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Die Sonne sinkt über Manhattan

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Nach sechs Wochen Kreuz und Quer durch Amerika wurden wir am vorletzten Tag von Österreichern durch Long Island gefahren, mehrere hundert Meilen. Wir sahen auf dieser Insel der Stadt und des Staates New York zusammen mit der Weltstadt und ihrem Glanz wahrscheinlich en miniature das, was Luzifer dem Herrn auf der Zinne des Tempels zeigte, als er ihm sagte: „Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ So groß und herrlich war das, was wir sahen. Brücken von unglaublich kühner und ästhetisch gefälliger Konstruktion, unermeßliche Lichtfluten künstlicher Beleuchtungen am Abend bei der Rückfahrt in sinkender Sonne, deren letzte Feinheit darin bestand, daß die zwei höchsten Wolkenkratzerspitzen in der Sonnenscheibe, nein, in einem roten Medaillon Silhouettenhaft eingefangen waren: Poesie menschlicher Technik, gepaart mit den verglimmenden Strahlen des Phöbus Apollo; Wirklichkeit verklärt von einzigschöner Romantik in einer Stadt, die angeblich ohne Zauber ist.

Ohne Zauber? Auch über diesem scheinbar bodenlosen Konglomerat von Häusern und noch einmal Häusern ruht der Geist Gottes. Auch hier heben Priester die weiße Hostie über ihr Haupt bei der Wandlung, klingt zum Domine non sum dignus das Ministrantenglöcklein eines jungen — Negers, der in St. Patrick beim Kardinalshochamt den Scharen der Kommunikanten die Patene unter das Kinn hält, Symbol, daß die katholische Kirche keine Rassendiskrimination kennt. Ohne Zauber? In der folgenden Audienz entschuldigt sich Kardinal Spellman, daß die USA-Katholiken „erst* 135 Millionen Dollar für die europäische Caritas hätten sammeln können, trägt Grüße an Eminenz Dr. Innitzer und die österreichischen Katholiken auf, in seinem Habitus irgendwie an Kardinal Piffl erinnernd.

Wir sahen auch die weniger schönen Seiten, spürten, so oberflächlich wir damit in Berührung kamen, die tiefe Kluft, die die Diskrimination zwischen Weißen und Schwarzen aufgerissen hat, von beiden Seiten. Typisch dafür jene Frage eines Negeruniversitätsprofessors in Chikago, ob man denn in Europa sich den Teufel immer noch als Schwarzen vorstelle, mit der dankbarst entgegengenommenen Antwort, man könne sich sehr gut vorstellen, daß ein Neger sich den Teufel mit weißer Hautfarbe dächte Typisch der erstaunte Dank einer Negerin in einem Restaurant, als wir ihr das Geschirr zum Abräumen ordentlich zusammengestellt hatten. Sie nahm schon diese Selbstverständlichkeit für ein ungewohntes Entgegenkommen von seiten der Weißen. Erfreulich, daß im Süden in katholischen Kirchen Weiße und Schwarze nicht getrennt waren beim Gottesdienst, während sie sonst selbst in den öffentlichen Verkehrsmitteln streng separiert sind.

überraschend die technische Vollendung im Sinne der Schonung der menschlichen Arbeitskraft und der Sicherheit des Lebens und der Gesundheit in den Betrieben. Wahrscheinlich aus utilitaristischen Erwägungen, aber doch vorhanden. Weitgehend die Masdiinisierung der Landwirtschaft, so daß ein Hof mit 600 Joch von drei bis vier Menschen betrieben wird, angefangen vom elektrischen Melken, bis zu den elektrischen Großkühlanlagen für Lebensmittel und den elektrischen Holzfällapparaten.

Die Gewerkschaften faktisch unpolitisch, klipp und klar durch ihre Vertreter erklärend, die Leute in Amerika wollten weder von Adam Smith noch von Karl Marx etwas wissen. Ihr Hauptziel in den Gewerkschaften sei, auftauchende Differenzen auf dem Schiedsgerichtsweg zu bereinigen. Ein Leben und Lebenlassen, das auf den ersten Anblick dem Europäer unfaßlich erscheint. Keineswegs von Ideologien beschwert, in einem Lande, das auf religiösem Gebiet hunderte Sekten kennt, die oft die groteskesten Dinge behaupten, so, daß — wie ein Prediger ganz ernsthaft glauben machen wollte — dilr Papst und Stalin in einem Atemzug als die Urfeinde Amerikas genannt werden.

Auf den Bahnhöfen Militärpolizei, sehr ungern gesehen. Der koreanische Feldzug alles andere als populär. In Philadelphia auf einem freien Platz ein waschechter Panzerwagen, wie man uns sagte, als Werbemittel aufgestellt, primitiv dastehend wie ein Fetisch aus irgendeiner mittelalterlichen Schlacht oder wie ein „Morgenstern“ aus den Bauernkriegen in der Wiener Waffensammlung.

Washington ein Unikum. 800.000 Einwohner, davon drei Siebente] Neger. Die schönsten Straßen, alle wie Autobahnen. Ein Regiment von Denkmälern für die Helden des Unabhängigkeitskampfes und des Krieges der Nord- und Südstaaten, allen voran das Monsterdenkmal Abraham Lincolns. Fortschritt, Technik, das Pentagon als größtes Bürohaus der Welt für das — Kriegsministerium mit 47.000 Angestellten. Und diese Stadt, in der in den Regierungsbüros Weiße und Schwarze gemeinsam arbeiten, hat kein Theater, baut keines, damit sich auf dem Dominion der Musen nicht etwa die Rassengegensätze entzünden.

Fürwahr, ein merkwürdiges Land, differenziert wie keines, und doch um eine Nationwerdung ringend, um die es das alte Europa beneiden kann, weil es alle Grübeleien philosophischer und skeptischer Art nicht kennt, noch nicht kennen will, vielleicht weil der Hauch des Kolonisatorischen noch lebendig ist „wie am ersten Tag“. Land voller Rätsel, doch angetrieben von dem alles beherrschenden Motor eines noch unbegrenzten und ungebrochenen Optimismus. Wenn wir in Europa etwa das alte Hellas verkörpern im Kulturellen, dann ist Amerika ein überdimensionales Imperium Romanum, das erst in den Anfängen seines weltgeschichtlichen Fluges steht.

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