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Die Stunde der Berufung

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Die Gesellschaft Jesu erschien in einer der dunkelsten Stunden, welche die katholische Kirche bis dahin erlebt hatte. Eine Sturmnacht war auch ihr beschieden zu ihrem Werden. Aber das ist nicht das ganze Mysterium. Es bestand eine überraschende Kongruenz zwischen dem Gebot jener Stunde und der Leistung des neuen Ordens, zwischen der qualvollen Frage jener Stunde und der Antwort, die in dem Erscheinen dieser Gesellschaft lag. Die Zeit war schwer, und ihre Forderungen schienen unerschwinglich. Nicht allein wegen der Reformation. Sie war nur eine Teilbewegung und ein Symptom, das den Uebergang kennzeichnete. Die Weltgeschichte überhaupt gelangte zu einer neuen Epoche. Der Rahmen der alten Welt war gesprengt, und die Menschheit betrat neue Schauplätze von ungeahnter Größe. Wie in einer neuen, größeren Völkerwanderung ergoß sich die abendländische Kultur gegen Ost und West und traf ferne Wunderländer und stille Ozeane. Die modernen Weltsysteme in der Politik, im Kolonialwesen, im Handel, im Wirtschaftsleben waren daran, emporzuwachsen. Ein neues Denken und Fühlen, ein ungeheures Kraftbewußtsein durchströmte die alte Kulturwelt Europas; die Pforten, an die der Renaissancemensch gepocht hatte, schienen sich zu öffnen und Einlaß zu gewähren zu einem Uebermenschtum, das der alten Zuchtmittel entwachsen war, das in den alten Formen von Staat und Kirche sich beengt und unfrei fühlte. Ueberdies erschienen neue, ungezählte Völkerscharen vor den Toren der Kirche, und das Gebot der Weltmission, das sie erhalten hatte, gewann jetzt eine neue, unerwartete Bedeutung und Dringlichkeit.

Das war die Stunde der Gesellschaft Jesu. Aus ihrer ganzen Art schon stand zu erwarten, daß sie in einem solchen Moment der katholischen Kirche namhafte und wesentliche Dienste werde leisten können. Sie stand in Widerspruch zur neuen Zeit und war ihr doch innerlich verwandt. In den Tagen, wo das Selbstbewußtsein der Individuen stürmisch erwachte, war sie eine Vertreterin der Autorität und der göttlichen Rechte; in einer Zeit der Auflehnung und Verachtung gegen die alte Kirche hat sie mit einem scharfen, bewußten, klingenden Akzent sich zu dieser Kirche bekannt; in einer Zeit, die anfing, von Menschengröße zu reden, hat sie das Wort vom Gottmenschen mit einer neuen Beredsamkeit verkündet; in einer Zeit, da die Christenheit in Nationen zerfiel, hat sie einen internationalen Bund gebildet und Brük-ken geschlagen von einem Kontinent zum andern, von Rasse zu Rasse. Das war ihr Widerspruch, und damit hat sie mahnend, warnend und bewahrend den Taumelschritt des neuen Menschen gemäßigt und geregelt.

Aber die Gesellschaft Jesu war auch verwandt mit der neuen Zeit: ihr Denken und Wollen war so weit wie die neuentdeckten Welten. Ihr Wesen war schmiegsam und doch zäh und. beständig, ihr Wirken war der Zukunft zugewandt, hinwegschreitend über altgewohnte Formeln. Ihre Häuser scheuten die Weiträumigkeit nicht, und ihre Kirchen ließen das Licht ein. Ihre Priester kamen nicht so sehr als Richter denn als Freunde und Helfer zum modernen Menschen. Ihre Aszese war heroisch und doch nicht abstoßend, ihre Theologie war gläubig und doch rational, ihre Moral christlich und doch auch vernünftig und handlich. Ihre Missionäre waren bereit zu jeder Arbeit und zum Sterben und verlangten doch keinen Lohn, ihre Gelehrten sollten bescheiden sein und ihre klügsten und fähigsten Köpfe dienstwillig und treu, ohne dafür herrschen zu wollen. Das war ihre Verwandtschaft mit der neuen Zeit, und damit hat sie diese Zeit gelockt und überredet. Sie war dieser Zeit ein Anwalt und eine Freundin voll Verständnis und Güte.

Darum möchten wir zurückschauend meinen, sie sei eigens für diese Zeit gegründet, sie sei ihr anprobiert und nach den Zeitforderungen abgemessen worden. Wer war es also, der in einer so schicksalschweren Stunde der bedrängten Kirche ein so brauchbares Waffenzeug in die Hand drückte?

Der menschlichen Berechnung fällt ohne Zweifel der geringste Anteil zu. Was wußte der Ritter, der aus seiner Burg in den abgelegenen baskischen Bergen ausgezogen war und seüie Tage und Nächte in schweren Seelenkämpfen und erschütternden Betrachtungen hinbrachte, von den Kindern verspottet und von den Frauen bemitleidet, was wußte er von den Wandlungen und Nöten der Zeit? Lind wie langsam hat er seine Aufgabe begriffen! Ignatius ist mehrere Male wider seinen Willen durch äußere Gewalt aus der Bahn geworfen worden, die er eingeschlagen hatte; wiederholt stand er an einem

Wendepunkt seines Lebens, und gerade an diesen Punkten war es, als nähme eine fremde Macht ihn bei der Hand und führte ihn. Denn er selbst, der eine Großmacht der Neuzeit in seiner Seele trug, hätte für diese Großmacht keinen Weg gefunden.

Und als er mit seinen Freunden am 15. August 1534 in einer kleinen, unterirdischen Kapelle auf dem Montmartre einen frommen Verein stiftete, da hatten diese jungen hochfliegenden Herzen noch keine konkreten Ziele als etwa die Arbeit in Palästina oder die Werke, die ihnen der römische Papst auftragen würde; und auch diese Pläne waren nur hypothetisch und gänzlich unbestimmt; sie hatten keine deutliche Vorstellung, wie ihre wirklichen Aufgaben einst aussehen sollten. In ihrer Seele lebte und glühte zwar der Feuerbrand des Reiches Christi, der Geist des Jesuitenordens war bereits in Ihnen wirksam, aber sie ahnten keineswegs die ganze Tragweite und die Zukunft dieses Geistes. Die Geschichte des Ordens war von den ersten Jesuiten nicht vorausberechnet. Sie ergab sich von selbst. Sie brachte erst ein allmähliches und unwillkürliches Bewußtwerden jenes Geistes, der sich an konkreten Aufgaben und Verhältnissen zur eigenen Klarheit durchrang.

Der junge Orden griff die Probleme, die sich ihm boten, und wenn sie wechselten, änderte auch er seine Stellung, aber nicht sein Programm, nicht sein Ideal, nicht die Idee, die ihn immerfort neu aus sich heraus erzeugte. Der Jesuitenorden war am Ende des 16. Jahrhunderts noch derselbe, der er im Jahre 1540 gewesen.

Seine auffallende Kongruenz mit den Zeitumständen und Zeitforderungen ist also nicht eine nachträgliche, nicht ein Resultat tatsächlicher, rein passiver Anpassung; sie ist vielmehr in seinem Wesen grundgelegt. Die Brauchbarkeit des Ordens war bereits vorhanden am 15. August 1534, als es noch sechs Jahre anstehen sollte, bis er formell gegründet wurde. Diese Brauchbarkeit lag in der Tatsache, daß gerade damals empfängliche Menschen gefunden wurden von einer Idee, die fähig war, ihre Zeit zu meistern und zugleich zu beschenken. Es bleibt also die Frage, wer hat gerade im entscheidenden Augenblick diese ganz seltene und eigenartige Individualität Inigos von Loyola gerufen und ihre innere und äußere Entwicklung so seltsam zielbewußt verkettet und gestaltet?

Selbst wenn alle Voraussetzungen und Entwicklungsursachen dieses Mannes auf dem empirisch-historischen Boden liegen, in seiner christlichen und spanischen Umwelt und Vorwelt, und da mit fortschreitender Erkenntnis aufgedeckt werden könnten, selbst wenn wir das unendlich verschlungene Geflecht der Ursachen durchschauen könnten, die in einem gegebenen Zeitpunkt zu einer gegebenen Persönlichkeit führen, selbst dann bliebe immer noch die geheimnisvolle Theologie der Berufungsstunde zu erklären: die Wirklichkeit enthält ihre abgerundete Denkbarkeit und Begreiflichkeit erst in dem Augenblick, da wir alles Geschehen als eine geplante Entwicklung, als das vorausberechnete Werk eines umfassenden schöpferischen Genies erkennen. Dieser große göttliche Rechner hat auch der Gesellschaft Jesu ihre Stunde und ihre Zeitenfiille gesetzt.

Aber vielleicht können wir, ohne den Boden historischer Betrachtung zu verlassen, noch den Ausblick auf eine höhere Möglichkeit wagen. Ignatius und seine Jünger hatten das Vertrauen, daß Gott mit ihnen sei und daß ihr Werk von ihm stamme und nicht ein Blendwerk und eine

Verführung durch gottfeindliche Mächte sei. Nun hatte Ignatius wohl auch Gesichte geschaut, aber den Glauben an sich und sein Werk haben sie ihm nicht erst gegeben, sie waren ihm nicht die treibende Urkxaft, auch sie unterstanden der kritischen Prüfung des nüchternen Verstandes.

Das Vertrauen Inigos auf den göttlichen Charakter und die Zukunft seiner Tat war überhaupt nicht von ekstatischer, visionärer Art. Er rechnete selbst mit einer möglichen Zertrümmerung, mit einem völligen Mißerfolg seines Lebenswerkes. Und wie der Stifter seinen Weg nicht angetreten hat unter der Wucht eines prophetischen Enthusiasmus, so ist auch der Orden zum Eroberergang in die Welt nicht getrieben worden durch Gesichte und Wunder. Die allzu große Neigung zum Seltsamen, zum Wunderbaren, zu Privatoffenbarungen, die sich auch in der Geschichte des Jesuitenordens zuweilen findet, ist nicht charakteristisch für den Orden, nicht ein Erbstück seines spanischen Ursprungs, wie man wohl manchmal sagen hört. Er ist nur ein Rest jener naiven Vorliebe für das Seltsame und Ungewöhnliche, die allgemein menschlich ist und trotz der streng vernünftigen, kritischen Art des Stifters auch in der Gesellschaft Jesu zuweilen wunderliche Blüten trieb. Doch war diese Geistesrichtung immer von geringerem Einfluß; sie hatte höchstens private oder rein zeitgeschichtliche Bedeutung, wie etwa der Hexenwahn. Die tiefsten lebendigen Kräfte sind in der Gesellschaft Jesu die gleichen, die auch in jedem anderen christlichgläubigen Bewußtsein wirken: Glaube, Hoffnung und Liebe.

Doch damit ist, auch vom historischen Standpunkt, die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß wir in den Ursachenverband, aus dem der Jesuitenorden hervorgegangen ist, eine Macht mit aufnehmen müssen, die über-gescbichtlich und überweltlich ist. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß dieser Orden nicht restlos das Werk von rein geschöpflichen Kräften und Bedingungen ist, die nach ihren inneren, gottgegebenen Entwicklungsgesetzen im 16. Jahrhundert diese eigenartige Erscheinung hervortrieben. Es gibt ja in der Tat in der Entwicklungskette gewisse Punkte, wo ein ganz Neues anfängt, wo eine Kausalität hinreicht, die selbst über dem Strom des Werdens steht, die nicht eingeschlossen ist in die Abfolge kosmischer Ursachen und Wirkungen. Diese weltüberlegene Macht läßt ein neues Sein aufquellen, das von da an den großen Lebensstrom erweitert und vertieft und mit keinen Mitteln aus der vorhergehenden Erfahrung errechnet und abgeleitet werden kann. Ueber der sichtbaren Geschichte schwebt tatsächlich eine geistige göttliche Produktiv- und Direktivkraft.

Solche Anfangspunkte eines Neuen waren das erste Auftreten des organischen oder wenigstens des physischen Lebens, das Aufleuchten des menschlichen Geisteslebens und vor allem die göttliche Mitteilung in der christlichen Offenbarung. Auch in der christlichen Geschichte haben sich diese Neuschöpfungen wiederholt in den großen Stunden, da das Wehen eines neuen Geistes durch die. Kirche oder durch eine einzelne Menschenseele ging, in den großen Pfingstfesten der Menschheit. Solche neue schöpferische Ursprünge waren wohl auch die großen Ordensbewegungen, die Reformen von Cluny und Citeaux, die franziskanische Bewegung auf der Höhe des Mittelalters und, vielleicht auch, an der Schwelle zur neuen Zeit, die Erweckimg der Gesellschaft Jesu.

Aus „Zur Psychologie des Jesuitenordens“, Verlag Herder, Freiburg

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