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Die Trancn

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Zu einer Abendstunde in diesen Tagen unserer etwas fragwürdigen Zeit geschah es, daß einer der erhabensten Geister, die die Erde jemals getragen, aus himmlischen Gefilden wieder zu ihr zurückkehren durfte, wenn auch nur auf eine kurze Stunde gütigen Heimfindens. Es konnte ihn niemand gewahren, denn er war ja dem menschlichen Auge nicht sichtbar, wohl aber wurde seine Wesenheit wie ein göttlicher Hauch verspürt von allem, was ihm einst in seinen armen Erdentagen das Schöne, das Große, das ihn zu seinen unsterblichen Werken im wesentlichsten Begeisternde gewesen war. Wo immer sein Atem vorüberwehte, erhob die Natur sich zu höherer Offenbarung, als sei sie von ihm gesegnet. In den Bäumen begann es zu lauschen, die Blumen glühten noch inniger auf, und selbst im Flug der Wolken, die das abendliche Land überschatteten, schien es wie eine erhabene Botschaft großer Dinge vorauszueilen. In einer dürftigen Mansarde aber, in einer Vorstadt zu Wien, geschah es zur gleichen Zeit, daß einem alten Musikus, der weltentrückt vor seinem Klavier saß und eine Sonate Beethovens spielte, das Haupt plötzlich auf die Tasten sank und er nicht weiterspielen konnte .

Ja, es war der Geist Ludwig van Beethovens, der auf ein Stündlein wieder zur alten getreuen Stätte seines Erdenwallens zurückgekehrt war. Jahrzehnte waren vergangen, seit das nicht mehr geschehen war, im Rahmen der Ewigkeit mochten es freilich nicht mehr als flüchtige Sekunden gewesen sein.

War es Zufall, war es Schicksal, geschah es nach dem unerforschlichen Ratschluß dessen, der alle himmlischen und irdischen Wege lenkt, der erhabene Besucher sah sich plötzlich in einem großen, von rauchigen Dünsten durchzogenen Raum, in dem die unterschiedlichsten Menschen an Tischen saßen, Männer, Frauen, Jünglinge und Mädchen, es mochte wohl ein Gasthaus großen Stiles sein, wo er unversehens gelandet war. Die Menschen übten, indessen sie aßen und tranken, was man auf Erden Geselligkeit nennt, es war der Austausch ihrer kleinen alltäglichen Freuden und Leiden, die ihnen leichter tragbar schienen, wenn s“ie darüber mitteilsam sprachen. Dem erhabenen Gaste aber erschien dies alles nicht anders, als es einst zu seinen Lebzeiten gewesen war. Vom Triebwerk des Daseins zusammengeschlossen, war es das gleiche große menschliche Gefüge, das ihn schon damals begleitete, indessen er im Innersten doch grenzenlos einsam geblieben war.

Ein anderes aber geschah noch Im Räume, was ihn plötzlich aufhorchen ließ. Er glaubte seltsame Töne zu vernehmen, die vielleicht auch Musik zu nennen waren, doch befremdeten sie ihn aufs höchste. Was wollten, so fragte er sich, die Menschen mit diesen Tönen? Wer erzeugte sie? Woher kamen sie?

Es waren keinerlei Musikanten Im Saale wahrzunehmen. An der Stelle aber, von der die Töne kamen, an der rückwärtigen Wand des Raumes, sah er ein kleines hölzernes Kästchen hängen, von dorther meldete sich in einem überaus scharf betonten fremdländischen Rhythmus, was seinen Ohren doch eher als Geräusch denn als Musik erscheinen wollte!

Oder sollte ihn hier auf Erden, ao fragte er sich erschrocken, sein altes irdisches Übel, die höllische Taubheit, wieder beschleichen und verzerrte ins Gekrächze, was vielleicht doch irgendwie melodisch gemeint war?

Da hörte er, und er vermochte also doch wieder deutlich zu hören, unweit von sich eine junge Mädchenstimme: „Schad, daß ma hier nit tanzen können, Franzi, das war grad der richtige Foxtrott.“

Der junge Mann, der Franzi hieß, nickte wehmütig vor sich hin. „Gehn ma halt nachher in die Bar, die is ja ohnehin gleich um die Ecken.“

Da sah der Erhabene ein beglücktes Aufleuchten im Auge des Mädchens, das ihn an sein gütig verstehendes Herz griff. Wo Freude solcherart aufglomm in einer einfachen Seele, bedachte er, mußte das Seltsame, das da aus dem Kästchen zu hören war, doch irgendeinen versöhnlichen Sinn haben.

Und er näherte sich dem Kästchen mit jener heiligen Neugier, von der audi die Himmlischen, wenn es darauf ankommt, noch immer nicht völlig geheilt sind.

Da aber brach das Geräusch im Kästchen plötzlich ab. Es war darin völlig still geworden. Der Lärm der Gäste nur brandete auf und nieder wie der Wasserfall des Alltags, der zuletzt doch immer sieghaft bleibt.

Schon aber meldete das Kästchen sich wieder. Eine menschliche Stimme war es diesmal: .Achtung! Achtung! Das Wiener Philharmonische Orchester bringt jetzt Beethovens fünfte Symphonie. Der Dirigent --“ Der Name ging unter in einem lebhaften Gelächter, das eben an einem Nebentische ausgebrochen war. Es hatte dort offenbar jemand einen guten Witz erzählt.

Der erhabene Lauscher fühlte sich im Innersten betroffen. Seine fünfte Symphonie! Sein Schicksalsgesangl Und schon setzte dieser mächtig ein: Das Schicksal pocht an die Pforten der Welt! Bravo, das war ja trefflich eingesetzt! Das waren ja meisterliche Spieler, die ihn im Innersten verstanden! Und erlösend, wie selbstverständlich, wurde das Entscheidende jetzt gebracht. Der Held erhebt sich gegen das Unheil der Welt! Selbstbewußt stieg das Allegro empor, ja, so hatte er es gemeint, so war der Keim der Melodie geboren in seiner großen Anrufung! Es geht um Uberwindung, es geht um Sieghaftigkeit, denn anders ist die Seele ihrer selbst nicht wert. Ja, so war es richtig erfaßt und gebracht! Er lauschte und lauschte und trank in tiefen Zügen sich selbst in seinem Werke.

Und das alles sollte aus diesem Kästchen kommen? überfiel ihn plötzlich ein mißtrauischer Gedanke. Was trieben die Menschen hier für Zauberei?

Da hörte er unweit von sidi einen Rufer: „Sie, Herr Ober, kann man das nicht leiser stellen? Man hört ja sein eigens Wort nicht!“

Wie ein Blitzschlag durchfuhr dies mit schwammiger Stimme Vorgebrachte den Erhabenen. Was geschah hier Ungeheuerliches in diesem Raum?

Und nun erst wurde ihm bewußt, wa ihm bisher entgangen war, indes er bezwungen sich selber lauschte. War der Lärm im Saale nicht der gleiche geblieben wie früher, als man den „Foxtrott“ spielte? So war also, was hier aus dem Kästchen hervorklang, vorhanden und war es nicht? Was sollte das alles bedeuten? War er noch unter Menschen? Vermochten sie nicht zu erfassen, wa eben geboten wurde? Wußten sie nichts mehr von Gott? War seine „Fünfte“, wie ja alles, was er in heiliger Entrückung in seinem Erdenjammer geschaffen, im letzten nicht eine Anrufung Gottes? Er hatte den Menschen das Höchste bieten wollen, indem er sich selbst verzehrte in Himmel- und Höllengluten der Inspiration, und das verspürten die Menschen nicht mehr? Wie Würmer im Schlamm verklebten sie sich in ihre arme Alltäglichkeit, indes er sie zum Himmelsfluge aufrief? Welchen Sinn hatte seine Kunst noch, wenn derart Furchtbares geschehen konnte?

Unbändiger Zorn begann in ihm aufzn kochen. Nein, es gab keinen Zweifel darüber — was hier geschah war Entheiligung seines innersten Wesens! War Entheiligung der Kunst überhaupt! Wäre er noch körperlidi auf Erden wie einst, er hätte das Kästchen zertrümmert, da solch unwürdige Zauberei betrieb!

Dann aber legte es sich plötzlich wie Gottes Hand beruhigend auf sein Herz — eben begannen die unsidttbaren Spieler den zweiten Satz seiner „Fünften“, den Trauersatz in Adagio. Wie würdevoll, wie verständnisinnig wußten sie ihn wieder aufzufassen! Ja, es waren Brüder im Geiste, die also zu ihm sprachen. Und da geschah eine Wandlung in ihm: nicht Empörung war es, die sich hier geziemte, es war die Trauer, die Schwester der Freude auf dem Wege zu Gott! In dieser wollte er jetzt verharren, nicht vernehmen, was Unbegreifliches, was Menschenunwürdiges um ihn her vorging. Und weiter bedachte er — war sein Erdenwandel einst etwa anders gewesen? War er nicht ein steter Kampf gewesen mit irdischer Bedrängnis, mit Roheit, Gleichgültigkeit und grenzenlosem Unverständnis, außer im Kreise seiner Auserwählten?

Und so lauschte er wieder sich selbst und fühlte sich befreit in der unantastbaren Hoheit seines Werkes.

Und dann war auch der zweite Satz zu Ende. Wie herrlich hatte er ausgeklungen! So gab es auf dieser verstörten Erde noch immer solch meisterliche Erfüllungen?

In der Pause, die nun folgte, waren es zwei verhaltene, seltsam vergeistigte Stimmen, die er unweit von sich vernahm. Zwei Männer saßen dort an einem abseitigen Tische. Sie hatten kluge und besorgte Gesichter und schienen ihm irgendwie im Gemüt verwandt zu sein.

„Wie schwer ist es, sich hier noch an Hoffnungen zu klammern“, nickte der eine bekümmert vor sich hin.

„Ich sehe die Sache noch schlimmer“, äußerte sich der andere. „Sie, lieber Kollege von der Feder, erblicken die Tragik der Menschheit von heute darin, daß sie technisch ungeheuer voran ist, aber ethisch nicht nachkommen konnte, so daß sie ihre herrlichsten Erfindungen mehr zu verbrecherischen Selbstzerstörungen als zur Aufrechthaltung eines gerechten Daseins verwendet. Ich aber, verehrter Freund und Kollege, erkenne eine noch größere Tragik in der Vergeblichkeit aller Bemühung des Schönen und Guten, die Menschheit im Moralisdien höherzubringen. Bedenken Sie zum Beispiel, daß man sich im Rundfunk seit Jahrzehnten bestrebt, den weitesten Massen die edelste Musik, das entscheidendste Dichterwort, alle Weisheit und alles Wissen der Welt zu vermitteln und daß man mit Schrecken erkennen muß, es sei dies alles mehr oder minder wirkungslos geblieben und daß die niedrigsten Instinkte nunmehr noch ärger aufwucherten als vorher, ja, daß Grausamkeit, Gewinnsucht und Verdrehung aller Rechtsbegriffe ihren höllischen Sieg gerade über jene Menschheit feiern konnte, die sich gerne die kultivierte nennt.“

Der andere wollte noch etwas erwidern, doch legte sein Genosse nun die Hand auf seinen Arm und deutete auf das Kästchen— dort hob eben an das selige Allegro des dritten Satzes, die wundersame Überleitung aus heiliger Trauer zum sieghaften Verklärungsmotiv, zum Sieg des Heroen über die Tragik der Welt.

Da fühlte der Erhabene das Dasein aller irdischen Geschöpfe in zwei Reiche gespalten, in jenes des Lichtes und jenes der Finsternis. Aber nicht mehr Zorn, sondern tiefstes Mitleid war es, was ihn nun im Innersten bewegte. Es gibt keinen andern Ausweg, um nicht selbst zu verzweifeln, erkannte er wieder einmal aufs neue, als bedingungslose Liebe! Nur diese erlöst, indem sie das Böse nicht mehr anerkennt und es damit auch vernichtet. Es war die große, die niemals größer zu bringende Botschaft des Sohnes des Herrn, in dessen strahlendem Hause er ja nun selbst daheim war.

Hatte er dies nicht längst in seinen Tönen vorausgeahnt, als er sie einst auf Erden geschaffen? Und er fand sie nun, da er sich selber in seinem Werke lauschte, aufs wundersamste bestätigt. So schloß sich der Kreis der Sieghaftigkeit, wie sich alle Sehnsucht zur letzten Erkenntnis schließt in der Hand des Herrn.

Indes er solches empfand, ereignete sich ein Neues, das er mit Staunen und Rührung bemerkte. Ein junges weibliches Wesen hatte sich von einem der vielen

Tische erhoben und war raschen Schrittes bis vor das Kästchen getreten. Sie schien mit ihrem blassen, schönen Antlitz wie losgelöst von allem, was an Lärm und Torhaftigkeit rings um sie her geschah. Das alles war ja nicht mehr vorhanden, erklärte die Reinheit ihres Gesichtes, es bestand nichts anderes mehr als die göttliche Botschaft der Töne, von denen sie sich nun in letzter Hingegebenheit überströmen ließ. Sie hatte die Augen geschlossen, als sollte sich ein Vorhang senken zwischen sie und ihre unzureichende irdische Welt.

Der Erhabene betrachtete das rührende Geschehen in tiefer Ergriffenheit. Und er erkannte — hier schenkte sich ihm eine gläubige Seele und es zeigte sich das Wunderbare — sie umfaßte gleichnisweise die ganze Welt!

Und nun lösten sich zwei schwere Tränen von den geschlossenen Lidern und sie blieben wie zwei schimmernde Perlen an den dunklen Wimpern hängen.

Unweit von dem schönen lauschenden Wesen aber hing an einem dünnen Schnürchen ein kleines birnenförmiges Lämpchen herab, das leuchtete aus sich selbst heraus, der Erhabene wußte nicht wieso.

Dieses Rätsel aber bedrängte ihn nicht lange. Unendlich wesentlicher schien es ihm, mit tiefster Freude zu erkennen, daß in den beiden wundersamen Tränen nunmehr das gleiche Leuchten sich spiegelte, das droben in seinen himmlischen Gefilden in letzter Erfüllung zu Hause war.

Erscholl in die Seligkeit dieser Erkenntnis jetzt nicht zugleich sein glorreicher Hymnus auf die ewige Herrlichkeit aus dem vierten Satz seiner Symphonie? „Brüder, laßt uns nicht verzweifeln! Wo noch ein Mensch in Ergriffenheit weint, ist die Menschheit nicht verloren!“

Und da löste der Erhabene sich leise von der Erde fort, denn er wußte, daß ihm nichts Größeres mehr geschehen konnte. Und er kehrte lächelnd in seine ewige Heimat, in den Himmel der Unsterblichen zurück.

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