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Die Schuhe des Herrn Vianney

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Ganz unten im Schranke Charlie Chaplins sollen ein gutes Duvzend hocheleganter Schuhe stehen und daneben zwei oder drei Paar völlig ramponierte Galoschen, die er für seine Filmrollen brauchte. Das vornehme Schuhwerk des Genies unmittelbar neben jenen Latschen, denen er schließlich alles verdankt …

Ganz unten im Wandschrank des Herrn Vianney (des Pfarrers von Ars) hat es wohl — so meine ich — nur ein einziges Paar zum Wechseln gegeben, ich meine die Schuhe für die großen Tage — will sagen: die verlorenen Tage —. jene, an denen er zum Herrn Bischof befohlen war, oder auch der, an dem ihn der Abgesandte Seiner Kaiserlichen Majestät empfing, der ihm die Ehrenlegion antragen wollte.

Die anderen, die wahren, die einzigen Schuhe des Herrn Vianney stehen am Fußende seines Bettes, während , er selber den Schlaf des Heiligen schläft und heimgesucht wird vom Elend der Armen oder auch vom Teufel genarrt, der die Schwäche für dumm zu halten scheint.

Ein Lärmen läßt Herrn Vianney erwachen. Das weiße Haupt erhebt sich aus weniger weißen Kissen. „Wer ruft mich?” — „Komm, Jean Marie!” ruft es von überall her.

Die Straße, die, einem Fluß vergleichbar, das Dorf durchquert und aufteilt, ist schwarz von Wagen — bis hin zum Platz an der Wagen länger und länger: die Nacht vereint Mensch und Vieh, Fremde und Nachbarn, Reiche und Arme im gleichen schläfrigen Frösteln. Morgen … Morgen … Sie warten, warten vom grünen Morgendämmern bis zum grauen Abenddämmern darauf, daß morgen sie an die Reihe kommen, auf der harten Holzstufe im stickigen Kasten des Beichtstuhls niederzuknien … Etliche von ihnen kommen deswegen von jenseits des Meerds: um einen alten Mann zu hören, der wie ein Gefangener hinter diesen höhnischen Gittern sitzt. Einen alten Mann, der weder besonders klug noch intelligent ist — aber es handelt sich da sehr wohl um Intelligenz! Hier ist mehr als alle Weisheit aller Denker unserer Tage:.ein leerer Kopf, aber wie von Kristall gefügt, der Gottes Geist aufnimmt, bricht und widerstrahlt. Kein Kopf, der denkt — ein Mensch, der weiß! Alle diese einsamen Fremden kommen zu ihm, der sie erkennen wird, der sie lange schon kennt — einen wie den andern, weil er einen jeden von ihnen inniger liebt als sich selbst: es ist der wahre Abglanz des Herrn Jesus Christus, dem sie sich zuwenden.

Und aus seinem dunklen Fenster schaut er sie an, und Angst überfällt ihn immer von neuem: „Was soll ich ihnen sagen?”

„Was der Heilige Geist dir eingeben wird — im Augenblick — wie gestern, wie vorgestern, wie jeden Tag, denn es steht geschrieben: Sorget euch nicht!”

,Ts sind ihrer zu viele! Und es dauert schon allzu lange! Ich kann nicht mehr … Allein sein mit Dir, mein Gott! Beten können, von Angesicht zu Angesicht sprechen mit Dir … Oh, fort, fort von hier!”

Das ist die letzte Versuchung des Teufels. Gerade noch spielte er den Dummen, zog den alten Mann an den Füßen, legte Feuer an seinen Strohsack. „Kaperer” oder „Enterhaken” nennt ihn der Heilige mit einer Art von mürrischer Anhänglichkeit, mit jener unerklärlichen Zärtlichkeit des Siegers gegenüber dem unterlegenen Feinde. Aber nicht doch! Der „Kaperer” hat lediglich sein wahres Ziel getarnt und den Gegner entwaffnet. Heute nacht geht er aufs Ganze — und Herr Vianney läßt sich überrumpeln: der Teufel verkleidet sich als Gott — er bedient sich der äußersten Mittel!

„Dir näher sein, Herr: allein mit Dir … Dein Kind sein und nicht mehr der Vater all dieser Unbekannten … Hier, wie soll ich hier beten? Meine Augen aufschlagen zu Dit? …

Ich verliere Dich, ich verliere mich … Ich muß fort von hier, fort, noch in dieser Nacht!”

Sein altes Herz schlägt, als er mit zitternden Händen — einem fliehenden Gefangenen gleich — die Soutane überstreift, an der man immer so lange zu knöpfen hat — und seine derben Stiefel anzieht. Sie haben schon auf ihn gewartet: der Fuß findet darin jede Höhlung und jede Ausbuchtung Wieder. Tag für Tag hat das zähe Leder sich nach diesen Knochen formen müssen, die noch härter sind … so hat auch der Körper sich über der Seele geformt: Herrn Vianneys Körper gleicht einem alten, verbrauchten Schuh, den er abstreifen und zurücklassen wird, wenn er die Schwelle zur Ewigkeit überschreitet. An jenem Tage wird er die Augen schließen: dieser klare und lebendige Lichtstrahl wird aufhören zu fließen, und wir werden uns an dem harten Felsen stoßen, diesem Menschengesicht, das nach hundertjährigem Grinsen endlich nun das Seines Zwillingsbruders Voltaire überwindet.

Herr Vianney ist bereit. Er nimmt Schirm und Brevier und steigt lautlos die Holztreppe hinab. Unten ist die Tür nur angelehnt. Welch glühende Hand hat das getan? Er fragt nicht darnach. Er ist schon losgegangen — die Straße nach Villefranche hinaus. „Wohin gehst du, Jean-Marie? Wo wirst du morgen sein?” Er weiß es noch nicht. Er flieht. 2 Uhr ist es. Ganz Ars schläft, ohne zu ahnen, daß es soeben seine Seele verliert. Ein Hähri ‘kräht, fetfd’tlcr alt -Mätffi Wittert. \?Wenn eFMrCifiiäi krähen würde …” Mondlose Nacht; mitunter steckt Herr Vianney für einen Moment die Arme vor sich hin wie ein Blinder; aber die alten Schuhe kennen den Weg: sie haben ihn allzu oft diese Straße entlang ans Bett eines Kranken geführt … Hier ist das Haus von Jean-Claude Viret; da das von Marthe Miard … und hier das vom alten Oriol … Aber warum krampft sich das Herz des alten Mannes so zusammen, während er an den einzelnen Häusern vorübergeht? Warum achtet Herr Vianney so vorsichtig darauf, nur ja keinen.. Stein anzustoßen? Ja, warum schämt er sich einer solchen Vorsicht? — Hier das Haus von Franęois Pertinaud … von Etienne Durie … von Hippolyte Pages … Und warum werden plötzlich die getreuen Schuhe Schritt für Schritt schwerer? … Wie kommt es, daß dieser freie, von all den Wohlgerüchen, die Herr Vianney ganz vergessen hatte, gesättigte Wind ihn so beklemmt und ihn zwingt, den Kragen seiner Soutane aufzuhaken, damit er nicht ohnmächtig wird? — Das kommt, weil dein Gott dich anschaut, du alter Mann, in dieser seltsamen Nacht. Er wird es nicht zulassen, daß Sein treuer Hund davonläuft und sich verirrt. Er hat bereits sacht an der Leine gezogen: „Jean-Marie, wo suchst du mich denn?” — und du erstickst …

Eben bist du ans Kreuz der Schlucht von Combes geraten, und nun weigern sich deine bleischweren Schuhe, noch weiterzugehen. Sie haben die Partei von all dem ergriffen, was bescheiden, demütig und alltäglich ist; sie kennen den wahren Weg Gottes, sie wissen, wohin er führt: in die Elendshütten, ins Haus der Kranken und zur alten Kapelle. Was für andere die Wüste ist oder La Trappe, für wiederum andere die Sandalen sind: für Herrn Vianney sind und bleiben es bis zum Ende die ausgetretenen Galoschen. Und sie sind es auch, die ihn eben jetzt wieder zu seinem Dorfe und zu seiner Herde zurücktragen: zurück zu den Beichtkindern, die rund um die Kirche lagern und zwei, auch drei Tage warten, bis sie sprechen können: „Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt …” — zurück in den engen Beichtstuhl, in dem sein „Kadaver” (denn als solchen behandelt er seinen Körper!) an 16 Stunden bei Tag und Nacht unbeweglich verharrt … Seine alte Kirche, sem kümmerliches Pfarrhaus — ach, ei ahnt sie wohl mehr, als er sie wiedererkennt: er tritt ein und schließt hinter sich die Tür. „Mein Gott!” ruft er laut, „verzeih mir. Ich habe mich wie ein Kind benommen …” — Er steigt die Treppe hinauf, er zieht seine Kleidung aus, er legt sich ins Bett und er schläft ein.

Alle jene, die in den Kirchen die Füße der Statuen zu küssen pflegen (und deren Lippen von Geschlecht zu Geschlecht die Bronze verbrauchen), mögen recht lange stehenbleiben vor diesem Pfarrer von Ars und sich seine Schuhe ansehen, denen sie nicht zürnen dürfen, und sie küssen, wenn sie so wollen. Vor allem aber mögen sie beim Verlassen der Kirche jedesmal die zerschundenen Schuhe des Herrn Vianney wiedererkennen und sie hochachten immer von neuem, wenn es ihnen geschenkt wird, ihnen auf ihrem Wege zu begegnen … denn diese Schuhe, sie wandern noch immer auf dieser Erde …

Aus: „Unser JaUrUuudert ruft um Hilfe”, Drei-Brückcu-Verlag, Heidelberg

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