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Die Sängerknabenmama

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IN EINER DER PARKRAUM-NOTGEPLAGTEN Nebenstraßen des neunten Bezirks ist in diesen Tagen noch weniger Platz. Aus allen Teilen der Stadt kommen ehemalige Wiener Sängerknaben hierher, um eine alte Dame zu feiern, die für sie mehr war als „Theater- und Konzertdirektion“. So, wie sie da vor dem Besucher steht: mit üppigem weißem Haar, den temperamentvoll gespannten Zügen, in ihrer ganzen stattlichen Erscheinung, ist man geneigt, den 80. Geburtstag Rosa Gärtner-Hayarts auf einen Eintragungsfehler im Geburtsschein zurückzuführen. Entpuppt sich der Besucher als ehemaliger Sängerknabe, darf er mit einer stürmischen Umarmung rechnen. Auch einen, den sie viele Jahre nicht zu Gesicht bekam, erkennt sie bald.

„Wart einmal — du bist der...“ Nun kriegt das volle Gesicht doch ein paar Falten. Beim Nachdenken gleitet die gepflegte Hand über Stirne und Augen, als vermöchte sie den reichen Schatz an Erinnerung dahinter besser zu sortieren: „Du warst beim Gomboz-Chor... 1934 ... und hast den ,Bastien' gesungen!“ Triumphierend hebt die Jubilarin die Arme zu einer neuerlichen Umarmung.

ANGEFANGEN HAT ES 1930. Das Burgtheater gastierte in Schlesien, und die Schauspielerin Lilly Marberg brachte die Direktorin des Deutschen Theaters von Teschen auf den Gedanken, auch einmal die Wiener Sängerknaben in die Tschechoslowakei zu holen. „Mein Mann ist erst ein paar Jahre tot gewesen. Kannst dir vorstellen, daß ich da schwere Zeiten hatte. Das Leben mußte doch irgendwie weitergehen, und am besten, dachte ich mir, gehts, wenn ich recht viele Kinder um mich habe.“

Die deutschsprechende Bevölkerung der tschechoslowakischen Republik hatte die in der Monarchie gezogenen kulturellen Fäden nicht zerrissen. Es wird nicht viele Burgschauspieler und Opernsänger dieser Generation geben, in deren Biographie Brünn, Duck oder Teplitz-Schönau keine Rolle spielen. Allen haben die nicht immer ansehnlichen Bretter dieser Bühnen als Sprungbrett zum Ruhm gedient.

Man sieht sich in der Wohnung um, in der Frau Gärtner-Hayart seit dem zweiten Weltkrieg Zuflucht gefunden hat. „Vieles mußte drüben bleiben — das ist halt so.“ Aber ein reicher, persönlicher Schatz in Form von zahllosen Bildern, Photos und Widmungen hängt an den Wänden.

„Den Bernhard Baumeister kennt man heute nicht mehr. Aber das war ein großer Schauspieler, der war schon 1914 bei uns.“ Girardi, Moissi, Reimers, Wohlgemuth, Bleibtreu, Prihoda, Kubelik... liest man weiter unter kleinen Geständnissen familiärer Natur. Das Bild Slezaks aus dem Jahre 1922 prägt sich ebenso dem Beschauer ein wie die mädchenhaften Züge der jungen Wessely. 1940 hat ihr Willy Forst „für die ersten Schritte in Teschen“ gedankt.

Man spürt schon den Unterschied zwischen dem modernen Manager und der mütterlichen Direktorin. Natürlich gehts in beiden Fällen um Geld — in beiden Fällen gibt es so unkünstlerische Ausdrücke wie Spesen und Steuern. Aber der alte Theaterdirektor, wie Goethe ihn preist, und wie er in Richard Strauss' „Capriccio“ so rührend auftritt, hat die Bindungen geschaffen, die mit Geld allein niemals zustande kommen. Seine Sorgen beschränkten sich nicht auf den vertraglichen Auftritt, er kümmerte sich auch um das Essen und um ein gutes Bett für seine Schützlinge. Und waren es gleich zwanzig Buben auf einmal, so galt es für die verständige Frau Direktor manches Pflaster für Leib und Seele aufzutreiben.

DIE ERSTEN VERSUCHE mit den Wiener Sängerknaben haben natürlich nicht gleich eingeschlagen. „Die Tschechen sind zu mir gekommen und haben gefragt, was das für ,male chlapei' (kleine Gschroppen) seien“, erinnerte sich Frau Gärtner-Hayart. „Aber da habe ich schöne Plakate drucken lassen und einen kleinen Prospekt mit einer kurzen Geschichte des Instituts, und alle waren erstaunt, daß die Buben, die da so frisch in ihren blauen Matrosenanzügen auf dem Podium standen, eine so lange Ahnenreihe hatten.

Das Konvikt war 1924 von Rektor Josef Schnitt wieder ins Leben gerufen worden, nachdem die Auflösung der Monarchie auch der alten, bis auf Maximilian I. zurückgehenden Institution das Leben ausgeblasen hatte. Sein neuer Ruhm dräng bald über die Grenzen der österreichischen Heimat, und nicht zuletzt waren es die vorsorgenden Schritte der jungen Direktorin aus Schlesien, die diesen Ruhm in die Welt tragen halfen. Rektor Schnitt überzeugte sich gleich persönlich im Wirkungsbereich Frau Gärtner-Hayarts, und er war von ihrer Organisation ■ so beeindruckt, daß er ihr die Alleinvertretung für die CSSR und Polen übertrug.

„Obwohl die Straßen in Polen schlecht waren und es mit den Hotels auch nicht immer geklappt hat, sind wir doch bis Wilna gekommen“, berichtet die unternehmungslustige Jubilarin nicht ohne Entdeckerstolz. Sie ist heute noch glücklich darüber, daß das erste Konzert in der polnischen Hauptstadt zu der ungewöhnlichen Anzahl von zehn Zugaben geführt hat. Auf dem Tisch türmen sich Programme, Plakate und Rezensionen. Bedenkt man, daß sich die Karriere des einzelnen Sängerknaben in drei bis vier Jahren erschöpft, weil ihn dann der Stimmbruch am Weitersingen hindert, und erfährt man nun, daß die Wiener Sängerknaben in manchen Jahren bis zu viermal in die CSSR geholt wurden, so läßt sich leicht ausrechnen, wie groß der Kreis ihrer Schützlinge, ihrer Buben, geworden ist. Generationen von Sängerknaben sind hier festgehalten in Bildern und Zeitungsmeldungen. Wenn auch das Bild des einzelnen in der Erinnerung verblaßt, so bedarf es doch nur kleiner Gedächtnisstützen, um eine Szene wieder lebendig werden zu lassen.

„Da hat doch einmal so ein Ekel von einem Kritiker geschrieben, man hätte dem Darsteller der .Laura' aus dem .Musikfeind' von Konradin Kreutzer nicht glauben können, daß er ein Mädel sei, weil er so lange Elfer hat. Mein Gott, hat sich der Bub gekränkt“, sagt Frau Gärtner-Hayart. Und sie sagt nicht dazu, was die anderen Sängerknaben um so klarer in Erinnerung haben: daß sie nämlich diesen Buben einen halben Tag lang in der Konditorei getröstet hat.

,.In Reichenberg ist der Bürgermeister ganz aufgeregt zu mir gekommen. Der Chor hat gerade den ,Häuslichen Krieg' von Schubert beendet gehabt, und da sind doch ein paar besonders nette ,Damen-rollen' darunter. Diese Biedermeierkostüme mit den langlockigen Perücken haben ja den Leuten überall gefallen. Also, der Herr Bürgermeister kommt und sagt: ,Wissen Sie, Frau Gärtner, mir können Sie nichts erzählen. Unter den Krino-linen haben Sie doch sicher ein paar Mädel stecken!' Ich konnte den Mann nur so beruhigen, daß ich ihn in die Garderobe mitnahm, wo ihr euch gerade umgezogen habt. Dann war er zufrieden.“

ACH JA, ES WAREN AUFREGENDE und erhebende Momente. Es gab die Kämpfe mit cleveren Hotelbesitzern, die Sorgen um den rechten Zuganschluß und den Kartenverkauf. Und es gab die Tränen der Rührung über ein besonders gelungenes Lied. Da ist noch ein Plakat, das auf einen Sonderzug zum Konzert in der nächsten Stadt hinweist. „Die Leute haben die Buben wirklich gern gehabt, und natürlich war der Sonderzug voll, obwohl das Geld nicht auf der Straße lag.“ Manche Freundschaft zwischen den deutschen „Pflegeeltern“ und ihren kurzfristigen Gästen ist über das Chaos des zweiten Weltkriegs hinweg bestehen geblieben.

Aus allen Teilen der Welt sind die Wiener Sängerknaben immer wieder gut nach Hause gekommen. Aber da die Reisen ins Ausland hauptsächlich mit dem Autobus gemacht wurden, konnte auch nicht ausbleiben, daß so ein Ungetüm, vollgepackt mit Menschen, Kostümen und Noten, einmal nicht rechtzeitig am Ort des Konzerts ankam, wie es eines Tages einmal in Zakopane passierte. Das Publikum war natürlich in Sorge; man telephonierte und machte die Abgängigkeitsanzeige.

„Inzwischen haben wir fleißig geschwitzt, um unseren braven Autobus aus dem Schnee zu schaufeln. Wer konnte auch ahnen, daß wir ausgerechnet im Mai in der Tatra noch so viel Schnee haben werden!“ Als der Bus endlich mit reichlicher Verspätung am Ziel war, sorgten die geduldigen Besucher erst einmal dafür, daß die „Geretteten“ heißen Tee und Kuchen bekamen. Dann gab's noch einen besonders heißen Begrüßungsapplaus und nach dem Konzert ein diesmal besonders feierliches Abendessen.

Natürlich gehörte es auch zu den ehrenamtlichen Obliegenheiten der „Frau Direktor“, kleine Eifersüchteleien und Zank zu schlichten. Sie kannte bald ihre Pappenheimer. Es gab unter den Buben auch Solisten, die, vielleicht weil sie ein größeres Solo oder gar eine Filmrolle zugesprochen bekamen, ein wenig aus der Reihe zu tanzen versuchten. Wie wird man am besten mit zwei Sopransolisten fertig, die sich knapp vor ihrem Auftritt in den Haaren liegen? Man scheucht sie auf die Bühne! „Da haben sie natürlich nicht mehr raufen können, weil sie doch ein zärtliches Liebespaar zu mimen hatten.“ Die alte Dame kann sich ein Lachen nicht verkneifen. „So hat der eine dem andern in aller Stille beim Händchenhalten den Daumen umgedreht, worauf sich dieser bei der Umarmungsszene revanchierte, indem er seine .Geliebte' in die Wange biß.“

WENN SICH DIE SÄNGERKNABENMAMA auch um alle kümmerte, so konnte doch nicht ausbleiben, daß einzelne Buben diese Gefühle auf das Heftigste erwiderten. Während einer der langen Autobusreisen kam die Frage auf, warum denn die Frau Direktor nicht noch einmal heiraten wolle. „Dazu bin ich doch viel zu alt“, entgegnete sie. Aber sofort meldeten sich drei Buben zum Heiraten. Nun war guter Rat teuer. „Nach einigen Tagen fragte ich den ersten, wie es denn um sein Versprechen stünde. ,Ach, wissen Sie, Frau Direktor', sagte er kleinlaut, ,ich hab' mir das doch wieder überlegt.' Auch der zweite Freier sagte ab, weil er, wie er sich ausdrückte, ,sich schon vor Jahren entschlossen hatte, nie zu heiraten'; nur der dritte, mein lieber Freund L., der blieb tapfer und eröffnete mir, er hätte dem Vater schon Mitteilung gemacht. ,Und wegen des Altersunterschieds machen Sie sich keine Sorgen', tröstete er mich. ,Wenn Sie sich hin und wieder ein bisserl rot anschmieren, werden Sie immer jung ausschauen.' “

Nun lebt sie in der Stadt ihrer Buben. Manchmal ist es still da oben in der Wohnung mit den vielen Bildern. „Aber da nehm' ich mir die Alben und die Briefe heraus, und dann sind alle wieder da. So wie der N., der mich mitten im Krieg in Fliegeruniform besuchte. Er hatte nur zwei Stunden Zeit; zehn Minuten davon verbrachte er bei mir. Eine Woche darauf ist er abgestürzt.“

Sie muß auch mit dem Leid fertig werden, das sich hinter der Freude einschleicht, und das die echten Mütter wie die ausgeliehenen packt. Aber die Freuden überwiegen, denn überall in der Stadt sind ihre Buben verstreut, und immer wieder trifft sie einen von ihnen.

„Geh' ich doch unlängst mit dem Hund in die Klinik, da fällt mir der Tierarzt um den Hals.“ Natürlich, O. ist vom Sopranisten zum Tierarzt avanciert. Einer hat eine schöne Position im Wohnungsamt. „Zum Glück hab' ich ja meine Wohnung schon gehabt...“ sagt die Jubilarin fast entschuldigend. „Und wenn ich wieder einmal in die Oper geh', da brauch' ich nur ins Orchester oder auf die Bühne schauen, da sind auch ein paar gelandet.“

Einer ihrer „Buben“ erzählt eine kleine Begebenheit, die so typisch für die Sängerknabenmama ist und die ihr selber längst nicht mehr in Erinnerung war. Aber er hat sie nicht vergessen. Der Bub hatte zu den wenigen Sängerknaben aus der Provinz gehört und war nach der Mutation als Präfekt im Institut untergekommen, um hier in Wien sein Rechtsstudium vollenden zu können. Man nahm ihn auch auf Reisen mit, und da die Präfekten damals auch noch tüchtig zupacken mußten, passierte ihm das große Malheur, daß er beim Koffertragen seine Hose arg zerriß. In den dreißiger Jahren war ein kaputter Anzug wirklich ein Malheur, noch dazu für einen Studenten. Aber auch hier war die Frau Direktor mit Rat und Tat zur Stelle. Sie besorgte dem zerknirschten jungen Mann einen neuen Anzug und holte sich beim gestrengen Rektor höchstpersönlich das Placet dazu. Das hat er nicht vergessen, der einstige Präfekt und jetzige Leiter der Wiener Sängerknaben. Und sicher wäre er auch darum bereit, mit Frau Direktor Gärtner-Hayart einen Vertrag über ihr 1001. Sängerknabenkonzert abzuschließen.

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