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Die Tragödie einer Idee

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Wie bei unseren Nachbarn die „Ruhe und Ordnung“ erzwungen und —>' mit Moskaus Faust im Nacken — die letzten Reste der Freiheit aus dem Prager Frühling 1968 liquidiert werden, berührt die Weltöffentlichkeit nur noch am Rande. Von der Faszination, die von dem Prager Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ ausgegangen war, ist nur noch wenig übrig. Die Papierflut jener zahlreichen Publikationen, die das „dritte Modell“ zwischen Spätkapitalismus und Polizeikommunismus analysieren, die turbulenten Ereignisse der Invasion durch eine Fülle von Informationen und Augenzeugenberichte festhalten wollten, ist abgeflaut. Was heute erscheint, versucht eher den Ursachen des Zusammenbruchs der sozialistischen Reformation auf den Grund zu kommen oder erweist sich nützlich als objektive Gedächtnisstütze für später.

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Wie bei unseren Nachbarn die „Ruhe und Ordnung“ erzwungen und —>' mit Moskaus Faust im Nacken — die letzten Reste der Freiheit aus dem Prager Frühling 1968 liquidiert werden, berührt die Weltöffentlichkeit nur noch am Rande. Von der Faszination, die von dem Prager Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ ausgegangen war, ist nur noch wenig übrig. Die Papierflut jener zahlreichen Publikationen, die das „dritte Modell“ zwischen Spätkapitalismus und Polizeikommunismus analysieren, die turbulenten Ereignisse der Invasion durch eine Fülle von Informationen und Augenzeugenberichte festhalten wollten, ist abgeflaut. Was heute erscheint, versucht eher den Ursachen des Zusammenbruchs der sozialistischen Reformation auf den Grund zu kommen oder erweist sich nützlich als objektive Gedächtnisstütze für später.

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In einem Nachruf auf die endgültig verbotene Zeltschrift des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes (die mit einer Auflage bis zu 300.000 und unter wechselndem Namen — Literämi Noviny, Liiterärni Listy, Listy — einen entscheidenden intellektuellen Anteffl an der Reformbe-wegung hatte) fragte Chefredakteur Ludvik Vesely: „Waren wir zu schwach? Die allgemeine Meinung wird diese Frage bejahen. Ich aber frage, ob wir nicht zu stark waren und uns Schwäche bezwungen hat.“ Nicht, daß Sich der 230-Millionen-Staat der Sowjetunion vor den 14 Millionen im Herzen Europas gefürchtet hätte; aber er fühlte sich durch die tschechoslowakischen Reformer scharf herausgefordert. Die Prager Parole, der Sozialismus müsse erst noch demokratisiert werden, wurde als böswilliger Angriff gewertet, war doch damit angedeutet, daß der Sozialismus sowjetischer Prägung noch keineswegs demokratisch sei. Der gesellschaftlich-politischen Ordnung der Sowjetunion,' die als der Gipfel der Vollkommenheit zu gelten hat, im Namen eines besseren Kommunismus ein konkurrierendes Modell gegenüberstellen zu wollen, bedeutete eine eminente Gefahr für den 'sowjetischen Fübruhesansprüch', ■ für die Geschlossenheit der so?ii-stischien Gemeinschaft und den Weltkommunismus. „Die sowjetische Intelligenz hatte im tschechoslowakischen Experiment berechtigterweise eine mögliche Alternative für ihre eigene Gesellschaft gesehen.“

Dieser Satz stammt von einem der agressivsten Vertreter des Revisionismus im Bereich der Philosophie und Ideologie aus der entscheidenden Generation der Vierzigjährigen, dem Prager Philosophen Ivan Svitäk. Seit Beginn der Enfetelinisierung hatte er (der „tschechische Kola-kowski“) keine Gelegenheit versäumt, sein Vertrauen in die „kritische Vernunft“ zu erproben und „die Disziplin der Wahrheit, die härteste aller Disziplinen, und der jeder Institution übergeordnet“ zu üben. Im März 1968 forderte er in einem Vortrag über die aktuellen Aufgaben der Intelligenz „Demokratie und nicht Demokratisierung“, wobei er feststellte: „Die Forderung nach der führenden Rolle der Kommunistischen Partei hat keine theoretische Stütze in den Werken von Karl Marx. Sie stammt von Lenin, der von der Tatsache ausgehen mußte, daß die russische Arbeiterklasse unter dem zaristischen Despotismus nur eine kleine Insel inmitten eines Meeres von Analphabeten darstellte. Die führende Rolle der Partei wurde dann unter Stalin institutionalisiert. Für demokratische Länder ist dieses Konzept ungeeignet, weil es hier keine Analphabeten gibt...“ Das steht in dem Sammelband „Verbotene Horizonte“, der Vorträge, Aufsätze, Kommentare und Aufrufe enthält, mit denen sich Svitäk in seiner leidenschaftlichen, kompromißlosen Art vor allem an die Studenten wandte. Didaktisch geradezu raffiniert eingängig stehen als Auftakt die „Zehn Gebote für einen jungen Intellektuellen“ („1. Kollaboriere nicht mit Lumpen. Wenn du es dennoch tust, wirst auch du unweigerlich einer von ihnen. Engagiere dich gegen die Lumpen.“) und am Schluß des Bandes die „Zehn Gebote für einen erwachsenen Intellektuellen“ („Die Freiheit des Denkens schließt das Recht der Nichtübereinstimmung mit der Machtelite ein.“) Dazwischen

17 Beiträge, deren Einsichten in ihrer Gedankenschärfe und Diktion Svitäks Buch zu einem dar wichtigsten Dokumente des Prager Reformismus werden lassen.

In dem Vortrag „Genie und Apparat“ wendet sich Svitäk vehement gegen den „fetiscbisierten Götzen“, „die ohnmächtige Attrappe der Maiumzüge“, zu dem die Apparatschiks den „überzeugten Europäer“ Marx, „der auf der antik-christlichen und humanistisch-aufklärerischen Grundlage der europäischen Kultur“ stand, gemacht haben. Der ursprüngliche Sinn seines Werkes — der reale Humanismus — sei „völlig byzantinisiert und asiatisiert“ worden. — In „Konflikte und Lösungen“ lautet ein bemerkenswertes Eingeständnis: „Wir brauchen uns nicht dafür zu schämen, daß wir nur ein halb so großes Volkseinkommen haben wie die westlichen Länder, aber wir müssen uns dafür schämen, daß wir weniger als die Hälfte von deren bürgerlichen Freiheiten haben.“ Neben der Forderung nach freien geheimen Wahlen, plädierte Svitäk für die Bildung von mindestens zwei neuen Oppositionsparteien auf .christlicher und sozial-demökratfeher G!U,ndlage\s<wie. für die Zusammenfassung der ,sechs, Millionen Parteilosen zu selbständigen mit den anderen Parteien gleichberechtigten Organisationen. In der sich immer wieder erneuernden Auseinandersetzung zwischen „Illusion und Realität“ umriß er den Weg seines Landes: „Auf die Frage: woher, wohin, und mit wem? kann man kurz antworten: von Asien nach Europa und allein.“

Es ist aufschlußreich, nach Svitäks scharfsinnigen Überlegungen „I>ie kontrollierte Revolution“ von Josef Maxa zu lesen. Nicht, daß diese „Anatomie des Prager Frühlings“, deren Verfasser in der Reformbewegung an entscheidender Stelle mitgewirkt haben soll und der sich darum scheu hinter einem Pseudonym verbirgt, viele neue Einzelheiten brächte, Sie offenbart eher eine konservative Einstellung, nennt zum Beispiel Svitäk „verantwortungslos“, weil dieser in einem offenen Brief an den Generalstaatsanwalt eine Untersuchung des noch immer ungeklärten „Selbstmordes“ Jan Masaryks angeregt hatte. Aber Maxas Buch weist auf die Schwächen des Prager Experiments und deren Initiatoren hin. Sicherlich stand hinter der KPC von Svoboda, Dubcek, Smrkovsfcy die I überwältigende Mehrheit des Volkes,, auch Nichtkommunisten, auch Kon- j servative. Die Chefredakteurin der j Hamburger „Zeit“, Gräfin Dönhoff, führt in ihrem Vorwort zu Maxas Bericht an, daß sich im Juli 1968 ] 76 Prozent mit der Regierung einver- I standen erklärt und 89 Prozent sich für die Beibehaltung des Sozialismus und gegen eine Rückkehr zum Kapitalismus ausgesprochen haben. Aber die erst ungestüm vorwärts-&#9632;{ drängenden Reformer unterschätzten den Zwiespalt zwischen hochfliegenden Plänen und den möglichen Folgen. Svitäk konnte zu Frühjahrsbeginn in einem Universitätsvortrag noch erklären, die einzige eines Studenten und Intellektuellen würdige Politik sei die: mit dem Kopf durch die Wand. Neue, noch nie erprobte Methoden waren anzuwenden, Mechanismen der politischen Macht zu schaffen, für die es keine Analogien gab. Doch das völlig ungewohnte Maß an Freiheit verführte zu unrealistischen und radikalen

Forderungen. Plötzliche Angst, nicht Herr der Lage zu bleiben, ließ die Politiker unsicher werden. Selbst ein Smrkovsky, sonst entschiedener Wortführer der Reform, nannte das inzwischen berühmtgewordene Manifest der „Zweitausend Worte“, in dem Ludvik Vaculik ausgesprochen hatte, was Tausende dachten, eine „Tragödie“. Er warf dem Verfasser des Manifeste und seinen Anhängern „Romantizismus“ vor. Das Parteipräsidium mit dem oft unschlüssigen, y allzu vertrauensseligen Dubcek sprach von einem „gefährlichen Weg“, von Anarchie und der Gefahr der Zersetzung der Gesellschaft. Der zunehmende Druck der Sowjets und der unselige Versuch, einen Kompromiß zwischen den Reformern und den hemmenden, sabotierenden Konservativen zustandeeubringen, steigerte die Unentschlossenheit der Männer an der Spitze. Das „dritte Modell“ erwies sich als unzureichend konstruiert, und was oiiirgil6 als Anfonc/setappe von Veränderunr“v“

der gesellschaftlichen Struktur in allen Bereichen hätte gelten können, verfiel allseitigem Unverständnis: im Osten nannte man es schlankweg „Konterrevolution“, im Westen pries man es zur „Gesellschafts- und Kulturrevolution“ hoch, mit den schmückenden Beiwörtern „stille“, „gelenkte“, „unblutige“, „geistige“. In Wahrheit zeigte sich, wie Svitäk anklagte die ungeheuerliche Gleichgültigkeit des Westens. Die offensichtliche Liquidierung eines unabhängigen europäischen Staates rief nicht einmal so viel Aktionen hervor wie Biiafra. Der Generalsekretär der UNO lehnte es im internationalen Jahr der Menschenrechte ab, nach Prag zu kommen und wenigstens Zeuge des Überfalls zu werden. Und während vergeblich an das Gewissen der Welt appelliert wurde, stellte das bedeutendste Blatt (New York Times vom 10. Sept. 1968) im Lande der Freiheit fest: „Der Westen ist beeindruckt von der Aktion der Sowjetarmee!“ Julius Mader

VERBOTENE HORIZONTE von Ivan Svitäk, Verlag Rombach & Co., Freiburg i. B., 194 Seiten, DM 13—. DIE KONTROLLIERTE REVOLUTION von Josef Maxa. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, 255 Seiten, S 89.—. MEIN KOMMANDEUR, GENERAL SVOBODA von Teodor Fis. Europa-Verlags-AG., Wien, 160 Seiten, S 64.—.

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