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Die selbstverständliche Stadt

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Paris rückt uns wieder näher. Die französische Besatzung bringt uns Ausstellungen und Konzerte nach Wien. Auch ist es nicht mehr so ganz ausgeschlossen, nach Paris zu gelangen. Aber man kommt sich ein wenig „aus der Provinz“ vor, wenn man heute die Hauptstadt Frankreichs betritt. Schon der Abendschnellzug dorthin: sauber, hell erleuchtet, mit Platzmiete, wenig Stationen mit kurzem Aufenthalt. Und morgens ist man dort.

Im Hochsommer ist Paris nur Stadt; die Pariser sind alle in den Ferien: Professoren, Künstler, Verleger — alles ist irgendwo auf dem Lande untergekrochen. So kann der Besucher nur noch ein einziges Interesse haben: die Stadt selbst.

Mit vier französischen Worten läßt sich diese Großstadt umschreiben: man muß wissen, was raison, clarte, liberte und humanite heißt, dann kann man Paris begreifen — vielleicht sogar ganz Frankreich.

Raison — das heißt Paris muß dort liegen, wo ein großer Seinebogen ist, auf der Seine zwei Inseln und links und rechts im weiten Seinebecken viel Platz. Um die beiden Inseln gruppiert sich alles; von da aus wächst die Stadt. Um das Wachstum zu ermöglidien, werden die Vorwerke zugeschüttet und ein neuer Stadtteil, ein Faubourg, ein Boulevard (Vorwerk) ist entstanden. Das war nötig und vernünftig — also hat man es getan. Jedes Gebäude steht so, daß es seinen Platz hat: dort, wo es zur Geltung kommt. Jeder Straßenzug ist gekonnt, breit, gerade, nidit zu künstlich, sondern auch schön. Der Verkehr ist für unsere Begriffe enorm. Autobus, Privatwagen, Taxi, Wagen, Menschen — alles viel zu lautlos für unsere Begriffe. Die Verkehrspolizisten, die „Götter des Verkehrs“ (sehr höflich und hilfsbereit zudem), haben ihre Signalpfeifen, nach denen sich alles richtet, einfach, still, selbstverständlich.

Clarte — das heißt diese Stadt hat Platz, unendlich viel Platz. Uberraschend ist die Breite der Straßen, ihre Übersichtlichkeit; und schön sind sie. Wer die Champs Elysees nicht hebt, versteht nichts von einer Stadt; wäre der Are de Triomphe, der Etoile anders, dann wäre Paris nicht Paris. Von dort aus muß die breite Prachtstraße bis zum Place de la Concorde gehen. Und dann folgen — Gärten: die Tuilerien und dahinter das Palais Royal mit dem Louvre, Auf der anderen Seite der Seine dann schon die Cit£, die beiden Seine-Inseln, — gut aufgeteilt und schön. Notre Dam, die Kathedrale, steht an der richtigen Stelle, — ein wenig weggerückt von ihrem Platz, dann wäre sie wirklich deplaciert. Dabei macht nichts in der ganzen Stadt den Eindruck des Uberwältigenden. Der Pariser liebt nicht in die Höhe zu schauen, — er schaut in die Weite. Breite ist sein Maß. Das einzige Gebäude, das „prächtig“ wirkt, ist das Grabmal Napoleons, — nun, das ist verzeihlich, besonders da es im Schatten des unvergleichlichen Hotel des Invalides steht. Man hat immer den Eindruck, sich niedersetzen zu sollen und diese Weite, diese

Großzügigkeit einatmen 'zu müssen. Und zwischen all diesen Bauten ist mitten in der Stadt Platz für Plätze: große, weite Plätze, auf denen Geschichte gemacht wurde. Und vor allem Gärten: wer nicht gern stundenlang im Jardin du Luxembourg sitzt, den Kindern zusieht, wie sie spielen, den Frauen, wie sie schön sind, den Blumenbeeten, wie sie „Geist in Form“ widerspiegeln, der hat kein Herz; der sollte nicht nach Paris gehen. Auch das Pantheon (uns ein wenig fremd in seiner allzugroßen Nüchternheit) verschluckt den Menschen nicht: es gibt in seiner weiten Halle der Besinnung auf historische Größe einen entsprechenden Raum. — Daneben aber gleich die kleinen Gassen und vor allem — Sainte Genevieve, die Patronin der Stadt. Nichts kommt zu kurz, was auch nur im Geheimsten erwartet werden könnte. Alles ist ausgewogen und klar; alles ist selbstverständlich.

Liberte — das heißt, daß man in Paris tun kann, was man will. Ich glaube, es könnte einer auf dem Kopfe durch den Verkehr gehen, es würde sich kein Pariser daran stören, — vorausgesetzt, daß auf den ersten Blick eine auch nur kleinste „raison“, eine kleinste Begründung ersichtlich wäre. Es kümmert sich keiner um den anderen. Das heißt: es fällt keiner dem anderen lästig, weil jeder sich so benimmt, daß er dem anderen gefällt. Das setzt voraus, daß hier ein Volk zusammenwohnt, das eben nichts anderes als Stadtvolk ist: eigentlich nidits organisch, sondern zivilisatorisch Gewachsenes. Das sieht man an den Frauen. Sie tragen hochgekämmtes, schwarzschimmerndes Haar, sind gut, auf der Straße nicht auffallend gekleidet, und sehr geschminkt. Keine Naturfarben, sondern „gemachte“, klare Gesichter. Und das muß dort so sein, — es fällt irgendwie sogar unangenehm auf, wenn eine Pariserin nicht gesdiminkt ist. (Ob diese Notwendigkeit i n Paris auch außerhalb dieser Stadt „schön“ ist?) — Sogar J. P. Sartre und sein Existen-zialismus haben dort Platz, östlich des Rheins sind wir zwar von Heidegger und seiner Philosophie schon geheilt; aber in Paris wird diese Philosophie zu einem Lebensstil: Man trägt existenzialistische Krawatten und trifft sich im „Caf6 de Flore“ oder „des deux Magots“; das Ganze ein wenig anrüchig an Geist und Geschmack, — aber die einen lächeln und die anderen tun's und beiden ist geholfen. Die Geschäfte auf den Boulevards sind voll der schönsten Dinge, — ein wenig teuer zwar, aber vorhanden. Jedes zweite Haus auf dem Faubourg St. Antoine zum Beispiel preist die schönsten Möbel an. Die Bouquinistes am Seineufer in der Nähe des Louvre machen in rarsten literarischen Werken. Es ist alles da, — schon wieder da! Der Pariser Sinn für Freiheit ist unermeßlich; die Friedenskonferenz tagt dort, einige wenige Menschen stehen um das Palais du Luxembourg, Polizisten bewachen das Ganze, aber so sehr viel kümmert man sich nicht um die Vorgänge. Man läßt jedem die Freiheit, zu gehen, wohin er will; man lebt selbstverständlich miteinander.

Humanite“ — das heißt, daß diese Stadt das „Maß des Mensdien“ hat. Von Menschen für Menschen gedacht und gemacht: so ist die Stadt, die Straßen, die öffentlichen und privaten Bauten, der Verkehr und die Zeitungen und die Philosophie. Dahinein fließt nun noch die unvergleichliche Eleganz der französischen Sprache. Dazu die herrliche, prickelnde Luft, unter hohem Himmel, heiter, ein wenig bedeckt gegen die allzu aufdringliche Sommersonne. So sind die Farben nicht zu blaß und nicht zu blendend, die Konturen der Umgebung nicht zu nah und nicht zu verschwommen. Alles ist gemäßigt, gebändigt, — am klarsten ausgedrückt in Schloß und Gärten von Versailles, deren Geometrie St. Johannes mit dem Engel berechnet zu haben scheint. An jeder Station der Untergrundbahn (man muß diesen Geruch der Metro einmal in sich aufgenommen haben, um zu wissen, was eine Großstadt ist!) begegnet uns Geschichte: französische Geschichte, Kultur-gesdiichte, Weltgeschichte. Man ist mitten im menschlichen Leben zwischen Ver-, sailles und Montreuil, Mont-Martre (dem heiligen und dem näditlichen) und Mon-trouge.

Abends auf dem siebenten Stockwerk eines Hauses in Latour Maubourg. Die Stadt tief unten in einem gedämpften Geräusch blinzelt aus tausend elektrischen Augen. Hinter dem grotesken Eiffelturm steht der zunehmende Mond; die Basilika Sacre Coeur auf dem Montmartre strahlt wie ein weißes Märdienschloß. Man fühlt sich daheim, mitaufgenommen in das historische und heutige, in das politische und betende, in das lachende und denkende Paris, — in die selbstverständliche Stadt.

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