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Die Straße der „bitteren Oliven“

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Das sonnige Andalusien ist in der Vorstellung mancher Ausländer die für Spanien „typischeste“ Provinz. Sie denken dabei an Sevilla, Cördoba oder Granada, die hervorragenden Kulturzentren und Fremdenverkehrsorte par excellence. Vom Lande Andalusien haben sie dagegen meist eine recht nebelhafte Vorstellung, in der malerisch gekleidete Zigeunermädchen und fesche Reiter mit Torerojäckchen und Sombreros eine Rolle spielen.

Ein einziges Mal war der Vorhang des Schweigens über Andalusien durchbrochen worden (ich spreche wohlgemerkt immer von der Provinz als Ganzem, nicht von den für den in- und ausländischen Fremdenverkehr leicht erreichbaren Attraktionspunkten): Am 6. März 1951 war der H. Nationale Arbeiterkongreß in Madrid eröffnet worden. Um jene Zeit war von kirchlicher Seite und auch aus Kreisen der Falange einer jener Vorstöße, zur Einführung der Pressefreiheit und für den Erlaß eines neuen Pressegesetzes unternommen worden. Das Ausland hatte die Initiative wohlwollend vermerkt. Eine Abordnung der englischen Labour Union hatte sich als Beobachter beim Arbeiterkongreß angemeldet. Der Moment war günstig, die staatlichen Zensurbehörden schienen desorientiert, und so kam es, daß eine Zeitung geradezu revolutionären Charakters das Licht der Oeffentlichkeit erblickte, „La Voz Social“, ausgezeichnet redigiert und in ihrer ersten Nummer (die leider auch die letzte war) offensichtlich seit langem von besten und bekanntesten Publizisten vorbereitet. Unter anderen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Artikeln brachte sie eine Reportage aus Andalusien, „Die Straße der bitteren Oliven“. Zum erstenmal, seit Franco an der Macht war, erfuhren die Spanier der Mitte und des Nordens wieder einmal etwas vom Leben in ihrem viel besungenen Süden: Verlorene, verelendete Ortschaften, Armut, Verkommenheit, Zerfall, Arbeitslosigkeit, Abwanderung der Bevölkerung aus Dörfern und Städten, die keine Arbeitsmöglichkeiten boten — der Berichterstatter nannte zum Beispiel La Bobadilla bei Alcaudete, wo von 4G00 Einwohnern 1000 Männer abgewandert waren, und Escafluela, mit 4600 Einwohnern, unter denen nur noch ganze 25 arbeitsfähige Männer zurückgeblieben waren. Er berichtete von vierzehn-, fünfzehnjährigen Kindern mit dem Aussehen von Siebenjährigen, von Aerzten, die ihm erschütternde Zahlen über den Gesundheitszustand der Bevölkerung' gaben: 85% aller militärdienstpflichtigen jungen Leute dienstuntauglich; weit verbreitet sei die auf den Hunger zurückzuführende Ophthalmitis; man sprach ihm von Menschen, die in ihren Elendshütten resigniert den Tod erwartet hätten. Er erfuhr von Gemeindeschulzen und Alkalden, die zuweilen täglich den Weg zu den Behörden der Provinz- und Distriktshauptstädte unternehmen und gleich Bettlern um Hilfe und Arbeit für ihre Gemeinden bitten... um jedesmal wieder mit leeren Händen zurückzukehren, nach Stunden nutzlosen Wartens in den Vorzimmern machtloser Funktionäre. Das System der Latifundien und, in verschiedenen Gegenden, die Ausbreitung des Olivenanbaues als Monokultur wurden als Ursachen aller Uebel genannt. Die Großgrundbesitzer sind oft schon seit Generationen nicht mehr im Süden ansässig und haben ihr Kapital in den Industrien Asturiens, Biskayas oder Kataloniens angelegt. Ihr Grundbesitz interessiert sie nur insofern, als sie ihn sich, aus angeborenem Konservatismus, erhalten wollen, aber unter möglichst geringen Kosten. Der Olivenbau ist die Kultur, die am wenigsten Arbeit und Unkosten verursacht. So verbreitet er sich, verschlingt die Aecker, wo einst Weizen, Futtergetreide, Hülsenfrüchte, Zucker- und Futterrüben wuchsen. Der Wechselfruchtbau verlangt Arbeit, Kapital, Mühe, Landwirte. Die Großgrundbesitzer erwiesen sich oft nicht mehr als Landwirte, sondern als Raubbauern. Der Olivenanbau hat mit Landwirtschaft nichts zu tun, er ist eine Industrie, die nur noch wenige Hände braucht, wenn die Kulturen die ersten jähre überstanden haben.

„La Voz Social“ mit ihrer Reportage aus Andalusien wurde zu einem Skandal. Vielleicht hatte sie aber auch nur die Aufgabe zu erfüllen gehabt, den ausländischen Beobachtern beim Nationalen Arbeiterkongreß die Ueberzeugung zu geben, Spanien sei auf dem Wege der Liberalisierung seines Regierungssystems schon ein gutes Stück vorangekommen. Der Aufruhr der sich in ihrer Linientreue auf unlautere Art düpiert fühlenden Systemjournalisten war groß. Aber vielleicht war auch ihre Empörung über die „Inkonvenienz der öffentlichen Erörterung solcher Probleme“ nur bestellt, um das weitere Erscheinen der „Voz Social“ angesichts der Reaktion der „wahrhaften Patrioten“ zu unterbinden.

Kurz darauf unternahm allerdings der Staatschef seine erste große Inspektionsreise nach Andalusien, mitten in das Gebiet von Taeh, dessen Zustände die Reportage der „Voz Social“ in so erbarmungslos realistischen Pinselstrichen gezeichnet hatte. Nun bekam auch die Systempresse Gelegenheit, das Thema „Andalusien“ aufzugreifen. Sie tat es, indem sie die „väterliche Sorge“ des Caudillo gebührend würdigte und die von ihm persönlich an Ort und Stelle geprüften Reformpläne als schon so gut wie realisierte Lösungen pries.

Aber Andalusien, die Baetica der Römer, ist groß. So groß wie Oesterreich. Die Inangriffnahme von Reformen in drei oder vier Distrikten bedeutet deshalb noch nicht die Sanierung des ganzen Landes (Andalusien ist keine Provinz, sondern ein Land wie etwa Bayern mit mehreren „Regierungsbezirken“).

Zweifellos aber hat Francos Besuch in Andalusien — er war vom Arbeitsminister, dem Minister für Handel und Industrie und ihren Arbeitsstäben begleitet — einen frischen Wind gebracht. Mit einem Male kamen Unternehmen in Gang, wie die Trockenlegung ersoffener Bleibergwerke, die Anlage von Bewässerungssystemen, die Beschleunigung der Stauwerkbauten in den Provinzen Cördoba, Jaen und Badajoz, der Ausbau und Neubau landwirtschaftlicher Schulen, die Intensivierung des Institutes für Kolonisation, das freie Hand für weitere Landenteignungen und -aufteilungen erhielt, so daß inzwischen schon mehrere Neusiedlerdörfer eingeweiht werden konnten. Das „Instituto Nacional de Industria“ (INI) seinerseits übernahm eine Reihe schon bestehender und allein nicht mehr lebensfähiger Industrien, finanzierte neue und begann damit, die Industrialisierung Spaniens, die bis dahin vorwiegend auf den Norden und die Mitte beschränkt gewesen war, auch auf den Süden auszudehnen.

Erklärlich, daß die Sanierung eines so großen Gebietes in zwei Jahren nicht beendet sein kann. Als wirksamste Vorkämpfer der Reformen haben sich seit der Machtübernahme durch Franco die Kirchenfürsten erwiesen, besonders die Bischöfe von Malaga und Cördoba. Um den latenten Charakter der Probleme Südspaniens erneut vor der gesamten Nation zu demonstrieren, wurde nunmehr auf ihre Veranlassung hin die XIII. Soziale Woche Spaniens zwischen dem 13. und 19. April in Cördoba abgehalten. Unter den Themen befinden sieb Titel, die verraten, daß man durchaus fähig ist, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen: „Reichtum und Elend Andalusiens“, „Nahrung und Wohnung des andalusischen Landarbeiters“, „Frauenarbeit“, „Saisonarbeiterwesen“, „Kredit und Wucherunwesen in Andalusien“. Es war kein Zufall, daß am Tage nach der Eröffnung der „Semana Social“ in Cördoba General F r a n c o in Sevilla zu einer neuen, groß angelegten Inspektionsreise in alle Teile Andalusiens eintraf, bei der seit vierzehn Tagen die Besichtigungen von Bergwerken, Fabriken, Werkhallen, Bauplätzen und Schulen, die Einweihungen von neuen Industrien, Arbeiterwohnvierteln, Siedlerkolonien, Krankenhäusern, die Besprechungen mit Technikern, Unternehmern und Behörden nicht mehr abreißen. Während die Konferenzteilnehmer der „Sozialen Woche“ in Cördoba, Soziologen, Volkswirtschaftler, Geistliche, Lehrer, Publizisten, in ihrer Mehrzahl geharnischte Streiter der „Acciön Catölica Espaiiola“, vornehmlich eine kritische Haltung einnahmen, dient die Andalu-lienreise Francos vor der nationalen Oeffent-lichkeit ausschließlich dazu, das bisher Erreichte oder in Angriff Genommene propagandistisch groß auszuschlachten — was nicht sagen will, daß die organisatorischen und technischen Resultate der erneut demonstrierten Initiative der Regierung für die betroffenen Gebiete nicht von hohem Wert sind.

So bahnt sich hier, in einer uns etwas theatralisch und kompliziert anmutenden Form, wie sie nur in einem Staat vorkommen kann, in dem zwei nahezu gleichstarke, sich aber doch nicht bekämpfende autoritäre Kräfte keilartig ineinander und letzten Endes doch in die Tiefe wirken, die Erschließung eines Landesteiles an, der in seiner Entwicklung weit hinter den anderen Gebieten des Staates zurückgeblieben war. Die Konkurrenz zwischen Kirche und Staat in der Inanspruchnahme der geistigen Initiative, kann dabei dem Interessierten, Andalusien, nur zum Vor-, teil gereichen.

Als Nachsatz sei nur ein seltsames, wenn auch durchaus erklärliches Phänomen erwähnt, das uns beweist, wie kontraproduzierend die übertriebene Kontrolle der Presse in Spanien sich auswirkt, zum Schaden gerade desjenigen, der sie ausübt: Den breiten Massen des Volkes kommt es nicht zu Bewußtsein, daß da unten im unbekannten Süden ein wirklich großes Werk begonnen wurde. Ueber die Diskussionen der „Sozialen Woche“ in Cördoba hat die staatliche Zensur wie üblich in eifersüchtiger Engstirnigkeit nur vage Andeutungen in die Tagespresse durchgelassen. Die eingehenden detaillierten Protokolle der Tagung sind allerdings in Buchform herausgekommen und werden von den Organen der „Acciön Catolica“ in soziologischen Studienheften kommentiert. Aber das Buch über die „Soziale Woche“ ist dem Durchschnittsspanier, dem Volk also, das es angeht, in Anbetracht seines Preises von 125 Peseten unerschwinglich und in der gehobenen akademischen Behandlungsweise der Themen unverständlich. Aus den euphorischen Berichten über die Andalusienreise Francos kann man dagegen nur mit Mühe zwischen den sich an Aeußerlichkeiten, wie Banketten, Empfängen und für die Oeffent-lichkeit bestimmten Reden, sichtlich labenden Schilderungen der Sonderkorrespondenten das eigentlich Wesentliche herauslesen. Solche Berichte tut der Spanier als längst bis zum Ueberdruß genossene Propaganda ab. Schlechte Propaganda außerdem, die auch nicht besser wird, wenn der Korrespondent als heroisches Detail vermerkt, der Generalissimus sei in eine Pfütze getreten.

Bezeichnend ist, daß gerade während der „Sozialen Woche“ in Cördoba und der Andalusienreise Francos in Zeitungen Barcelonas und Bilbaos empörte Spießbürger die Abschiebung obdachlos in ihren Städten dahinvegetierender „Zigeuner“ forderten. „Zigeuner“ aber nennen die Nordspanier ihre unglücklichen Landsleute aus dem Süden, die, mittellos, auf der Suche nach Arbeit in den Norden kommen, sich samt ihren Kindern und einigem unglaublichem Hausratgerümpel unter Brücken oder in Wellblechhütten auf Feldrainen im Weichbild der Stadt niederlassen und sich als Peone in der Industrie zu verdingen versuchen. Keine Hilfsaktion wird für diese Leute gefordert, sondern in rettungslos autoritärer Mentalität negiert man diesen Unglücklichen die Freizügigkeit innerhalb des gemeinsamen Vaterlandes und verlangt, sie per Schub „wieder dahin zurück zubringen, woher sie gekommen sind“!'

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