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Die Seerosen

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Mein Bruder kam von Südamerika herüber. Er ist älter als ich, steht mit beiden Beinen im Leben und hat es drüben zu etwas gebracht. Er braucht darüber nicht zu erzählen, sein Aussehen, sein Wesen, seine Aufmachung sagen genug darüber aus. Er verweilte einige Zeit in der alten Heimat — besser sollte ich wohl sagen, er nahm vorlieb mit dem wenigen, das man ihm außer dem Reiz unserer schönen Gegend bieten konnte. Er war herzlich, gar nicht hochtrabend, und er meinte es auch immer sehr gut mit mir.

Die Tage vergingen so rasch. Wir fuhren mit seinem schönen Wagen in der Umgebung umher und suchten alte Plätze auf sowie Bekannte, die wiederum uns besuchen kamen. Mein Bruder wurde genötigt, von Südamerika zu berichten, von der aufstrebenden Stadt, in der er hauptsächlich lebte, wo man jede Woche zwei neue Wolkenkratzer baut, von den gigantischen Produktionsziffern und vielem anderen, das die Leute im alten müden Europa so beeindrucken kann. Er tat es mit Delikatesse, das muß ich bestätigen. Wir saßen bei Mondschein und Lampions vor unserem Vaterhaus und blickten übeT den See, der im Mondschein schimmernd dalag, und mein Bruder erzählte schonungsvoll von Südamerika und jenem unerhört schönen und unerhört fashionablen Strand, dessen Namen alle Welt kennt.

Dann aber kam jener letzte Abend vor seiner Abreise, vor dem wir uns beide gefürchtet hatten. Denn ich wußte es wohl, auch er fürchtete sich davor und vor dem, was gesagt werden mußte, obgleich er als Weltmann mehr Veranlassung hatte, diese Sorge zu verhehlen. Mir kam es weniger darauf an.

„Wie ist es also nun”, sagte er, während wir über unsere alten Wiesen gingen, auf denen wir als Buben Schmetterlinge, Maikäfer und Fledermäuse gefangen hatten, „kommst du nun mit?”

„Ich glaube, es ist besser, ich bleibe hier”, sagte ich und wich seinem forschenden Blick aus, der es gut mit mir meinte, „ich eigne mich so wenig, denke ich!”

Er war nicht verbohrt in Selbstsucht. Es traf ihn ehrlich und wirklich. Er zertrat zornig eine Zigarette im Gras und entnahm dem goldenen Etui sofort nervös eine neue. „Unsinn!” sagte er heiser. „Was willst du denn hier? Auf diesem sterbenden, ausgelieferten Kontinent, in diesem bedeutungslosen, schwachen, besetzten Lande, hier, zwischen Hinterwäldlern und den Hyänen des Fremdenverkehrs! Du setzest deine beste Lebenschance aufs Spiel!”

Ich schwieg. Was sollte ich erwidern? Im Grunde genommen hatte er recht. Doch verdroß mich seine bestimmte und souveräne Art und ich empfand sie als Herausforderung. Drum sagte ich, es sei eben schön hier zu Hause.

„Schön!” rief mein Bruder verächtlich aus. „Schön! Schön ist vieles. Schön ist der Golf von Napoli und schön ist die Silhouette von Manhattan, die schwedischen Schären sind schön und schön ist der Wienerwald. Der Montblanc ist schön und ebenso schön ist das Silberband des Rio de la Plata. Schön ist es überall, wo ich mein plück machen kann.”

„Eben”, sagte ich, „du sagst es. Und das Glück macht sich einen Spaß daraus, in ungezählten Formen durch die Welt zu geistern. Ich glaube nicht, daß ich ihm anderwärts begegnen würde.”

„Gerede!” sagte mein Bruder böse. „Was hält dich denn hier? Der Besitz? Du kannst von ihm nicht leben. Deine Steckenpferde? Du kannst sie dir eigentlich gar nicht leisten. Dein Beruf, die Schreiberei — verzeih; ich meine, deine Arbeit? Du wirst kaum aus diesem entlegenen Winkel heraus Werke her,Vorbringen, die die Welt aufhorchen lassen. Was soli’s also, im ganzen genommen, mit diesem deinem Hierbleiben?”

„Am Abend höre ich gerne, wenn der Wind durch die Fichten weht, die vor dem Hause wachsen”, sagte ich. Er sah mich an, und selbst in der Dämmerung bemerkte ich, daß er mich nicht verstand. Ich hätte noch mehr solche Dinge sagen können. Ich hütete mich. Ich wußte, das nannte er Ballast und Gerümpel des Lebens, das man möglichst bald loswerden mußte. Er hatte eine neue, eine andere Mentalität gewonnen, eine bessere und brauchbarere, keine, mit der man dablieb, eine solche, mit der man fortging. Aber war er dadurch glücklicher geworden?

Er sagte: „Draußen rühren sich gigantische Kräfte und schaffen an ungeheuren Werken der Zukunft. Der Mensch ist erst am Beginn seiner gewaltigen Entwicklung, das technische Zeitalter mit seinen ungeahnten Möglichkeiten …”

Es stimmte mich traurig. „Ach ja”, unterbrach ich ihn, „ich weiß, der Fortschritt, die Ueber- windung der Widerstände — das viele Scheinwerferlicht. Aber der Schatten liegt so schwer über den Menschen. Man muß dafür geschaffen sein.”

„Du hast keinen Ueberblick und keine Einsichten”, sagte mein Bruder und schlug einen väterlichen Ton an, der ihm nicht recht anstand. „Ich komme weiter herum, gewinne Einblick, komme mit unzähligen bedeutenden und einflußreichen Persönlichkeiten zusammen — man kann den Kosmos nicht aus dem Waldwinkel heraus beurteilen! Und überhaupt, verlieren wir uns nicht ins Unbestimmte — kommst du nun mit oder ziehst du es vor, hier zu versimpeln?”

„Jeder ist richtig auf seinem Platz”, sagte ich. Er machte es uns nicht leicht. Da waren wir nun einige Zeit beisammen gewesen, hatten die alten Plätze aufgesucht, dort, wo wir mit Leimruten den Vogelfang betrieben hatten, wo wir Eidechsen fingen, auf unserem selbstgebauten Sportplatz, wo wir um Zentimeter und Zehntelsekunden kämpften, und in der Seebucht, wo unser Vater zu angeln pflegte und wohin er uns als kleine Buben mitnahm. Es war eine stille und dunkle Bucht und es schwammen dort die ölig glänzenden, großen grünen Blätter der Wasserrosen. Auch jetzt gingen wir dort vorbei und der Mond ließ sein fahles Licht auf dem Blattwerk schimmern.

„Ja. hier war es!” sagte mein Bruder. „Ich weiß, erinnere mich — hier haben wir gefischt! Das ist lange her. Wir waren noch klein, hinter den Bergen war die Welt zu Ende. Schöne Zeiten waren das!”

Aber er erinnerte sich nur mehr an wenig. Ganz Südamerika schob sich dazwischen und all die Jahre draußen, er hatte soviel anderes in sein Gedächtnis stopfen müssen, Kurse und Sprächen, ;Zahlen und Redensarten, eine ‘.neue Welt. „Ja, so war das”, seufzte er, „er aß gerne Fisch und darum angelte er!”

Das war falsch. Unser Vater aß nicht gern Fisch, aber er war gern in der Frühdämmerung auf dem See, allein mit den Rufen der Wasservögel, und wenn das Frührot voller Verheißung über die Grate kriecht und der Nebel in den Tälern zaudert. Mein Bruder hatte so vieles vergessen!

Und so verging der letzte Abend unseres Beisammenseins, wie die Dinge des Lebens im allgemeinen vergehen, nämlich ohne klare Entscheidung und ohne wirkliches, wägbares Resultat. Der Uhu schrie gellend und fern im Wald und es wurde immer dunkler. Wir redeten hin und redeten her und es war doch zu keinem einheitlichen Standpunkt zu gelangen. Er hatte seine mächtige Position dort drüben und seinen Erfolg im Leben und viele andere mächtige Verbündete auf seiner Seite, ich aber nur ein paar überholte Begriffe und unklare Gefühle, lauter lästigen Ballast. Und doch bemühte er sich ehrlich, auch mich zu verstehen. Aber es gelang ihm offenbar nicht.

„Vielleicht bin ich zu spät gekommen”, sagte er düster. „Oder zu früh! Vielleicht zu früh!”

Wir konnten einander nicht überzeugen.

Unter dem Licht des Mondes schimmerte der See durch das duftende Baumlaub wie geriffelte Seide.

Am nächsten Morgen reiste mein Bruder dann in seinem schönen und lautlosen Wagen ab. Ich blieb allein und betrübt und in der Ueberzeu- gung zurück, alles verkehrt gemacht zu haben. Doch war es nun zu spät. Ich arbeitete ein wenig im Garten und fischte, fing aber nichts. Ich machte mir an den Gedichten zu schaffen, die ich meinem Bruder nicht gezeigt hatte, war einige Zeit auf meinem Waldlaufpfad und beantwortete einige längst der Erledigung harrende Briefe.

Dann kam der Briefträger und brachte ein Telegramm. Es war von meinem Bruder, und er war schon sehr weit fort in seinem schönen und lautlosen Wagen.

„Habe nachgedacht”, stand da, „sehe jetzt manches anders. Gebe zu, daß er nicht gerne Fisch aß. Hätte vielleicht auch ein paar Fichten pflanzen sollen. Rückkehr indessen unmöglich. Schiffskarte längst gebucht. Beglückwünsche Dich dennoch zu den Blättern der Seerosen bei Vollmond. Bleibe gesund und dort, wo du bist.”

Das traf mich, denn ich wußte genau, daß er niemals wiederkehren würde.

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