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Die Sizilianer Österreichs

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Zwei Psychiater legen ein ganzes Land auf die Couch: Es geht um die Kärntner Seele und den slowenischen Menschen.

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Zwei Psychiater legen ein ganzes Land auf die Couch: Es geht um die Kärntner Seele und den slowenischen Menschen.

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Die Geographie des südlichsten österreichischen Bundeslands bedingt seine Lage im Schnittpunkt dreier großer europäischer Kulturkreise. Kulturelle Äußerungen, in welcher Form auch immer, sind hier vielschichtig. So kam es nicht von ungefähr, daß Erwin Bin-gel vor ein paar Jahren gleichsam ein ganzes Land auf seine Couch legte, um eine in die Tiefe, aber auch Breite gehende schriftliche Analyse vorzunehmen. Bingel lotete den Pendelschlag der „Kärntner Seele” (Hermagoras Verlag, Klagenfurt-Wien, 1988) aus und befand, die Kärntner seien die „Sizilianer Österreichs”. Jedenfalls freier und lauter als andere ihrer Landsleute. Dazu lieferte er eine verständliche Begründung: „Das Kärntner Kind kann freier aufwachsen, es herrscht hier ein größerer Badius der Bewegung, der Entwicklungsfreiheit, es wird die Longue nicht kurzgehalten.”

Eingehend beschäftigte sich der Suizidforscher auch mit dem Kärntner Spezifikum Mehrheit-Minderheit und dem Phänomen der Assimilation („Es wäre slowenischer Selbstmord, die eigene Kultur zu verlassen und zu verraten.”) und bezeichnete sie als „schlimme Entwicklung”.

Für Kärnten wünschte er sich nichts inniger als Brückenschlag und Versöhnung; dies im Wissen der tiefen Verflechtung der Kärntner See-le(n). Er warnte ausdrücklich vor Tendenzen, „den Heimatbegriff im pathologischen Sinn zu mißbrauchen”. Im Bewußtsein, daß Probleme von dort ausgehen, wo sie politisch gelöst werden müssen, stellte er dem Kärntner an sich ein sehr positives (soll heißen wohlwollendes) Zeugnis aus: Er wage es, seine Gefühle auszudrücken, und er sei prinzipiell friedfertig. Natürlich auch sangesfreudig.

Ein wesentlicher Ausdruck der Kärntner Seele, dieses Konstrukts einer komplexen regionalen Anima, sind für Erwin Bingel die „grandiosen” Schriftsteller, insbesondere Ingeborg Bachmann, Peter Handke und Peter Turrini, sein „echter und inniger Freund”. In diesem Zusammenhang müßte man wenigstens auf die slowenischen Dichter Gustav Janus und Florjan Lipus aufmerksam machen, die einen und aus einem Teil der carinthischen Psyche schaffen. Visuell vermitteln Teilaspekte dieser Seele Künstler, die im regionalen Spannungsfeld entweder aufgewachsen sind oder in diesem gearbeitet haben. Werner Berg, zum Beispiel, gilt als der „Seelenmaler” Kärntens. Doch sind dies genauso Markus Pernhart, Anton Mahringer, Maria Lassnig, Hans Staudacher, Valentin Oman, Franz Motschnig, Karl Vouk und viele andere.

Erwin Bingel war bei der Analyse und Diagnose natürlich befangen, schreibt er doch völlig offen: „Ich liebe dieses Kärnten.” (Bruno Kreis-ky ist anderes eingefallen. Auch das weiß Bingel und hält es fest.) Das Urteil ist insgesamt mild ausgefallen, und der Appell, die Slowenen gut zu behandeln, klingt eindringlich.

Der „slowenische Bingel”, Professor Anton Trstenjak, wiederum hat sich mit dem „slowenischen Menschen” („0 slovenskem cloveku”, Hermagoras Verlag, Klagenfurt-Wien, 1992) befaßt. Trstenjaks Ton und Vorhaben aber sind objektiver und damit wissenschaftlicher.

Eine der hauptsächlichsten Thesen Trstenjaks ist die Konstatierung, die wohl für alle Minoritäten dieser Welt gilt: „Die Minderheit kann nur mit Qualität überleben, als Elite.” Das Überleben stellt er als eine Frage der Beife dar. Selbstredend ist noch kein reifes Volk vom Himmel gefallen. Dieser Prozeß ist für Anton Trstenjak eine Bewußtseinsfrage, ein an den Vernunftsgebrauch gebundener Vorgang. Die Beife eines Volks bringt es mit sich, daß sich herausragende Persönlichkeiten entwickeln können.

Praxis offensichtlich stand. Die Kärntner Slowenen haben nach dem Zweiten Weltkrieg eine lange Beihe angesehener Menschen hervorgebracht: Künstler, Schriftsteller, Priester, Juristen, Ärzte, Wissenschaftler, Wirtschaftsfachleute, Unternehmer, Pädagogen, Techniker, Sportler und und und.

Bemerkenswert ist die tiefenpsychologische Überschneidung Bingels und Trstenjaks. Bingel behauptet, der Umgang der Menschen mit der Natur habe hohe Aussagekraft für die Begegnung untereinander. Und Trstenjak sagt, Wachstum und Beife könnten als Vergleichswerte herangezogen werden. Eine normale Begegnung pflegen daher nur Menschen, die einerseits Verantwortung für die Natur beweisen und andererseits Beife nicht nur haben, sondern auch verstehen.

Trstenjak verlangt demgemäß keine Verliebtheit der Volksgruppen, zumal dies im übertragenen Sinn keine Maturität sei, sondern ein Umgang, der Verschiedenheiten respektiert. Auf lange Sicht sieht er die Notwendigkeit des „einträchtigen Zusammenarbeitens” und ist damit in seiner Forderung wissenschaftlich nüchtern, wünscht sich doch Erwin Bingel „in liebevoller Sorge Frieden” für ein schönes Land. Aber ist nicht einträchtiges Zusammenarbeiten die höchste Form des (sozialen) Friedens?

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