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Die säkularisierten Tempel

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Vom 24. April bis 1. Mal 1949 'findet in Wien die „Internationale Festwoche des religiösen Films“ statt, der im Hinblick auf die augenblickliche weltanschauliche und künstlerische Position des Wedtfilms besondere Bedeutung zukommt.

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Vom 24. April bis 1. Mal 1949 'findet in Wien die „Internationale Festwoche des religiösen Films“ statt, der im Hinblick auf die augenblickliche weltanschauliche und künstlerische Position des Wedtfilms besondere Bedeutung zukommt.

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Ein französischer Statistiker hat kürzlich festgestellt, daß keine Religion jemals so viele Gläubige gezählt habe wie der Film. Auf der ganzen Erde gebe es heute rund 100.000 Kinos, in deren narkotisierendem Dunkel jährlich elf Milliarden Besucher etwa 1700 neu erscheinende Filme sehen.

Die nicht mehr recht vorstellbare Zahl wird faßbarer, wenn man ähnliche alarmierende Zahlen aus bestimmten Zonen heranzieht. Sie sind eine Tatsache. Auch Österreich, auch seine Hauptstadt machen darin keine Ausnahme. Erst kürzlich wurde aus einer amtlichen Statistik bekannt, daß auf den Kopf des Wieners neuerdings jährlich 27 Kinobesuche fallen — eine sehr große Zahl, wenn man dazu noch berücksichtigt, daß die zahlreichen Nichtkinogeher aller Art, Kleinkinder, Gebrechliche, Greise, geschworene Kinofeinde jeden Alters, dabei mitgerechnet wurden.

Wer hat diesen anderen Turm zu Babylon gebaut, wer waren sie und Was waren ihre Mittel, die in einem knappen halben Jahrhundert in die Metropolen der Zivilisation, in das entlegene Dorf, ja in die Wohninseln der Steppe und des Urwalds eindringen konnten? Das sind Fragen, die heute, angesichts der Wirkungen dieser Ausbreitung, den Soziologen wie den Kunsttheoretiker, den Arzt wie den Erzieher. beschäftigen.

Der Film ist nicht, wie das geistreiche, aber mißverständliche Wort eines Wiener Gelehrten wahrhaben will, „so alt wie die Menschheit“. Wir können und müssen vielmehr, gerade um eines seiner wesentlichen Merkmale, die explosionsartige Entstehung und Ausbreitung, überhaupt erklären zu können, festhaken, daß eine vermutlich gleichzeitige Erfindung zweier Männer, des Amerikaners Edison und des Franzosen Lumiere, zwischen 1889 und 1893 den Homunkulus aus der Retorte gehoben hat. Auch die folgende Epoche, die Auswertung der Erfindung durch Industrie und Handel, liegt klar vor uns; klar das imposante Gebäude der Technik und Organisation, klar seine Gründer und ersten Bauherren: die Laemmle und Zukor, Goldfisch und Fuchs, Amerikaauswanderer aus den Ghettos von Osteuropa, Handschuhreisende und Kleiderhändler. Das besagt nichts gegen die zähe Rasse und kaum etwas gegen die ehrsame Textilbranche. Es bezeichnet lediglich die Erd-, nicht Himmelsrichtung, in der sich der Film zunächst entwickeln mußte. Er bildet ein Reich von dieser Welt wie keines je zuvor. Die Erklärung für das Ausmaß und das Tempo dieser gründlichen, unblutigen Welteroberung liegt auf der Hand. Das Kino springt in die große Lücke der Freizeit ein, die das Zeitalter der fortschreitend rationellen Fabrikarbeit und der sozialen Errungenschaften dem Arbeiter und Angestellten als willkommenes, vorerst allerdings unverwertbares Geschenk in den Schoß legt; aber auch in die innere Leere, die das vorwiegend diesseitige Jahrhundertweltbild von Forschung, Kunst und Wissenschaft in dem Menschen aufgerissen hat. Etwa gleichzeitig mit Siegmund Freud beginnen sich die „Ärzte“ der Filmzentren in aller Welt auf Grund der Kassenrapporte bis an das Trauma der unbefriedigten mo dernen Seele zurückzufragen. Sie sind, instinktsicherer und bodenfester als der Wiener Arzt und Seelenfänger, hart daran, die Wunde der Zeit schon damals bloßzulegen, Jahrzehnte, bevor sie ein Abgrund ohnegleichen auch der übrigen Menschheit deutlich vor Augen führt. Aber im letzten Augenblick sind ihre Augen geblendet: sie verkennen die erschütternden Fieberphantasien als Sehnsucht und Traum von unerreichten Genüssen und erstellen zu ihrer

Heilung ein allgemeines Wunscherfüllungsprogramm: Einen Schritt nur weg von der Straße, um ein paar Groschen und im Arbeitskleid ins magische Ehmkel des Kinos, und schon fällt alles leicht und selbstverständlich in den Schoß, was der Alltag alltäglich dem kleinen Mann und der kleinen Frau versagt: Geld und Geltung, Liebe und Abenteuer und die ganze grenzenlose Weite und Schönheit des irdischen Paradieses.

Der Film ist damit auch in dieser Phase durchaus ein Kind des Diesseits. Aus dem chemischen Urprodukt ist lediglich ein industrielles Serienfabrikat geworden, die erste weltumspannende Gefühlsnorm in der Geschichte der Menschheit.

Bis hieher ist der Film freilich ein Massennarkotikum, ein anspruchsloses, ja immer ein wenig anrüchiges Unterhaltungsmittel gewesen. Es gilt bis dahin nicht gerade als vornehm, ins Kino zu gehen. Das ändert sich — bald nach dem ersten Welt-

krieg — grundlegend, als eine formale Kunst und Ästhetik den Film salonfähig macht. Der Vorgang ist einmalig. Denn der Film ist die einzige Kunstform in der Kulturgeschichte, deren Wurzel nicht im religiösen Kult ruht. Er kommt aus dem Laboratorium und entwickelt sich über diesseitige technische und wirtschaftliche Vorgänge zur äußeren Form anderer Künste hinauf, täuschend ähnlich ihrem Ergebnis und ihrer Wirkung, und doch ihrem Tiefsten, dem Wesen und der Absicht alles Schöpferischen, fremd. Erreicht wird also durch diese ästhetische Adaptierung vorerst lediglich eine geschmackliche Ausweitung: dem demokratischen Amüsement gesellt sich eine neue aristokratische Richtung des verfeinerten Genusses und Geschmackes, dessen exklusives L’art-pour- l’art-Programm rasch in wunderlichen Gegensatz zum genügsamen Traum der Massen gerät. Von da ab gibt es den Film,für Gebildete und den für die Menge, das anspruchsvolle Kunstexperiment und den Kassenerfolgsfilm. Die Bruchstelle ist nicht weiter von Bedeutung, das einigende Gefüge der kömmerzbestimmten Organisation des Films versteht es immer wieder, zwischen beiden zu vermitteln und auszugleichen.

Bedeutender ist, daß der Film durch diese Kunstwirkung seine Breitenwirkung abermals vergrößert, ja ins Grenzenlose gesteigert hat. Er hat tatsächlich Erstaunliches vollbracht und jetzt alle sozialen und Bildungsschichten der Menschheit, alle Zonen und Rassen der Erde erfaßt, und es 1st heute tatsächlich so, daß, wie der an sich harte Vergleich des eingangs erwähnten Statistikers im Grunde richtig erfaßt, heute eine gräue Masse von religionslosen Menschen eine solche Fülle von Bereitschaft und Erwartung, Sehnsucht und Trostbedürfnis in die Kinos trägt, wie sie zuvor nur in gläubigsten Zeitläuften den großen Stätten des religiösen Kultes entgegengebracht worden ist. So sind die Kinos die richtigen „säkularisierten Tempel“, unserer Zeit, wie sie die Stuttgarter evangelische Zeitschrift „Christ und Welt“ kürzlich nannte, geworden.

Hier lag bis vor kurzem aber auch ein Grundübel: die Gefahr, daß aus dieser durch und durch diesseitigen, untranszendenten Tempellehre tatsächlich so etwas wie eine weltliche Sonntagsfeier, ein billiger Religionsersatz herauswachse, dessen Folgen für das Gemüts- und Geistesleben der Menschheit nicht auszudenken wären. Es brauchte das ganze furchtbare Ausmaß einer Katastrophe wie des zweiten Weltkrieges, dessen Ausgangspunkt, der vernichtende Machtrausch, nur die Quintessenz einer ähnlichen totalen Diesseits-Biosophie war, um der Menschheit die Augen zu öffnen.

Und so erwächst auch dem Film gerade aus der leiblichen und geistigen Not unserer Tage eine ungeheure Chance, eine Entscheidung von ungeheurer Tragweite: die Begegnung mit dem jenseits. Mit einem Male, förmlich über Nacht, streift der Film die niederziehenden Gewichte seiner Herkunft und bisherigen Entwicklung ab. Er wird, in Stoff und Stil, zum ersten Male metaphysisch, transzendent, in weitestem Sinne religiös. Blitzschnell, in weniger als fünf Jahren, durchläuft diese Epoche auch ihrerseits drei deutlich voneinander getrennte Entwiddungs- phasen: zuerst die rein formale Begegnung mit einem oft nur architektur-gekennzeichneten Jenseits (haupsächlich in Lustspiel und Komödie), dann die Epoche einer vielfach nur flächigen, oberflächlichen religiösen Emblematik und Milieukunst und schließlich die Filme mit echter religiöser Substanz, der religiöse Film im engeren Sinn, wie er in den zwei Eckpfeilern des Premierenprogramms der Wiener Festwoche gipfelt: „Monsieur Vincent“ der Franzosen und „The Fugitive“ der Amerikaner, das Drama der christlichen Tat aus Barmherzigkeit und die Tragödie der Bekenntnispflicht in "Not und Gefahr der Diaspora.

Der ganze Vorgang kommt nicht unmittelbar aus den schöpferischen Energien des Films selber, sondern vor allem anderen aus dem breitesten Publikum, dessen neuer Drang und „Geschmack“ von den empfindsamen Instrumenten der Produktionszentren registriert wird und dann über Bnehautoren, Regisseure und Darsteller als Motiven- und Stiltendenz in Wellen wieder zum Publikum zurückkehrt. Der Kreis der Wechselwirkung ist geschlossen, und es ist heute tatsächlich so, daß inmitten des allgemeinen Zuges zum religiösen Film im Einzelfalle nicht mehr klar ist, wo, von wem:

der Anstoß ausgeht. Die Tendenz aber ist da. Der transzendente Film ist da, und damit eine späte Weihe der säkularisierten Tempel.

Die Begegnung ist aber auch aus einem anderen Grunde bedeutsam. Mit der Preisgabe des Sujets der religiösen Wirklichkeit und des religiösen Erlebens an den Film tritt auch die andere Seite, die Kirche, aus einer jahrzehntelangen Zurückhaltung in eine gefahrvolle, aber vielverheißende Phase weltlichen Wirkens und erweitert damit ihren universalen dauernden Auftrag aus einem dringlichen Gebot der Stunde um ein Bedeutendes, zeitlich Bedeutsames, oder, wie Dr, H. Pauer in einer Vorrede zur religiösen Filmfestwoche ausführte: „Soll der religiöse Film nicht nur der Erbauung im vielberufenen Ghetto dienen, nicht auf unfruchtbare Inzucht beschränkt bleiben, dann muß er geladen sein von missionarischem Drang, gehorsam dem , Docete-Auftrag Christi.“

Dabei ist es von weiterer Bedeutung, daß dieselben Vorgänge heute im katholischen wie im protestantischen Raum stattfinden. Den großen katholischen Filmen aus Italien, Frankreich und Amerika entsprechen protestantische von annähernd gleichem künstlerischem Niveau und ähnlicher Intensität aus Skandinavien, von denen einer auch auf der Festwoche gezeigt wird.

So liegen die Dinge in dieser Stunde, da die „Internationale Festwoche des religiösen Films in Wien“ das Problem in seiner ganzen Tragweite aufwirft und in bedeutenden Vorführungen und Vorträgen zur Diskussion stellt, eine Übersicht über das Geleistete gibt und alle Beteiligten, Produktion und Künstler, im Grunde aber doch immer wieder nur das Publikum vor eine Entscheidung stellt, die nicht für die nächsten Monate und Jahre, sondern für die ganze Zukunft des Films gilt: Wird der Film den Ruf abweisen und nach dem Ablauf einer bloßen Mode des religiösen Films wieder in den geistigen Tod eines verstumpfenden und gefahren- bergenden Massenamüsements abgleiten oder wird er die Stunde erkennen und aus der späten Begegnung mit dem Jenseits die dauernde Mission einer Veredlung des Menschen empfangen, wie sie in dieser Universalität keiner der Künste zuvor beschie- den war?

Die Entscheidung liegt bei uns.

Die Zeit drängt.

Die säkularisierten Tempel beben.

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