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Die philharmonische Gemeinde

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Bemessenen Schritts betreten sie den Saal. Sie geben nicht sich, sondern dem Ereignis die Ehre ihres pünktlichen Erscheinens. Die Plätze sind ihnen seit Jahren bekannt. Da brauchen sie nicht einmal eine Karte vorzuweisen. Wer es wagt, von ihnen eine Eintrittskarte zu verlangen, brüskiert sie. Ins Konzert am Sonntagvormittag gehen sie seit Jahrzehnten, da waren die meisten Billeteure noch in den Kinderschuhen. Man hat sie zu kennen. Das Programm kennen sie in- und auswendig, dennoch kaufen sie es. Es dient der Lektüre während des Musizierens. Zu hören und gleichzeitig vom Komponisten zu lesen gilt ihnen als Harmonie schlechthin. Die Inhaber der Abonnements gleicher Preiskategorie begrüßen einander sehr herzlich. Da gibt man sogar einander die Hand. Schließlich hat man sich auch im Sommer in Salzburg gesehen. Freilich hat man diese Salzburger Sommer von Jahr zu Jahr in immer schlechterer Erinnerung. Davon erzählt man vor Beginn des Konzerts. Es gibt kaum Meinungsverschiedenheiten.

K napp vor elf Uhr legt sich der Tru -bei. Man ist nicht wirklich gespannt auf das Kommende, eher gelassen und huldvoll. Kein Programm kann sie überraschen, denn da würden sie gar nicht erst gekommen sein. Musik nach 1910 hören sie sich an wie ein Gnadengesuch, meistens geben sie aber die Karten weiter. Neue Musik, also Strawinksi oder Bartok, halten sie für junge Leute geeignet. In ihren Augen sind nahezu alle, die knapp unter sechzig sind, Jugendliche. Hin und wieder müssen sie ja auch diesen jungen Menschen eine Freude machen. Schnell eilen Damen auf ihre Plätze - der Wind und die Frisur! Sie sind erhitzt. Das Programm ist wie ein Fächer und verbreitet im kleinen Umkreis den zarten Duft von Parfüm. Da weiß man, daß sie da sind, sie sind also doch noch gekommen, trotz Park -platznot oder anderer Verpflichtungen.

Das Orchester erscheint. Es wird freundlich mit Applaus begrüßt.

Alle kennen einander und die Musiker verneigen sich mit frohen Gesichtern vor den Angehörigen ihrer persönlichen Bewunderer. Die ersten Violinen haben offensichtlich mehr Publikumskontakt als die düsteren Bratschisten. Wegen des berüchtigten Seidenglanzes der Violinen ist die lin -ke Parkettseite des Saales beliebter. Sollte ein Abonnent verstorben sein, gibt es wilde Kämpfe um die Nachfolge auf linke Plätze

Es gibt Zurufe und knappe Mitteilungen. Es ist ja unser Orchester! Der goldene Saal des Musikvereins wird zur 1 leimat, wenn alle vollzählig versammelt sind. Oft kommt noch ein Schlagwerker hinten nach. Es wird allgemein verziehen. Das Stimmen der Instrumente ist wie archaischer Wohlklang. Der Konzertmeister gibt das a an. Der 'Ion verbreitet sich im Saal wie ein Lauffeuer. Es ist wie ein Gerücht, das schnell die Bunde macht. Also setzen sich die Besucher zurecht, machen es sich noch bequemer. Sie verkörpern geradezu den hohen musikalischen Anspruch. Und das Orchester erwidert diesen mit der schnellen Umwandlung in einen Klangkörper. Das Selbstbewußtsein wächst.

Endlich erscheint ein Dirigent. Daß er einen Namen hat, ist die stillschweigende Voraussetzung dieses musikalischen Hochamts am Sonntag. Im höflichen Applaus schwimmt er nach vor zum Pult. In der Hand hat er den Zauberstab. Je nach Alter verbeugt er sich mühsam oder galant. Extra verbeugt er sich zu den linken Seitenlogen am Balkon. Man hatte ihm gesagt, dort sitzen die Bepräsen-tanten des Kulturlebens. Kritiker sitzen eher weiter hinten im Parkett. Die kann er trotz Podium ohnehin nicht sehen. Nur vom Balkon aus erkennt man Musikkritiker. Die applaudieren entweder nie oder nur sehr zögerlich. Sie haben schon so viel gehört!

In den linken Seitenlogen am Balkon erkennt man die hohen Turmfrisuren der Damen, dazwischen die alten, müden Männer. Nur unter Anstrengung können sie über die Brüstung blicken. Da sehen dann auch sie den Dirigenten und beneiden ihn. Er ist doch kaum jünger und noch so gut auf den Beinen! Dieser Anblick bedrückt sie. Gnädig schauen sie kurz über den ganzen Saal. Für diese Menschen haben sie so oft gearbeitet! In jedem von ihnen kommt die Ähnlichkeit zum Kaiser Franz Joseph zum Vorschein. Lange hätten sie sich noch mit ihrem Blick ins Publikum beschäftigt, wenn nicht diese Musik begonnen hätte. Sollte es Haydn sein, dann empfinden alle im Saal, es gewähren zu lassen. Haydn ist entweder Kindermusik oder schlechtweg Erinnerung an Klavierstunden in der Kindheit. Haydn ist süß, spürt man im Saal. Er ist noch süßer als Mozart. Für die Besucher sind gerade noch die letzten fünf Mozart-Symphonien ernst zu nehmen. Da ist die gewünschte Lautstärke vorhanden, die noch an alte Ohren dringen kann.

Der Dirigent dirigiert. Das Orchester musiziert. Die Gemeinde hört.

Bei Lento oder leisem Adagio beginnt der Husten. Zu viele Zuhörer plagt bei langsamen oder leisen Stellen immer der Husten. Erst im Fortissimo legt sich der Hustenreiz. Da stehen, so die Bläser ihren Einsatz vorbereiten, in den hinteren Sitzreihen am Balkon die Zuhörer erwartungsvoll auf. Trompeten und Posaunen reißen sie allemal von den Sitzen. Das möchten sie schon genau sehen. Bei Bruckner haben sie oft aufzustehen. In den vorderen Sitzreihen wird die Musik richtiggehend verdaut. Da bleiben die Augen geschlossen, manchmal überkommt zuckersüßer Kurzschlaf - bis das Programm aus den Händen fällt. Deshalb ist man gleich wieder ganz bei der Sache. Lange symphonische Sätze werden als Belastung empfunden. Wenn die lang ersehnte Satzpause beginnt, ist die Antwort der Gemeinde ein lautes Husten und Schneuzen. Man meint, Komponisten hätten ihre Pausen aus Gründen der Insuffizienz der Atmungsorgane erfunden. Gewiegte Dirigenten warten ab. Neulinge eröffnen den nächsten Satz mitten in der Klangwolke der Nasensäuberungen. Bald stellt sich heraus, daß diese in der Musikstadt und im goldenen Saal nicht zu suchen haben.

Die große Pause zwischen den großen Symphonien ist die willkommene Abwechslung. Sie dient groß-teils der Suche der Fangemeinde nach einem Musiker oder umgekehrt. Das Prickelnde an der Pause ist die knappe Zeit für wesentliche Informationen. In den Pausen kommen die Musikliebhaber zu Wort. Die Generaldirektoren aller Art, die Ex-Minister und Staatssekretäre wie Diplomaten langweilen sich. Lange Zeit benötigten sie, sich damit abzufinden, daß sie beim Abonnementkonzert im Gegensatz zum Alltag nur Staffage sind. Die Situation ihrer Nicht-Beachtung quält sie. Die Juweliere überprüfen im Pausenraum die Stammkundschaft. Steuerberater bringen durch tiefe Verbeugung ihre ausstehenden Bechnungen in Erinnerung. Hohe Beamte weisen ihre kulturelle Beflissenheit nach. Ein mehrmaliger Schnarrton ruft in den Saal zurück. Also geht man wieder hinein. Beim Eintritt flüstern sie einander zu, wessen Aussehen besorgniserregend ist, wer alt wurde oder wer sich wieder erholt habe. Das Wesentliche der Gemeinde ist der ungebeugte Lebenswille. Nur ältere Herren rechnen im stillen nach, wie oft ihnen das Vergnügen noch gegönnt sein wird. Das deprimiert sie. Da kann ihnen weder Schubert noch Brahms helfen - und schon gar nicht dieser Dirigent.

Beim Niedersetzen rufen sie einander zu, wer im Imperial einen Tisch bestellt habe. Gleich nachher müsse man hinüber. Manche haben sogar dort bereits ihre Garderobe hinterlegt - im Imperial. Man werde nicht lang applaudieren, denn nach eins im Imperial ist die Suppe kühl. Diese Sonntagsverpflichtungen! Oder man bestätigt einander, daß es in Wirklichkeit kaum mehr Dirigenten gäbe. Selbst Musiker hätten dies bestätigt. Kein Dirigent würde es mit den eigenen Erinnerungen aufnehmen können - damals.

Freundlicher Applaus empfängt Orchester und Dirigenten zum zweiten Teil. Spätestens beim dritten Satz der Symphonie wird auf die Uhr geschaut. Er könnte schneller sein. Beim vierten Satz sind alle hellwach. Es ist fünf Minuten nach eins. Der Magen knurrt. Ein Finale kündigt das Ende des Hochamtes an. Dem Schlußakkord folgt unmittelbar der Applaus. Da gibt es dann die Zeremonien des Händeschüttels zwischen Dirigent und Musiker, das Aufstehen und Niedersetzen. Manchmal gibt es hinten im Stehparterre Bravo-Bufe. Über diese Ekstase ist das Sitzplatz Publikum längst hinaus. Enthusiasten drängen nach vor zum Podium, die Abonnenten der ersten Beihen drängen zum Imperial. Gegenstrebige Bewegungen sind zu beobachten. Es wird mit Begeisterung verwechselt. Die Kritiker verlassen als erste den Saal. Sie sind erprobte Meister des schnellen Hinauseilens. Und je schneller sie sind, desto mäßiger das Konzert, denken die Besucher. Die Würde des Kritikers läßt sich mit Applaudieren nicht vereinbaren. Alle, die mit ihnen Schritt halten können, fühlen sich als Kxperten; aber Experten sind sie sowieso. Auf der linken Balkonseite wecken die Frauen ihre Männer. Die sind ganz verdutzt, daß es aus ist. Sie geben an, es habe ihnen sehr gefallen. Nicht einmal die Ehefrauen glauben ihnen. Schnell leert sich der Saal. Drei, vier Mal kommt der Dirigent aus seiner Garderobe. Er sieht erleichtert aus. Er blickt um sich und je nachdem beglückt oder bedrückt ihn der goldene Saal. Bei den Garderoben ist ein gefährliches Drängen. Alle haben es eilig. Alle wollen gleichzeitig ihre Eindrücke loswerden. Bald werden sie jenen erzählen, die nicht zur Gemeinde gehören, daß hier eine Musikstadt ist und in ihr gehören sie unzweifelhaft zu den Kulturträgern. Sie freuen sich, daß sie bald hören werden, wie man sie beneidet.

Um Viertelzwei ist der Spuk vorbei. In den stillen Ecken zählen die Billeteure ihre Einnahmen.

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