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Die Stadt der „gestorbenen Wässer“

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Eine glühende Glocke, steht das Firmament uber deen Brackwässern dunkelgrünen Rohr- felderfl und staubigem: Dünfniand. In brutendarh Sonnenglast -ist die unermeßliche Ebene verschwunden, das Mündungsgebiet der Rhöne, in dem bis zum Horizonte sich die kupferblauen Weinfelder der Provence und des Languedoc dehnen. Nur ab und zu zwischen Sumpf und Ried ein weltverlorenes Gehöft, gegen den Mistralsturm durch eine Zypressenwand geschützt. Reiher torkeln mit langen Schwingen über den Wässern, die aus den Cevennen und aus ferner burgundischer und Schweizer Bergheimat gekommen sind und nun furchtsam zögern, wie sie sich dem Unbekannten, das drüben jenseits der Moore Tag und Nacht ihrer wartet, nähern sollen. Ihr Lauf ist aus, ihr Leben beendet, nun wird sie das Namenlose verschlingen, das Ungeheure, das ewige Meer. Oednis ringsum. Stumme Einsamkeit, dörrende Glut. Die Luft flimmert über den Sümpfen.

Meilenweit zieht die weiße Straße über Brük- ken. Endlich zerfranst die quälende Monotonie des Horizontes. Es erheben sich aus den Lagunen graue Türme, Mauerscharten tauchen zwischen verkümmerten Bäumen auf, bauchige Bastionen umfassen ein Tor, unter gotischem Spitzjoche öffnet sich ein dunkler Einlaß. Alte Häuschen drücken sich jenseits in den Schatten des Gevierts riesiger Steinwälle. Eine ärmliche Basilika, die Spuren uralten Schmuckes tragend, ragt niedrig aus dem seltsamen Gedränge. Es ist die Stadt der „gestorbenen Wässer”, Aigues Mortes. Arme Fischer und Salinenleute bewohnen sie. Das Mittelalter hat die Stadt hier zurückgelassen, einen Wachtposten, den es einzuziehen vergaß. Und so steht der Wächter noch hier am Rande des Mittelmeeres, meilenweit abgeschieden von den großen Verkehrsadern, die nach Marseille und Toulouse führen, noch gewappnet und gerüstet wie einst, ein Don Quijote kleinstädtischer Romantik, wenn er nicht so ernstgebietend und sein Schicksal nicht so voll tragischer Ironie wäre.

Zwischen den Dünen, Salzseen und Sümpfen liegt die alte Seefeste, noch wie sie Ludwig der Heilige, und, den Befehlen des Vaters folgend, Philipp der Kühne im 13. Jahrhundert gebaut. Ein Rechteck mit hohen Mauern und Türmen, einem römischen Castrum gleichend. Der König erwarb den abgeschiedenen, nur auf wenigen grundsicheren Stegen zwischen den Morästen zugänglichen Platz als Sammel- und Einschiffungsplatz seines Kreuzfahrerheeres. So manche seiner Vasallen zwischen den Pyrenäen und Cevennen waren unsichere Kumpane, es war besser, ihnen die Lust zu räuberischen Abenteuern gegen dien’ .heranziehende® Kreurfahrertrupperf” ztf1 Vergällen. So schuf Ludwig hier eine befestigte Basis für seine Pilgerflotte. Ein „Grau”, ein durch das Schilf sich drängender Wassergang, vermittelte für die königlichen Fahrzeuge einen Zugang zum Meere. Die Mönche von Psalmodi waren die bisherigen Eigentümer des Sumpflandes gewesen. Seit mehr als einem halben Jahrtausend hausten sie schon in den Mooren, auch hier noch wiederholt von den Sarazenen aufgestöbert und mit Feuer und Schwert heimgesucht. Doch immer wieder hatte sich ihr Chorgesang über den schweigenden Wassern erhoben — er gab der Abtei den Namen: Psalmodi! Nun sollte von dem Lande der Dünenmönche aus die Epopöe der mittelalterlichen Christenheit, die Befreiung der heiligen Stätten aus den Händen der Ungläubigen einsetzen. Gepränge und Waffenschall erfüllte die tote Küste mit Leben, und nicht mehr Aigues Mortes wollten die Bürger ihr Lagunenstädtchen benannt wissen, sondern früh- licher, zuversichtlicher: „Bona per forsa” — „Gut durch die Kraft”. Aber der Name sollte niemals Wahrheit werden. So wie der Königstraum, an den sich ihre Hoffnungen knüpften, auf der schreckniserfüllten Ebene von Mensurah und noch katastrophaler auf dem achten Kreuzzuge an der seuchenschwangeren afrikanischen Küste im blutigen Schäumen zerrann. König Ludwig war unter den Toten, die man aus Afrika heimbrachte. Noch zeigt man in dem Tor de Constance, dem mächtigen Turmbollwerke von Aigues Mortes, das kleine steinerne Gemach, in dem einst Ludwig gehofft hatte, mit seinen Waffen’ den höchsten Triumph der Christenheit erstreiten zu können.

Was ist der Mensch und sein Irrtum! Dieser steinerne Turm sollte einst der stumme Zeuge tiefen Elends der Christenheit werden. Dunkle Schicksale weben um sein Gebäu. Im Morgengrauen der Geschichte verlieren sich die Anfänge seines Vorgängers, des Tour de Montfere, den König Ludwig hier vorfand. Massig, von mörderischen Fallrinnen auf enger Stiege durchzogen, wurde der Turm des Königs der Hauptpfeiler des Festungsvierecks. Sein Halbdunkel haucht das Grauen seiner Erlebnisse. Gefangengenommen in der Burg des Seneschalls von Beaucaire lagen hier drei Jahre lang 42 Tempelritter in Ketten, bis ihre Führer, heidnischer Umtriebe ihres Ofdens angeklagt, den Tod auf dem Scheiterhaufen fanden. In den Burgmauern von Aigues Mortes, das sie jäh überrumpelt, sammelten sich die Banden der Pastoureux, die unter dem Vorwande eines neuen Kreuzzuges räuberisch die Provence verwüstet, um von diesem Schlupfwinkel am Meere aus Papst Johannes XXII. in seiner Feste zu Avignon zu bekriegen. In den wilden Parteikämpfen der Adelsgeschlechter des 15. Jahrhunderts bemächtigten sich die Bourguignons der Sumpfseite der Stadtbefestigung. Doch gelingt es in stürmischer Nacht den königlichen Truppen durch die Hilfe von Stadtbewohnern Einlaß zu gewinnen. Sie erwürgen die Bourguignons im Schlafe, werfen die Getöteten zu Haufen in einen Turmkeller und begraben sie dort unter einem Berge von Salz, damit die Verwesungsdünste des Gemetzels nicht die sonnendurchglühte Stadt vergiften. Noch heißt dieser steinerne Saig der Turm der Bourguignons. Die Tragik der Feste Ludwigs des Heiligen erreicht ihre Höhe zur Zeit der Hugenottenkriege. Katholiken und Protestanten wechselten im Besitze von Aigues Mortes. Abbe Aigon, - der sorgsame Qrtsgeschkhtsschreiber voit Aigues Mortes berichtet’nach’idenrAngaben der Stadtregister, daß 1686 nach dem Widerruf des Ediktes von Nantes — „severite inopportune” — „unangebrachte Strenge” — nennt der katholische geistliche Verfasser diesen Widerruf der Religionsfreiheit für die Anhänger Calvins — eine Schar Hugenotten, der Teilnahme an der neuen Waffenerhebung überwiesen, in den Tour de Constance geworfen wurden. Ihr Führer, der riesenstarke Abraham Mazel, brach den mächtigen Seitenstein einer Schießscharte und eine Eisenstange aus, befestigte an dieser zusammengeknüpfte Kleidungsstücke und ließ sich an diesem Seil in einer dunklen regnerischen Nacht in die schwindelnde Tiefe, gefolgt von siebzehn Gefährten. Da rutschte die Eisenstange und verklemmte den rettenden Spalt. Sechzehn zurückgebliebene Eingekerkerte hatten nun die letzte Hoffnung auf Flucht verloren… „Resistez!” — „Widersteht!” — steht ungelenk eingekrätzt in dem Randstein der Falltür des Kerkers. Eine Fiauenhand meißelte das trotzige Wort in den Fels: 44 Jahre saß Maria Beraud hier gefangen, 44 Jahre lang weigerte sie sich, dem Calvinismus abzuschwören und dadurch die Freiheit zurückzugewinnen. Resistez! Jahr um Jahr wallfahren calvinische Bürger von der oberen Rhöne zu dem Turm der Standhaftigkeit, der wie geschaffen ist, das Denkmal dieser Maria Beraud zu sein.

Rührend ist eine Erinnerung, die Aigues Mortes aus der Zeit der großen Revolution bewahrt. Die armen Fischer und Salzsammler des Städtchens mögen den gewaltsamen Neuerungen nicht eben grün gewesen sein, denn nur 35 Bewohner beteiligten sich 1790 an der Wahl für die Pariser Nationalversammlung. Von ihr erging das Gesetz, es sei’ der Klerus auf die alles umstürzende neue Verfassung zu vereidigen. Die drei Hilfspriester von Aigues Mortes — Lagnaüd, Jansson und Alexis — verweigerten die Unterwerfung. Doch der Pfarrer Jacques Tourrette war wenigertapfer und Versprach den Behörden den Eid.’ tn (einer Sprintagspredigt unternahm er es, vor den versammelten Gläubigen seinen Entschluß zu rechtfertigen. Doch kaum hatte er begonnen, als das Schweigen der Kirche von einem Ruf unterbrochen wurde: „Kikeriki, Kikeriki!” So hatte der Hahn gekräht, als Petrus den Herrn verraten hatte. Das Gleichnis überwältigte im Nu die Menge. Tumult durchtoste das Gotteshaus und zwang den Pfarrer zur Flucht von der Kanzel. Er enteilte durch ein Seitenpförtchen und verbarg sich in einem Nachbarhause, gefolgt von Verwünschungen. Von Stadtbeamten beschützt und über die Stadtbrücke hinausgeleitet, entrann er nach Nimes. Von der Gemeinde, die ihn einst geliebt hatte, verjagt, noch immer das Krähen des Hahnes in den Ohren, wurde Tourrette von tiefer Reue erfaßt. Eines Tages überrascht er Aigues Mortes durch seine unangemeldete Rückkehr, besteigt die Kanzel mit dem Büßerstrick um den Hals, widerruft seine Erklärung, bittet öffentlich die Gemeinde um Verzeihung für seine Verfehlungen und zieht dann demütig von Haus zu Haus, vor jeder Schwelle seine Bitte wiederholend. Und die Gemeinde verzeiht und freut sich wieder ihres alten Pfarrers, der noch bis zum 30. Juni 1791 seine Herde betreut. Da kommen die Schreckensmänner wieder und begehren, daß den neuen Göttern von den Priestern geopfert werde. Doch als ein neuer Turm der Standhaftigkeit steht nun der Pfarrer von Aigues Mortes, er beugt sich nicht mehr und teilt das Schicksal jener 400 Priester und Mönche, die das Deportationsdekret zur Fahrt über das Meer in die Verbannung zwingt.

So wie die große Revolution, so scheint fortan alles mächtige Geschehen der Welt vor den weißen Mauern der Feste in den Mooren zu versinken. Aquae mortuae — die „gestorbenen Wässer”! Nachbarstädte wurden groß und reich — der alte Wächter am Meere wurde arm und stille. Nur ab und zu schreckt ihn eine Schar neugieriger englischer Touristen oder strenger calvinischer Wallfahrer aus seinen Träumen. Ueber den toten Wassern erheben sich seine Mauern und Türme wie ins Zeitlose gerückt, etwas Sagenhaftes, Unwirkliches. Kommt die Nacht mit lautn, von der See her wehenden Winden, so steigt in sternenbesätem Mantel die Ewigkeit auf die bleichen Lagunen nieder, lächelnd über das Zeitliche, über das Ringen, Streiten und Sorgen der Menschen.

LEBENDIGE STADT

Literarischer Almanack des Amtes für Kultur und Volksbildung der Stadt Wien / 1954

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