Die strittige Not der Armen Buben

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An der Wagramer Straße im Norden Wiens bleibt kein Stein auf dem anderen. Linkerhand ziehen mächtige Kräne den neuen "Citygate Tower“ in den Himmel. Und rechterhand wird an einem neuen Schulcampus gebaut: Spätestens im Sommer 2015 sollen die Schülerinnen und Schüler des "Evangelischen Realgymnasiums Donaustadt“ samt Lehrkörper in ein modernes Schulgebäude übersiedeln. Bis dahin bleiben sie in ihren charmefreien Containern.

An ein Leben inmitten von Baustellen und Provisorien haben sich die Jugendlichen schon gewöhnt. Doch der Umbruch, mit dem sich die Buben der 3A-Klasse an diesem Dienstag Vormittag in einem Workshop befassen, ist ungleich stärkerer Tobak. Diesmal geht es um ihre eigene Identität, um bröckelnde Männerbilder - und darum, dass im Spiel der Geschlechter nichts mehr so zu sein scheint, wie es früher einmal war.

"Die Gesellschaft hat sich verändert - und die alten Rollen funktionieren nicht mehr“, sagt Emmanuel Danesch, Genderberater des Vereins "Poika“ und seit vier Monaten Vater einer Tochter, deren Betreuung er sich mit seiner Partnerin sorgsam teilt. In einem "gendersensiblen Bubenworkshop“ will der 37-Jährige gemeinsam mit einem Kollegen den Burschen deutlich machen, "dass Identitäten weniger biologische Unterschiede abbilden als soziale Zuschreibungen“, wie er sagt. Zugleich will er alternative Männerbilder präsentieren: Helden, die nicht zwingend Muskeln haben, Burschen, die nicht nur gewinnen müssen - und Väter, die wie er ganz gern bei ihrem Baby sind.

Frauen sind "klug“, Männer "cool“

Dass das heute kein Spaziergang wird, zeigt sich freilich schon zu Beginn. Auf die Frage, wie denn "Frauen so sind, diktieren ihm die Burschen beinah ausnahmslos Klischees: "sexy“, "geil“, "zickig“, "unverständlich“, "klüger“ - und "gut in der Schule“. Ganz anders die männlichen Attribute: "cool“, "sportlich“, "aggressiv“ - und in der Schule eher "schlecht“. Woran Letzteres liegen könnte? "Daran, dass Frauen mit beiden Gehirnhälften denken und Männer nur mit einer“, glaubt ein besonders schlaues Kerlchen. "Daran, dass Mädchen einfach bevorzugt werden“, mutmaßt ein anderer.

Ob dem wirklich so ist, wird zumal im deutschen Feuilleton seit Jahren heftig diskutiert - angeheizt etwa durch Bücher wie "Rettet unsere Söhne“. Der "institutionalisierte Feminismus“ habe dazu geführt, dass Buben heute vielfach diskriminiert würden, schrieb darin der streitbare Männerrechtsaktivist und "linke Maskulist“ Arne Hoffmann, der auch den Blog "Genderama“ betreibt. Werde diese Entwicklung nicht gestoppt, wachse eine Generation von männlichen Bildungsversagern heran.

Dass Buben im hiesigen Schulsystem deutlich schlechter abschneiden, zeigt schon ein Blick auf die Statistik: 64 Prozent der Sonderschüler sind männlich; auch bei den Klassenwiederholungen und frühen Schulabgängen haben Buben die Nase vorn. Am Ende, bei der Matura, stellen sie mit 41,9 Prozent klar die Minderheit. Auch im Sozialen sind kleine Männer längst die "Problembären“: Von den bis zu 2500 Verhaltensauffälligkeiten, die etwa jährlich den schulpsychologischen Beratungsstellen der Stadt Wien gemeldet werden, betreffen rund 60 Prozent Buben, bei den Bedrohungen sind es sogar 95 Prozent.

Alles klare Indizien für eine "Bubenkrise“ - oder gar eine strukturelle Benachteiligung der Buben durch ein feminisiertes Schulsystem? "Das kann ich gar nicht bestätigen“, entgegnet Philipp Leeb, langjähriger Sonder- und Volksschullehrer in Wien sowie als Obmann des Vereins "Poika“ und Erfinder der "gendersensiblen Bubenworkshops“ deklarierter "Profeminist“: Nicht die Buben würden heute benachteiligt, sondern jene Mädchen und Burschen, die aus ressourcenschwachen Familien kämen - vor allem solchen mit Migrationshintergrund. Statt einen aufgeregten "Opferdiskurs“ zu führen oder wie Arne Hoffmann zum "Kampf der Geschlechter“ zu blasen, brauche es mehr Dialog und einen weniger geschlechtsorientierten Blick auf das Individuum, so Leeb. Buben seien schließlich "kein Eintopf aus Fußball spielenden, raufenden, machtorientierten und triebgesteuerten Kreaturen“.

"Das klingt ja so, als ob man mit aller Gewalt den Geschlechterunterschied einebnen möchte“, kontert der Innsbrucker Erziehungswissenschafter Josef Christian Aigner, der seit Jahren zu Mann-Kind-Beziehungen in pädagogischen Kontexten forscht. "Hätten wir bei den Problemen der Mädchen im Schulsystem damals so herumdifferenziert, dann hätten wir bis heute keine Mädchenförderung.“ Dass Buben heute "en gros ins Schleudern geraten sind“, ist für ihn offensichtlich. Nicht nur die schlechteren Schulabschlüsse und die Erfahrungen von Kinder- und Jugendtherapeuten würden das belegen, sondern auch das Beispiel "Ritalin“: 90 Prozent dieser Pillen gegen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) werden heute Burschen verschrieben.

Dass die wachsenden Nöte kleiner Männer die Folge "absichtlicher Benachteiligungen“ wären, sei freilich ein "genderideologisches Missverständnis“ und von niemandem je behauptet worden, so Aigner. Die "Bubenkrise“ in Gesellschaft und Schule habe vielmehr zahlreiche Ursachen: So komme die herrschende "Schuldisziplinierungskultur“ mit ihrem Fokus auf Angepasstheit und Stillsitzen eher der traditionellen, weiblichen Sozialisation entgegen; Buben blieben mit ihrem Drang nach Körperlichkeit und Kräftemessen häufig auf der Strecke. Der 2011 verstorbene deutsche Pädagoge und Familientherapeut Wolfgang Bergmann hat das 2010 in der Welt so ausgedrückt: "Was ihnen Spaß macht, ist meistens verboten. Was sie besonders gut können, wird nirgends verlangt - im Kindergarten nicht und in der Schule auch nicht.“

Eine beliebte Variante, auf die neuen, wackeligen Männlichkeitskonstrukte zu reagieren, sei die Flucht in "besonders machistisches Gehabe“, weiß Erziehungswissenschafter Aigner. Das eklatante Fehlen männlicher Identifikationsfiguren komme noch dazu: Immer mehr Scheidungsväter verschwinden, und an den Volksschulen stellen männliche Lehrer gerade einmal acht Prozent. Im Elementarbereich sieht es noch düsterer aus. Treffen die Burschen auf ein solch rares Exemplar, entwickle sich meist eine "besondere Affinität“, so Aigner: "Bei einer Videostudie in zehn Kindergartengruppen hat sich auch gezeigt, dass Männer gerade mit wilden Jungs eher duldsamer umgehen, während die Frauen sie aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus eher ausgrenzen.“ Umso notwendiger seien mehr männliche Rolemodels - nicht zuletzt für die wichtigen Gespräche "von Mann zu Mann“.

Auch beim "gendersensiblen Bubenworkshop“ in Wien-Donaustadt setzt man auf die Kraft des vertrauten Männergesprächs. Mit Hilfe des Spiels "Sensis“ tauschen sich Emmanuel Danesch und die pubertierenden Jungs gerade darüber aus, wieviel Karriere ein glückliches Männerleben braucht - und wie es wäre, als Bursch einmal zu babysitten. Die wirklich schwierigen Fragen - "Wie lange ist ein durchschnittlicher Penis?“, "Kann Sperma ausgehen?“ oder "Warum stöhnen die Frauen in den Pornos immer so?“ - kommen freilich erst deutlich später zur Sprache. Dann, als die störende, fremde Frau im Rund die Schule längst verlassen hat.

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