6566708-1949_52_16.jpg
Digital In Arbeit

Die tote Gemeinde

Werbung
Werbung
Werbung

„Was wollt ihr“, begann der Pfarrer von Fenouille die Totenpredigt mit seiner traurigen Stimme, „was wollt ihr heute morgen hier in der Kirche? Was wollt ihr von euerm Priester? Gebete für diesen Toten? Aber ohne euch vermag ich nichts. Ich vermag nichts ohne meine Gemeinde, und ich habe keine Gemeinde. Es gibt keine Gemeinde mehr, meine Brüder... ein Dorf und ein Pfarrer, das ist keine Gemeinde. Gewiß, ich möchte euch dienen, ich liebe euch, ich liebe euch, so wie ihr seid, ich liebe euer Elend; manchmal kommt es mir vor, als ob ich eure Sünden liebe, eure Sünden, die ich so gut kenne, eure armen freudlosen Sünden. Und es ist wirklich so, daß ich mit allen meinen Kräften um euch leide und für euch bete. Viele, hier und anderswo, werden vielleicht sagen, daß sei genug, und daß ich bitten und leiden soll, solange ihr mir eure Seelen vorenthaltet. Das ist es, was mich einst meine Lehrer im Seminar gelehrt haben. Mein Gott, vielleicht denke ich wie sie. Aber dieser Gedanke reicht nicht mehr bis in mein Innerstes, damit ist es aus. Was bin ich denn noch unter euch? Ein Herz, das außerhalb des Leibes schlägt, habt ihr so etwas schon gesehen, ihr? Nun wohl, meine Freunde, dies Herz bin ich. Ein Herz, wie ihr wißt, ist wie eine Pumpe, die das Blut ansaugt. Ich schlage solange ich schlagen kann, aber das Blut kommt nicht mehr, das Herz saugt nichts ein und stößt nichts aus als Wind.“

Einem Betrunkenen gleich wiegte er seinen mageren Kopf von rechts nach links. Lärm grollte von den hinteren Bänken auf, schwoll langsam an, bis er von neuem die Stirn erhoben hatte. Alles schwieg.

„Gewiß habt ihr solche Worte von einem Pfarrer nicht erwartet. Wirklich, sie sind hart und wiegen schwer. Eben darum aber kann ich sie nicht mehr zurückhalten. Mögen sie niederfallen auf eure Häupter, meine Freunde, und wenn ich etwas Böses getan habe, dann möge Gott mich mit euch zusammen strafen! Bös oder gut, andere werden darüber urteilen ... denen ich...

denen ich ohne Zögern gehorchen will, aber nicht ehe ... ehe ich ...“

Er senkte den Kopf, und sogleich schwoll das dumpfe Geräusch an, die von Erwartung erstarrten Gesichter machten alle die gleiche krampfhafte Bewegung; und abermals schien es ihm, als winde sich da ein großer, völlig nackter, völlig lebendiger Leib vor seinen Augen, bleifarbene Flanken.

„Ich habe mich sehr von euch gefürchtet, meine Freunde, ich muß es bekennen. Ja, es ist so, bevor ich euch kannte, hatte ich Angst vor euch. Man muß es wissen, muß es verstehen ... Seht ihr, die Buben, die in die Schule gehn, bereiten sich auf eine bestimmte Lebenslaufbahn, auf einen Beruf vor, haben einen ganz genau vorbestimmten und geregelten Plan, erst einen Weg, den sie gehn, und dann einen Stand, eine Familie, berechtigte Wünsche, Ehrgeiz, kurz und gut, sie leben in der Welt — ich möchte freilich nicht, daß mein Vergleich euch kränkt —, sie leben in der Welt wie der Wurm im Apfel. Wir Priester aber, meine Freunde, wir haben keinen Ort, und wir gehören keinem zu. Wir haben unsere Familie, unsere Heime, unsere Dörfer verlassen, und wenn wir mit unseren Heften, unseren Büchern, unserem Griechisch und Latein fertig sind, dann schickt man uns unter euch mit der einzigen Weisung, irgendwie damit fertig zu werden, wie man so sagt, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Und leider steht es so, daß man uns gar keine andere Weisung geben könnte. Denkt einmal gut nach, meine Freunde. Wenn ihr getan habt, was getan werden muß, gepflügt, gesät, geeggt, eure Tiere besorgt, dann legt ihr euch ruhig schlafen, euer Arbeitstag ist beendet. Auch wir haben unsere tägliche Aufgabe, aber wenn sie beendet ist, dann bleibt uns noch das Wichtigste zu tun: eure Seelen zu gewinnen! Man ist jung, fühlt sich voll Eifer, voll gutem Willen und Kraft... ja, und warum gebrauch ich eigentlich nicht das richtige Wort, das für euch keinen Sinn mehr hat: man fühlt Liebe. Ja, meine Freunde, eine Liebe,

von der ihr, wie ich leider fürchten muß, sogar die Vorstellung verloren habt, eine Liebe, die Tag und Nacht wacht, die schmerzt. Und an dieser Liebe ist, wie es nicht anders sein kann, ein Teil Gottes und ein Teil des Menschen... des einsamen Menschen, des immer einsamen Mannes, der unter euch kommt und geht. Denn ihr könnt mir von euern Freuden und von euern Schmerzen sprechen und von dem, woran sich leider eure Freuden und eure Schmerzen messen: von euerm Geld, diesem Geld, das nun einmal das harte, erbarmungslose Gesetz eures Lebens ist. Aber ich, wovon soll ich euch reden? Ja, ja, ich weiß natürlich genau, daß das nicht die Dinge sind, die man hier, an dieser Stelle gemeinhin sagt. Aber darum hört mir nur um so aufmerksamer zu: ihr werdet diese Dinge nicht zweimal hören. Nie habe ich euch in so großer Zahl versammelt gesehen, und ohne Zweifel werde ich euch nie mehr so sehn: meine ganze arme Gemeinde vor mir versammelt, von Angesicht zu Angesicht... Hört, wahrhaftig, als ich mich umwandte, um euch die Hilfe und die Kraft des Herrn zu wünschen, das Dominus vobiscum aussprach, ist mir der Gedanke gekommen — nein! so einfach kann ich es nicht sagen —, da ist wie der Blitz der Gedanke in mich eingedrungen, daß es unsere Gemeinde gar nicht mehr gibt, daß gar keine Gemeinde mehr da ist. O natürlich, der Name der Gemeinde ist immer noch in die Verzeichnisse der erzbischöflichen Kanzlei eingetragen, und dennoch gibt es keine Gemeinde mehr, es ist aus damit, und ihr seid frei. Ihr seid frei, meine Freunde; ihr seid hundertmal freier als die Wilden oder die Heiden, vollkommen frei, frei wie die Tiere. Und gewiß nicht erst seit gestern, das kommt von weit her, denn es dauert lange, bis eine Gemeinde umgebracht ist! Diese hat bis zum Ende durchgehalten. Aber jetzt ist sie tot. Ihr werdet mir antworten: ob sie nun tot ist oder nicht, euer Korn wird darum nicht weniger reifen, und eure Mostäpfel werden darum nicht von den Bäumen fallen. Stimmt. Denn die Bedrohung kommt nicht von diesen unschuldigen Dingen. Was euch bedroht, ist in euch, in eurer Brust, meine Freunde, steckt in eurer Haut. Mein Gott, wie soll ich es euch sagen, damit ihr es versteht? Daß es unter euch Sünder gibt, sehr große Sünder, das hat keine besonderen Folgen, denn jede Gemeinde hat ihre Sünder. Solange aber die Gemeinde Zusammenhalt, bilden die Sünder und die andern einen einzigen Leib, den das Mitleid, ja vielleicht die Gnade Gottes durchrinnt wie der Saft einen Baum. Denn ihr könnt sagen, was ihr wollt, meine Freunde, der Mensch ist nicht geschaffen, damit er allein lebe oder gepaart wie die Tiger und die Schlangen. Leider aber gibt es auch nicht den kleinsten menschlichen Zusammenschluß ohne sehr viel Schmutz. Und was soll man von den Städten sagen? Erst wenn die Nacht gekommen ist, erwacht die Stad, atmet durch alle Poren den Schmutz des beendeten Tages ein, pumpt ihn in ihre Gräben, ihre Gossen hinein, bis er nichts anders mehr ist als ein einziger Schlamm, der dann in endlosen unterirdischen Flüssen langsam ins Meer rollt.

Leider, meine Freunde, wird auch das übernatürliche Leben, das Leben der Seelen, der armen Seelen nicht gelebt ohne sehr viel Kehricht... Da ist das Laster, da ist die Sünde. Wenn Gott unsern Sinnen die unsichtbare Welt erschlösse, wer von uns stürbe nicht auf der Stelle — ja, ich sage: stürbe beim Anblick, schon bloß beim Anblick der abscheulichen, der schändlichen Wucherung des Bösen?

Es gelingt uns kaum, allen zusammen und mit gemeinsamen Kräften, meine Freunde, dieses Übels Herr zu werden. Gott hat es erlaubt, Darum hat er seine Kirche gegründet. Und die Gemeinde ist eine kleine Kirche in der großen. Es gibt keine Gemeinde ohne die große Kirche. Aber wenn die letzte Gemeinde umgekommen wäre, um einmal das Unmögliche anzunehmen, dann gäbe es keine Kirche mehr, weder eine große, noch eine kleine, nicht mehr — Satan hätte sein Volk heimgesucht.

Es gibt noch viele Gemeinden in der Welt. Aber diese hier ist tot. Ob sie wohl schon lange gestorben ist? Ich wollte nicht daran glauben. Solange ich da sein werde, sagte ich mir... Aber leider macht ein Mann allein keine Gemeinde aus. Ich bin nichts ohne euch — ich — ohne meine Gemeinde. Ihr fühlt euch alle ganz starr, ganz kalt. Man redet immer vom Feuer der Hölle, die Hölle ist Kälte! Gestern noch waren die Nächte nicht lang genug, um eure Bosheit zu erschöpfen und ihr erhobt euch alle Morgen noch mit dem Gift in der Brust. Und da hat sich sogar der T

t von euch zurückgezogen. Ach wie einsam sind wir doch im Bösen, meine Brüder! Die armen Menschen träumen von Jahrhundert zu Jahrhundert davon, diese Einsamkeit zu durchbrechen. Vergebliche Mühe! Dem Teufel, der so vieles vermag, wird es nie gelingen, seine Kirche zu gründen; eine Kirche, die die Verdienste der Hölle zu einem Gemeingut macht, eine Kirche, die die Sünde zum Gemeingut macht. Von jetzt bis zum Ende aller Tage wird der Sünder allein sündigen müssen,

n — wir werden so allein sündigen, wie man allein stirbt. Der Teufel nämlich, seht ihr, ist ein Freund, der nie bis zum Ende aushält...“

Die Stimme des Pfarrers wurde langsam schwächer und mit ihr das dumpfe Geräusch, das sie begleitete. Endlich verstummte sie. Das war alles.

(Aus dem gleichnamigen Roman, mit Bewilligung der Hegner-Biidierei im Summa-Verlag,

Olten.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung