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Die Unbelehrbaren von 1911

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JAHR UND JAHRGANG 1911. Von Hans Mommsen, Hans Scholz und Jan Her- chenröder, Hoffmann- und Campe-Verlar, Hamburg. 186 Seiten. 16,80 DM.

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JAHR UND JAHRGANG 1911. Von Hans Mommsen, Hans Scholz und Jan Her- chenröder, Hoffmann- und Campe-Verlar, Hamburg. 186 Seiten. 16,80 DM.

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Da hat ein deutscher Vertag, von Herrn Joachim Karsten angeregt, etwas wirklich Originelles unternommen: in einer Buchreihe, die aus in sich abgeschlossenen Bänden besteht, wird ein Panorama der Zeit und ihrer Schicksale nachgezeichnet. Die erste Serie von „Jahr und Jahrgang“ ist den 1896, 1901, 1906, 1911, 1916 und 1926 Geborenen gewidmet. Im Lauf der nächsten Jahre sollen je sechs weitere Bände folgen, und man kann, wenn das Niveau und der Elan des uns als Probe vorliegenden Bandes gehalten wird, dieser Entreprise einen großen Erfolg voraussagen.

Die Autoren der drei Teile, aus denen das Buch „Jahr und Jahrgang 1911“ besteht, sind ein junger Historiker, namens Hans Mommsen, der sich speziell mit der Geschichte der Habsbungermonarchie befaßt hat, der in Berlin geborene Maler, Schriftsteller und Journalist Hans Scholz und Jan Herehenröder, Schriftsteller und Feuilletonredakteur, letztere beide dem von ihnen analysierten Jahrgang 1911 angehörend. (Der Rezensent desgleichen.)

In dem historischen Kapitel mit dem Titel „Der Kampf um den Platz an der Sonne“ wird, vornehmlich anhand der Politik des deutschen Kaiserreiches (die ja in erster Linie die sehr persönliche Angelegenheit Wilhelms II. war), dargetan, wie in jenem Jahr die Drachensaat ausgestreut wurde, die drei Jahre später zum ersten und wieder 15 Jahre darnach zuim zweiten Weltkrieg führte, die tausend Jahre des Dritten Reiches miteingeschlossen. Die „Geschichte“ beginnt mit jenem spektakulären „Panthersprung“ nach Agadir, durch den sich Deutschland die Kolonialmacht England endgültig zum Feind machte — und wobei noch allerhand anderes Porzellan zerschlagen wurde (Ende 1911 sagte Joseph Redlich zu Graf Ährenthai, der gegen einen Präventivkrieg war, daß die Spannung zwischen Deutschland und England zu dem kaum noch vermeidbaren europäischen Krieg führen werde...). Italien greift nach Tripolis, Deutschland versucht, in der Türkei Fuß zu fassen (Bagdadbahn) — und in China bricht die Revolution aus (in der Mandschurei hat die Pest innerhalb dieses einen Jahres mehr als 300.000 Menschen hingerafft). Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ erscheint, Liebknecht veröffentlicht sein gegen den Imperialismus gerichtetes Manifest „Militarismus und Antimilitarismus“, aber er beißt auf Eisen, der Berliner Polizeipräsident Dr. jur. Traugott von Jagow läßt nicht mit sich spaßen. Die Figuren sind aufgestellt, das Spiel kann beginnen ...

Mehr leidendes Objekt als Akteur der nun folgenden Jahrzehnte ist der Jahrgang 1911. In der Politik jedenfalls hat er sich nicht hervorgetan, kaum einer hat eine führende Rolle gespielt. Auch später, in der NS-Prominenz, suchen wir vergeblich nach „Elfern“, und in den poetischen Anthologien, etwa in jenem dicken „Volksbuch“ mit dem Titel „Soldaten werden Dichter — Dichter werden Soldaten“ von 1940 oder in jenem schmäleren, aber weit peinlicheren „Bekenntnisbuch österreichischer (lies: ostmärkischer) Dichter“ zu Führer und Reich, erschienen in Wien 1938, suchen wir sie, mit einer Ausnahme, die die Regel bestätigt, vergebens. — Dichteten diese Leute nicht? Immerhin sind Anno 1911 geboren: Max Frisch, Fritz Hochwälder, Hans Habe und Luise Rinser. Nennen wir gleich auch die übrigen Prominenten des Jahrgangs: die Schauspielerinnen Marianne Hoppe, Brigitte Homey, Magda Schneider und Luise Ullrich, die Tänzerin Dore Hoyer, den

Kritiker Friedrich Luft, den Regisseur Günther Rennert sowie die Komponisten Helmut Degen und Norbert Schultze. Also ein mehr musischer Jahrgang, keine Pioniere der Naturwissenschaft und der Technik (die grundlegenden Erfindungen waren kurz vorher gemacht worden), und politisch zwar nicht desinteressiert, aber wenig aktiv oder unbrauchbar. Hans Scholz glaubt sich daran zu erinnern, daß Hitler in einer seiner Tiraden die Elfer als „unpelärrbarr“ bezeichnet hat. Das rechnen wir uns — nicht erst heute — als größtes Kompliment an. Um so mehr genossen wir die zeitlos gültigen Sentenzen, wie sie „tärr unbekannte Szoldatt“ gelegentlich produzierte, etwa: „Das Auto kehörrt seinem Wesen nach mär zum Fluckzeuk als zur Eisenbann.“ (Das deklarierte er in der Zeit, als man dem deutschen Volk den Volkswagen als Ersatzreligion predigte.) — Aber das waren bescheidene Belustigungen in den vielen Jahren, da uns die Galle das Blut vergiftete, „denn“, so sagt Hans Scholz, „es ist schwer, unter Millionen Überzeugter in der eigenen singulären Meinung weiterzuleben“.

Ein anderes Kennzeichen der „Elfer“ (und meist Folge ihrer Unbelehrbarkeit) war, daß, wo immer wir hinkamen, unsere Vorgesetzten jünger waren. So fing allenfalls die militärische Laufbahn mit Ärger an. Unser Pech, daß wir’s uns nicht besser zu „richten“ verstanden. Bereits die zehn Jahre jüngeren zeigen ein anderes Gesicht, von den Nachfolgenden ganz zu schweigen. Die verstehen es, zum Beispiel in der Bundesrepublik, noch aus ihrem „Nonkonformismus“ Kapital zu schlagen, der bekanntlich von Sendern, avantgardistischen Zeitschriften, Kunstinstituten und Verlagen nicht schlecht honoriert wird.

„Leben mit allerlei Liedern“ heißt eines der drei Kapitel in dem besprochenen Buch. Die politischen brauchten wir kaum zu vergessen, wir wußten ihre Texte meist eh nicht auswendig. Aber an „Ramona“, den „Weißen Flieder“, an „Sonja, Sonja“ (den ängsten Schmachtfetzen der eben erblühenden Branche), an die Songs der „Dreigroschenoper“, an die melancholisch-sachlichen Verse Erich Kästners, vor allem aber an „Valencia“ erinnert man sich gern. — Die Zeit der nachhal tigsten Jugendeindrücke waren für den Elf er j ahngang die oft beschriebenen „goldenen zwanziger Jahre“, man mochte sie gemocht haben oder nicht. Ihre Merkmale waren Inflation, Hunger, Umzüge und vielerlei Fahnen, Jazz, Bubikopf und die ersten Tonfilme, darunter „Der blaue Engel“.

Doch zurück zum Geburtsjahr. Wie standen da die Planeten? Das Spannungsfeld der Literatur (es erschienen Anno 1911 insgesamt 30.000 neue Buchtitel) entspricht dem der Politik: es ist ungeheuer. Gleichzeitig mit den in enormen Auflagen gedruckten Werken Ganghofers und Rudolf Herzogs erscheinen Gerhart Hauptmanns „Ratten“ und Fritz von Unruhs Offiziere“; in Moskau inszeniert Stanislawsky Tolstojs „Lebenden Leichnam“. Gustav Mahler stirbt und Schönberg vollendet die Partitur seiner „Gurrelieder“. Kienzls „Kuhreigen“, Humperdincks „Königskinder“ und „Der Rosenkavalier“ werden uraufgeführt. Fiele ins gleiche Jahr nicht auch - die Premiere von Ravels „Spanischer Stunde“ und „Herzog Blaubarts Burg“ von Bartok, so müßte man pauschaliter sagen, daß die Oper nachhinkt. Das Ballett hat mit Strawinskys „Petruschka" (Diaghi- lew, Paris) und „Le Spectre de la Rose“ (mit Nijinski und der Karsawina in Monte Carlo) Stemstunden. In Hellerau gründet Jacques Dal- croze eine Schule für Rhythmus, Musik und Körperbewegung. Neue Rhythmen brechen auch aus Amerika ein: zunächst mit dem „Tango Argentin“, der bald gesellschaftsfähig wird, mit One- und Twostep, mit Cake-Walk, Boston und „Alexander Ragtime Band“. Auch von Jazzbands kann man schon lesen. In der bildenden Kunst beherrschen zunächst noch die Impressionisten das Feld, in Deutschland Liebermann, Slevogt, Corinth und Trüb- ner. Aber 1911 ist auch das Gründungsjahr des „Blauen Reiters“ und damit die Geburtsstunde der neuen Malerei überhaupt, die sofort durch . Meisterwerke von Marc und Macke, Jawlensky und Kandinsky, Munch und Kirchner, Klee, Braque und Chagall markiert ist. Im Wiener Hagenbund stellen Kokoschka, Kolig, Wiegele, Faistauer und Gütersloh gemeinsam aus, und Josef Hoffmann vollendet das Palais Stoclet in Brüssel.

Ein heißer Sommer, ein guter Wein — und der Beginn der „Moderne“: das ist schließlich auch etwas.

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