"… die Prozesse der Liebe verstehen"

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Im Furche-Exklusiv-Interview spricht der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk über seine schwierige Heimatstadt Istanbul, ihre Stimmen, Geräusche und ihre Humanität. Und vor allem über seinen neuen Roman "Das Museum der Unschuld", der kommende Woche auf Deutsch erscheint.

Die Furche: Ihr jüngster Roman "Das Museum der Unschuld" ist eine Liebesgeschichte in Istanbul. Was unterscheidet sie von einer Liebesgeschichte in Moskau oder Wien?

Orhan Pamuk: Städte formen uns, Kulturen formen uns, und bei einer Liebesgeschichte in Istanbul handelt es sich um eine Liebesgeschichte in einer ganz bestimmten Kultur. Istanbul ist nicht nur Hintergrund für den Roman, sondern es geht um die Kultur, die Straßen und darum, wie sich Menschen verhalten beim Heiraten oder beim Sex. Es geht um sexuelle Moral ebenso wie um das Alltagsleben. Das ist alles wichtig für mich, dass sich eine Geschichte entfalten kann. Eine Stadt schafft eine kulturelle Identität. Mein Begriff von Humanität kommt erstens von Büchern, die ich gelesen habe, und zwar von Büchern aus der ganzen Welt, und zweitens von dem, was ich in Istanbul aus eigener Anschauung wahrgenommen habe. Deshalb bin ich von dieser Stadt so geprägt.

Die Furche: Sie haben einmal ein Porträt von Istanbul geschrieben, indem Sie ausschließlich Straßenhändler beschrieben haben. Ist Istanbul eine Stadt der Straßenhändler?

Pamuk: Ja, im Unterschied zu anderen europäischen Städten ist Istanbul das. Mich interessieren ihre Stimmen, die Geräusche und was sie anbieten. Wenn Sie nach der Identität der Stadt fragen, sind gerade sie starke Persönlichkeiten. Ich schreibe auch im Roman "Das Museum der Unschuld" wieder über sie. Es gibt Szenen, in welchen sie Essen verkaufen, von gebratener Leber bis zu türkischen Süßigkeiten und Eis oder Wasser in Kinos. Immer wieder schenke ich Straßenhändlern meine Aufmerksamkeit.

Die Furche: Ihr neuer Roman bewegt sich von Mitte der siebziger Jahre bis nahezu in unsere Gegenwart. Kann ich ihn als einen Roman lesen, der von den Veränderungen erzählt, die die Zeit mit sich bringt?

Pamuk: Die Frage zeigt mir, dass ich zu altern beginne. Was einem selbst zuallererst als ein Versuch erscheinen mag, in den man selbst als Person verwickelt ist, mag einem anderen als ein historischer Roman erscheinen. Ich denke doch, wir sollten das Buch nicht so sehr als historischen Roman lesen. Ein historischer Roman ist ja beeinträchtigt durch Recherche. Natürlich ist Recherche in manchen Fällen eine gute Sache, aber wir nennen einen Roman historisch, wenn der Autor über eine Epoche schreibt, die er nicht aus erster Hand kennt.

Die Furche: Kemal sammelt Dinge der Frau, die einmal seine Geliebte war. Ist das ein Versuch, Ordnung in ein Leben zu bringen, das in Unordnung geraten ist?

Pamuk: Es geht eigentlich um Zuneigung. Sammeln ist eine Art von Übertragung der Sehnsucht. Befriedigung entsteht nicht über das Mädchen, sondern über die Objekte, die der Mann mit der Geliebten assoziiert, die sie möglicherweise berührt hat. Oder er sucht Gegenstände, die ihn an sie erinnern. Das ist ein Roman, der von Sehnsucht handelt und der Idee von Zuneigung. Die Sehnsucht des Sammlers ist nahe verwandt zum Impuls der Zuneigung.

Die Furche: Ist das eine Art Obsession?

Pamuk: Wir können das Obsession nennen. Aber dann sind alle Liebesgeschichten Obsessionen. Ich mag das Wort "Obsession" nicht besonders. Wenn man "Obsession" sagt, ist es eine glamouröse, romantische Erfahrung für jemanden, wir verstehen den Menschen aber nicht. Wir halten ihn für pervers und hören auf, ihn zu verstehen auf eine analytische Weise. Meine größten Energien für diesen Roman gingen im Versuch auf zu verstehen, was mit uns geschieht, wenn wir uns verlieben.

Die Furche: Kein romantischer Zugang zum Thema Liebe also, sondern ein analytischer?

Pamuk: Anstelle der blinden Klischees, wie schön, wie romantisch, wie obsessiv das doch ist, wollte ich wissen: Was geschieht mit uns? Es wurde sehr wenig geschrieben über den Mechanismus unserer Seelen, wenn wir heftig berührt werden. Dann gibt es dieses Manövrieren, eine zornige Diplomatie mit dem geliebten Menschen, soziale Hemmungen brechen durch. Ein beinahe enzyklopädisches Verstehen von Situationen des Liebhabers und der Geliebten reizt mich. In meinem Roman zerstört einer sein glückliches Leben, weil er getrieben ist von einem Impuls, den er erst Jahre später ernsthaft zu verstehen sucht. Mein Held und ich heben die Liebe nicht auf ein Podest, sondern wollen die Prozesse der Liebe verstehen. Einer der Gründe, wie ich das im Roman zu leisten imstande war, ist wohl der, dass zwischen der Liebe Kemals und dem Versuch zu verstehen 30 Jahre vergangen sind.

Die Furche: Reicher Mann liebt armes Mädchen - das ist auch ein klassisches Thema, durchgespielt in unzähligen Variationen.

Pamuk: Das ist ein populäres, melodramatisches Thema. Mein Held und seine Geliebte bewegen sich in einem türkischen Melodrama, in dem ein reicher Mann ein armes Mädchen begehrt. Alle armen Mädchen lieben die reichen Oberklasse-Burschen. Das sind universelle Kategorien, und ich spiele mit ihnen. Aber auf eine kühle Weise versuche ich mit einem melodramatischen Thema in die soziale Wirklichkeit einzudringen. Ich nehme das melodramatische Thema von den beiden, die nicht zusammen kommen können, aber ich versuche es auf eine sehr realistische Weise zu sehen. Mein Roman gleitet zwischen den beiden Ebenen.

Die Furche: Wenn man Romane von Ihnen liest, stößt man immer auf verschiedene Wirklichkeiten, die nebeneinander Platz haben. Die soziale Realität hat auszukommen mit jener der Fantasie, der Träume. Ist das nicht eine romantische Art, die Wirklichkeit der Menschen zu beschreiben?

Pamuk: Mein Held, Kemal, ist gewiss ein Romantiker. Bis zum Delirium und der Anstrengung zu verleugnen, was einem widerfährt, ist alles da. Und doch ist das eine sehr realistische Geschichte. Kemal weiß, dass er etwas völlig Verrücktes unternimmt und kann dennoch nicht aufhören damit. Das ist Romantik als eine Art Verrücktheit. Ich betrachte die Sehnsucht, die ins Verrückte spielt, respektvoll.

Die Furche: Wo verorten Sie Ihre literarische Herkunft?

Pamuk: Zu den Großen, die auf mich Einfluss haben, zähle ich Tolstoi, Dostojewski, Proust und Thomas Mann, aber auch Calvino, Borges und Nabokov.

Das Gespräch führte Anton Thuswaldner.

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