen Wallersee entgegen. Der Vater wollte zur alten Thunnerin hinüber und sie fragen, ob sie auch diesmal wieder — das sechstemal — die Gevatterschaft für das neue Schwestcrlein übernehmen möchte. Es gab aber zu dieser Sommerzeit viel Arbeit auf dem Gut, denn das Gras stand grün und blühend für die Mahd bereit. Auf der Straße, die in genügender Entfernung um den See herumlief, mußte eines bis zum Thunnerhof geschlagene zwei Stunden gehen, fuhr man aber geradewegs über den See, o kam man in einer guten Stunde zurecht.

Soweit hatte der Vater überlegt, dann war er am Abend noch aufgestanden und hinüber zum Nachbar gegangen. „Nachbar", hatte er gesagt, „leih mir dein Schiff für morgen; es ist wegen der Patenschaft für die kleine Dirn die heute Nacht angekommen ist."

Und wie es sich unter guten Nachbarn gehört, so hatte der „ja“ gesagt und dem Vater den Schlüssel für das Boot herausgetragen. „Aber nimm eine Schöpfkelle mit, es kann leicht sein, daß Wasser in der Zille ist. Neu ist sie ja auch nimmer und die Sonne, weißt du, die trocknet das Holz schnell aus!“ So sprach der Nachbar, und ich sah es dem Vater an, daß er die Kunde nicht gern hörte. Denn ein Boot, in das Wasser drang, schien dem Vater, der ja Bauer und nicht etwa Fischer war, keineswegs erfreulich. Schwimmen hatte er nie gelernt, gerade daß er es im Rudern so weit gebracht hatte, ein Boot über den See zu bringen. Ich hatte es ihm angesehen, wäre es nicht wegen der Zeit, der so hart nötigen Zeit gewesen, er hätte vielleicht gar den Schlüssel wieder zurückgegeben.

Ich war dabeigestanden und hatte, gleichsam zur Aufmunterung, gesagt: „Ich fahr auch mit dir, Vater, wenn du magst!"

Und heute entfaltete sich der große Traum einer Seefahrt zum wirklichen Erlebnis. Ich blickte immerfort in das kaum einen Meter tiefe Wasser, aus dessen Grund die weißen Kiesel heraufschimmerten. So vergaß ich es ganz, aufzuschauen, als der Bach seine Wässer in den See verschenkte. Plötzlich aber wich der Grund unter dem Boot zurück! Der Kieselgrund verlor sich vor meinen suchenden Augen, und ehe ich es recht erfaßte, glostė grüne, unermeßliche Tiefe herauf.

„Gib acht, Bub! Beug dich nicht so weit hinab!“ hörte ich die mahnende Stimme des Vaters. Ich hob den Kopf, da schwamm unser Boot schon auf dem See!

Das Erlebnis des weiten, offenen Wassers schlug ungeheuerlich über mir zusammen, Ich saß und hielt den Atem an. Das schilfbewachsene Ufer der heimatlichen Seeseite schwamm mehr und mehr zurück — es war auf einmal, als drehte sich die ganze Welt rundum langsam und stet um die große, silberne Platte. Die Hügel auf unserer Seite bogen sich zurück, die Uferränder falteten sich auf und öffneten dem Blick neue, nie- gesehene Gegenden. Selbst der Himmel war lebendig geworden und wanderte mit uns, indes die hohen, feinen Schäfchenwolken langsam über den Himmelsrand heraufschwammen.

Sie spiegelten sich in lustiger Verzerrung auf dem unendlichen Wasser. Der Wind strich mir leise um die Ohren, draußen aber blitzte es im See, daß ich an viel- tausend Silberfische denken mußte, die dort in jauchzendem Durcheinander spielten. Leise schwappend glitt das Wasser an den Bootwänden zurück.

Da hielt auf einmal der Vater inne mit dem Ruderschlag. „Nimm die Schöpfkelle, Bub!“ sagte er und hob ein paar Deckbretter vom Boden des Bootes auf. In der tieferen Einbuchtung darunter schwappte schon träge das eingesickerte Wasser. Da war es zu Ende mit der feinen und unerhörten Rundsicht; ich kniete in die Mitte des Bootes hin und schöpfte, schöpfte, schöpfte.

Der Arm wunde mir müde im ewigen Schöpfen, das Wasser, dieses elende Wasser im Boot, wollte nicht weniger werden! Und überhaupt die Schöpfkelle! Das war eine kleine, hohle Schaufel, in der kaum zwei Handvoll Wasser Platz fanden. Mein Hut, der runde Filz, den ich als Bauernbub immer und gar heute auf dem Kopf trug, mußte besser ausgeben. Ich kniete im Rücken des Vaters. Er sah nicht, was ich tat. Der Filzhut lief rasch voll, ich leerte ihn über Bord und füllte wieder. So geschah es, daß ich rascher zuwege kam als das eindringende Wasser.

Indes war uns das andere Ufer schon in voller Größe entgegengereist. Eine neue, aber ebenso gute und stille Welt, wie die auf unserer Seeseite tat sich auf. Dort standen Männer in der blühenden Wiese und schwangen die Sensen, dort, ja dort fuhr ein Fischer aus auf einer breiten, uralten Zille. Aufrecht stand er im Boot und lenkte es mit einem Ruder gerade hinaus zu den Fischgründen. Jetzt bellte ein Hund irgendwo, eine Glocke klang auf — so meldete sich die Welt, die wir verlassen hatten, als wir auf das hohe Wasser hinausfuhren, wieder an mit den alten, bekannten Tönen.

Ich trug manche Frage auf den Lippen, aber der Vater hatte ein ernstes Gesicht aufgesetzt, als sänne er schon wieder auf die Arbeit, die er daheim zurückgelassen hatte. So machte ich mich an das Steuer heran, dessen hereinragender Arm an einer Schnur vertäut hing. Ich löste ihn, sogleich legte sich das Steuerholz auf die andere Seite, das Schiff folgte dem Zug, und ehe sich’s der Vater recht versah, fuhren wir im Kreise. Er drehte sich um. „Was hast du getan? Schieb das Holz hinüber!“ Ich tat es erschrocken — wir glitten nach der anderen Seite hin im Kreise. Der Vater stemmte sich dagegen, tauchte nur ein Ruder ins Wasser — doch was war der noch so kräftige Arm des Bauern gegen die beherrschende Lenkung des Steuere!

Eier sonst so ruhige Vater wurde ernstlich böse. Er fühlte sich nicht wohl auf dem schaukelnden Stück Boden, unter dessen Brettern die grüne Tiefe glurte. Vielleicht hätten wir den ganzen Tag das Ufer nicht erreicht, wäre nicht dem Vater der Gedanke gekommen, das Steuer wieder festzubinden, wie es gewesen war. Wir gelangten erschöpft und mit einem Aufatmen an das Ufer.

Ein Fischerhaus stand einige Schritte ober dem Seerand. Im Brunnentrog tummelten sich dunkle Seefische. Ich sah manchen Fisch zum erstenmal. Aber der Vater zog mich fort — der Tag wuchs schon seiner Höhe zu.

Durch stumme Wälder, über blühende Wiesen, erfüllt von Bienengesumm, schritten wir. Wir trafen die Godn, die Patin von uns Geschwistern allen, als sie mit der Sense heimging vom Feld. Sie trug ihr gutes, treues Gesicht, wie ich es von klein auf kannte. Der Thunner, ihr Bauer, war schon gestorben, eh wir zur Welt gekommen waren, und so hatte es sich begeben, daß auch wir Buben von einer Patin aus der Taufe gehoben wurden.

„Gevatterin, wir wären wieder da und täten dich bitten um das christliche Werk“, sprach mein Vater in währendem Gehen.

Da lachte die Patin und gab dem Vater die Hand. „Das freut mich aber, Angerbauer, daß du wieder an mich gedacht hast! Ja, wie werden wir dann das Dirndlein nennen?“

„Wie die Gevatterin will es die Mutter nennen lassen: Juliana.“ So wurden sie eins, noch ehe wir in das Haus traten.

Das Essen am Mittag durften wir nicht abschlagen, aber dann trieb es den Vater wieder heim. „Weißt du, Gevatterin, es liegt viel Heu in den Mahden, und daheim sind wenig Leut’, weil die Mutter auch nicht mittut.“

Meine Spannung wuchs und wuchs, bis wir wieder am See standen. Jetzt war auch der Fischer zurückgekehrt. „Viel hält dein Schinaggel nimmer aus; sei froh, wenn du wieder gesund daheim bist!“ knurrte er und half dann aber doch mit, das viele Wasser aus dem Boot zu schöpfen.

Der Vater lachte. „Komm uns halt zu Hilfe, wenn wir schon untergehen sollten!“ prahlte er; aber als er ins Boot stieg, sah ich doch, daß er in Sorge war. Der See lag stiller noch als am Morgen. Die Ruder tauchten in das grüne Wasser und ließen nach jedem Schlag einen kleinen Wirbel zurück. Ich aber saß auf dem Kielsitz und staunte und träumte. Das Wasser glitt uns entgegen, hinter dem Gürtel aus Schilf wuchs das Land herauf. Don fern, fern stand unser Haus, wie aus einer Spielzeugschachtel gehoben und hingestellt, so klein und blank. Und die Straßen, was waren das doch für Streiflein, die Wälder, die konnte ich fassen in meine hohle Hand. Und oben war Himmel und unten war Himmel.

Zuweilen aber schöpfte ich Wasser mit meinem Filzhut.

Als sich die Mündung des Wallerbaches auftat vor uns wie ein stilles Wassertor, hätte ich gerne gesagt: „Vater, machen wir die Reise noch einmal!“ IcHerlebte es wie- » der neu: plötzlich stieg der Grund aus dem Wasser, Kies schimmerte wieder auf.

Tiefer im Bach dann geschah es: der Vater verfing sich mit einem Ruder im Schilf, er stand auf, stemmt die Füße breit und stieß mit dem Ruder ab. Da gab knisternd die Bootsplanke nach — und ein dicker Strom quoll ins Boot. Als es umkippte, stahd ich bis zur Brust im Wasser.

Wir hatten noch manche Mühe, bis wir ziehend und schiebend den Erlenstamm erreichten.

Ich aber nahm mir für alle Zeit vor, jedem Boot zuerst in die Planken zu treten, ehe ich es bestieg.

Wir schritten stumm heim über den festen, sicheren Bauernboden. Der Vater aber sah noch ein paarmal zurück auf den stillen, tiefen See …

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung