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Die Seiten erzählen viel.

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Es ist eine sehr interessante Beschäftigung, in alten Zeitungen zu blättern. Im Rauschen leicht vergilbten Papiers nimmt Dahingegangenes Gestalt an. Plötzlich beginnen die „Eintagsfliegen" aus dem Wunderreich der Buchdruckerkunst zu sprechen. Und nun, in den schweren Sammelbänden vieler Jahre, offenbart sich auch das geistige Gewicht der „Zeitung“, einer Wesenheit, die wir gar leicht und undankbar zur Seite schieben, wenn sie uns willig den täglichen Dienst geleistet hat.

Das Bild der „Reichspost“ vor sechs Jahrzehnten — 1894 — ist, mit heutigen Augen gesehen, wie das aller damaligen Zeitungen wenig aufregend. Die Innenpolitik nimmt breiten Raum ein — es gibt vieles zu berichten in einem großen Reich; das Durchschnittsmaß für Außen politik ist eine Spalte —, als scheinbar unveränderliche Größe steckt die Donaumonarchie in einem scheinbar unveränderten Weltgefüge.

Und dennoch gibt die scheinbar solid gefügte Welt von gestern, von 1894 etwa, Anlaß zu einem Artikel im Textteil „Die Sicherheit des Sparpfennigs“. Unter den Nachrichten des Tages in derselben Nummer, die wir da aufschlagen, wird die Ankunft Pfarrer Kneipps in Salzburg erwähnt, und im Inseratenteil bietet sich (mit Bild) der „Echte Prager Schinken" an, und wir zweifeln gar nicht — Prag befindet sich ja noch im Hause — an dieser Echtheit.

Damit sind wir dort, wohin wir wollten. Anzeigen aus vielen Jahrzehnten erzählen und verratet! viel. Man muß lächeln, wenn man sie überblickt oder sehr, sehr nachdenklich werden. Ein Hutmacher empfiehlt einen Hut, nachgebildet dem Lieblingshut Luegers — wie beliebt muß also Lueger gewesen sein. Für die Damen gab es „die schönsten Jaquets und Promenade- Spencer“. Was heute kompliziert benannt wird, wurde damals als ;,Blutreinigungspillen“ an- geboten. Ein Begriff ist schon da, der uns auch heute noch geläufig ist: Schelhammer & Schat-

tqji. Jemand offeriert ein — damals noch unter unblutigen Aspekten zu spielendes — „Groß- Wien-Spiel“ und „selbes ist in runder Form, von 0,66 m Durchmesser mit 19 Kegeln auf jeden Tisch zu stellen". Da spielte man es wahrscheinlich eine Zeitlang, auf dem Plüschdiwan sitzend, im Schimmer der trauten Petroleumlampe, Nippessachen und Plüschvorhänge im Hintergrund boten dem Staube Gastfreundschaft.

Perücken werden eifrigst angepriesen. Männer mit Glatzen mußten also von ihnen Gebrauch gemacht haben. Eduard Hauser empfahl schon damals seine Grabsteine und Schneider Skarda seine Uniformen. Ja, es war eine Zeit der Uniformen. Der Zögling und Bannerträger des Internats St. Josef auf dem Klischee steckt auch im blauen Tuch. Ohne daß es die Menschen wissen, hält nur noch die Uniform das große Reich zusammen. Noch verweist die k. u. k. Südbahngesellschaft auf den Verkehr neuer Zugspaare auf den Strecken Sarajewo—Pankracz- Lipik, Triest—Neuberg, Triest—Leoben und Triest—Budapest — noch ist alles weit und groß. Aber schwebt nicht schon eine leise Melancholie darüber? Vielleicht ist auch jenes Lied von „Her- kulesfürdo“ aus dieser Zeit. Die Mutter sang es, und der Refrain „Kehr zurück“ steckt einem heut noch im Ohr, und die Werkelmänner hielten zähe daran fest — bis in die Republik hinein.

Auch damals schon innere Unruhe, auch damals schon Erneuerungsversuche, politische und religiöse Broschüren. Das „St.-Angela-Blatt“ will ins Horn stoßen. Wer aber tut was für die Kleinen? Für die Außenseiter der glänzenden Gesellschaft? Wir lesen: „Ein armer Kutscher, welcher durch Ueberfahren am Fuß schwer verletzt wurde, der ein krank darniederliegendes Weib und drei unmündige Kinder hat, bittet edle Menschenfreunde um gütige Hilfe. Josef Maurer, Wien II “

Und das Gesicht der Inserate selbst! Die graphische Form: Jedes Inserat gleicht einer Wurst. Aus dem Brei der kleinen Schriftgrade leuchten die „Speckstücke“ der größeren Schriften. Aber jede Umrahmung ist vollgestopft mit Worten — bis auf eine revolutionäre Ausnahme. Am 10. Mai 1894 hat eine Wäschefirma in der Mariahilfer Straße den Mut, einen kleinen Textblock in einem großen, weißen, umrandeten

Raum drucken zu lassen — und eilt der Kunst des Inseratensatzes um Jahrzehnte voraus.

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Die Zeit dreht sich weiter. Romantisch illustriert empfiehlt sich der Blitzableiter. Vier Blitze stürzen gleichzeitig auf ein Haus. Unbeirrt steht der Mann mit schwarzem Vollbart auf steiler Höh’ — „Tiroler Loden“. Für korpulente Zeitgenossen empfiehlt sich Marienbad mit „Trinkeuren“ und „Badecuren“; wem es in der Brieftasche fehlt, der verwende „Bade zu Hause“. Unterhalb dieser kräftigen Marke sitzt eine Dame im hochgeschlossenen Badekleid im Wellenbad. Weiß jemand, wie so ein „Wellenbad zu Hause“ aussieht? Die letzten Reste davon wird wohl der- Metallhunger zweier Kriege aus den Trödlerläden getragen haben. Man stelle sich eine Wanne vor, schmal, bei Kopf und Fuß überdacht und halbmondförmig gebogen. Wer darinnen saß, konnte damit schaukeln. Daher Wellenbad. Nebenan sitzt ein Herr im „Dampfbad“. Ein Behälter, aus dem der Badende nur mit dem Kopf herausschaut. Es gibt Bartbinden und Haarmilch gegen Graumelierungen an den Schläfen. Für garantierte Nachtruhe sorgt „Uhu-Wanzensalbe, ein un-

fehlbares Mittel zur gänzlichen Ausrottung von Wanzen“. Tiegel zu 40 und 80 Kreuzer. Wien ist eine nach Osten hin offene Stadt. Wien ist auch voll feuchter Mauern. Es gibt deshalb auch ein unfehlbares Mittel gegen Mauerschwamm. Adolf Franzischka in Heinersdorf empfiehlt den Donnerer, Modell 1907, mit sechs Stahlkammern für Feste und gegen Wetter. Ein Mann mit Schnauzbart hält die Hand am Abzug. Und dann eine Menge populärer Namen unter den Inserenten, die heute noch so bekannte Schmoll- Pasta, das alte Wiener Leinengeschäft „Zur Schwäbischen Jungfrau“, die Spiel- und Sportzeugfirma Wilhelm Pohl, die schon damals die große Entwicklungsmöglichkeit des Sportes erkannte. Esders’ große Fabrik und die Klavierfirma Hofmann, die eine Jahresproduktion von 5000 Instrumenten ankündigte. O du melodienreiches Wien!

Man schreibt 1909, und die Damen tragen Wagenradhüte mit Federn. Kärntner Straße, Prater, Offiziere, Korso, Fiaker — das ist die. eine Seite, Gärung am Balkan — das ist die andere Seite. „Wir bieten den Damen Gelegenheit, die neuesten Strömungen der Mode mit-

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