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Die Sehnsucht nach Sicherheit

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Man verkauft keine Im Bestseller mehr, in dem man die ZuWkl kunftsgesellschaft in Wf den höchsten Tönen preist. Bestsellerträchtig sind Krisenprophezeiungen. Also verkünden die Sozialwissenschaftler uns eine ununterbrochene Abfolge solcher Krisen: die Krise der Arbeitsgesellschaft, die Krise der Umwelt und der Energie, die Krise der Dritten Welt, die Krise des Wohlfahrtsstaates, die Krise der Alten, die Krise der Jungen und der Berufstätigen, die Krise der Männlichkeit und der Weiblichkeit, die Krise der Schwimmbäder und der Kegelvereine.

Aber trifft das nicht die Empfindlichkeit der Menschen? Würden sie diesen Befunden so willig lauschen, wenn diese nicht in irgendeiner Weise ihren Erfahrungen entsprächen? Finden diese Krisenberichte nicht deshalb Besonanz, weil die Menschen sagen: Ja, so ist es?

Diese Welt ist eine unsichere. Diese Welt birgt Bisiken. Eigentlich ist es verwunderlich. Denn es ist doch eine ungeheuer reiche und sichere Welt. Der Wohlfahrtsstaat beschützt seine Bürger. Die Pensionen werden ausbezahlt. Die Medizin eilt von Erfolg zu Erfolg. Schulen und Straßenbahnen, Wasserversorgung und Schneeräumung funktionieren. Der große atomare Schlagaustausch ist ausgeblieben. Selbst der Balkan ist vorläufig wieder befriedet. Die europäischen Staaten finden sich in ungewohnter Friedlichkeit zusammen. Warum also dieses Frösteln? Warum die Alpträume? Warum die Verunsicherung? Es gibt zumindest vier Gründe.

1. Die Weit ist komplex geworden.

Sie beraubt die Menschen des Gefühls, zu wissen, was gespielt wird.

Denn das Wißbare übersteigt heute jedes Maß. Wie heißen doch gleich alle diese Staaten im Süden der ehemaligen Sowjetunion?

Der Anteil dessen, was wir uns aneignen, was wir begreifen können, an dem, was es anzueignen und zu begreifen gäbe, schrumpft.

Wir sind, verglichen mit dem, was möglich ist, immer hilfloser. Neuigkeiten rollen heran: immer neue Modewellen und kulturelle Trends, mit denen man kaum mithalten kann; neue technische Geräte, bei deren Bedienung man versagt; politische Slogans, die schon vergessen sind, bevor man noch Zeit hatte, sie wirklich zu verstehen.

Eine Welle jagt die andere. Man kann alles kaufen oder betasten, und doch wird alles unanschaulich, unzugänglich und unverstehbar. Die Hilflosigkeit steigt: Man hat es noch nicht geschafft, alle Facetten des Videorecorders zu verstehen, und schon soll man sich ins Internet wagen. Noch sind die Aids-Erreger nicht gefunden, und schon treten neue Immunschwächekrankheiten auf. Was war doch gleich bei der zweiten und dritten und vierten Pensionsreform?

Das Gewohnte und Selbstverständliche kommt abhanden: die „alte” architektonische Umgebung, die saniert und renoviert wird; die gewohnten Speisen und Gerüche, die durch geschmackspenetrante Fertigprodukte ersetzt werden; die entlastende Routine in allen Lebensbereichen.

Entscheidungen über Kaufen und Lernen, Lieben und Erziehen sind immer neu zu treffen. Im Grunde werden sie beliebig: Es gibt immer Meinungen und Gegenmeinungen, neue Slogans, die vielleicht Erkenntnisse sind, vielleicht aber auch bloß Reklamegebrüll.

Man wirft hastige Blicke in die Fernsehkanäle, die Shops, die Restaurants, die Schulen, die Zeitschriften, in all das Widersprüchliche und Lockende. Aber was ist das wirkliche Leben? Alles fließt und flackert.

2. Wir haben nicht zu wenig Informationen:

Sie brechen von allen Seiten über uns herein. Aber es sind meist keine erfreulichen Informationen. Die Medien vermitteln uns Skandale und Grausamkeiten. Sie berichten über menschliche Schwäche und Brutalität. Sie schwelgen in Perversitäten.

Beurteilt man die Welt nach dem Fernsehen, so ist es ein Planet der Verkommenheit und des Todes, der Gefahren und Gewalten; eine düstere Welt, eine Welt der Risiken, eine Welt, die dem Fiasko entgegen taumelt. Jederzeit kann der Mörder aus dem Schatten treten. Jederzeit können die Raumschiffe landen. Jederzeit können die Autos, die Häuser, die I

Menschen im Feuerschwall in die Luft fliegen. Alles ist natürlich nur Fiktion, das ist uns bewußt. Aber weiß das unser Unterbewußtsein?

Die Medien drängen sich vor die Welt, sie sind die Welt. Fernsehsprecher werden Politiker. Politiker werden Schauspieler. Wissenschaftler berichten über die Wirklichkeit, Gegenwissenschaftler über die Gegen-Wirklichkeit. So wird zunehmend erkennbar, wo die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit verläuft. Alles ist möglich und unmöglich zugleich. Auf nichts ist mehr Verlaß. z

3. Risiken sind nicht mehr eingrenzbar

Die apokalyptischen Gefahren der Moderne wurden in der „Risikogesellschaft” (siehe auch Seite 17, Anm. d. Red.) auf den Punkt gebracht: einer Epoche, in der die Schattenseiten des Fortschritts mehr und mehr die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmen. Es sind Risiken, die örtlich, zeitlich und sozial nicht eingrenzbar sind. Es sind globale statt örtlich begrenzte, unsichtbare statt sichtbare Gefährdungslagen. Genau das macht ihre Besonderheit aus: In der Geschichte war das Leben meist gefahrvoller als heute, gemessen an den Tötungsraten.

Über die Jahrhunderte hin hat kaum mehr als die I lälfte der Kinder das Erwachsenenalter erreicht, und die Erwachsenen mußten jederzeit mit dem Tod rechnen: durch Typhus und Cholera, Pest und I lunger, Krieg, Brand und Mord. Im Vergleich mit ihnen leben die Menschen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften in einer atemberaubenden Sicherheit. Und doch: Die Gefährdungen sind mysteriöser geworden. Es mögen unerklärbare Leukämiefälle auftreten, und nur mit Expertenhilfe ist als Ursache die Verseuchung des Brunnenwassers ausfindig zu machen. Radioaktive Materialien in der Luft sind der sinnlichen Wahrnehmbarkeit des Menschen entzogen.

Erst über Jahrzehnte hin lassen sich Stoffe (wie Asbest) als Ursache von Krebserkrankungen ausfindig machen, an die niemand gedacht hatte. Kommt das Ozonloch? Gibt es den Klektro-Smog? Gefahr ist überall. Man kann auf nichts mehr vertrauen.

4. Alles ist gleich gültig = gleichgültig

Seien es Glaubensvorstellungen, seien es humanistische, sozialistische oder aufklärerische Weltanschauungen. Aber die Welt der gemeinsamen Bedeutungen und der gemeinschaftsstif-tenden Sinnstrukturen ist gefährdet. In der postmodernen Welt gelten keine „großen Erzählungen” über Gott und Liebe, Wissenschaft und Vernunft, Sozialismus und Zukunft mehr.

Die Befürworter des überbordenden Pluralismus erzählen uns von einem fröhlichen Chaos, in dem alles möglich und alles gleichberechtigt ist. Alles ist gleich gültig und deshalb gleichgültig. Aber eine vollständig befreite, bindungslose und nihilistische Gesellschaft hat nicht nur ihre fröhlichen Momente. Sie kann ein angsteinflößendes Ambiente sein, besonders in jenen Momenten des Lebens, in denen es einem nicht so gut geht. Vielleicht sind wir zuweilen doch auf Bindungen angewiesen, auf etwas, das gilt, einfach so, weil es „richtig” ist: beginnend mit 'Tugend und Anstand, Liebe und Menschlichkeit. Vielleicht kriecht deshalb die Angst empor, so ganz allein zu sein in einer kühlen Welt des Übermuts und der Berechnung.

Wir fragen uns, woher das Gefühl der Verunsicherung in dieser gesicherten Gesellschaft kommt? Warum sollte das verwundern?

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