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Die „Unberührbaren“ Indiens

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Schwere politische und nationale Konflikte erschüttern den indischen Subkontinent, unter furchtbaren Verfolgungen wird die neue Ordnung des aus britischer Führung entlassenen Indiens geboren. Hinter den ausgebrochenen Bränden und von ihnen noch verdeckt, erhebt sich das Problem eines sozialen Aufbruches von größten Ausmaßen: die Eingliederung der 60 Millionen Kastenlosen, der „U n b e r ü h r-b a r e n“, die bei dem beginnenden Zerfall der hinduistischen Gesellschaftsordnung zur Freiheit gelangen müssen.

In unvorstellbarer Erniedrigung verbringen diese Unglücklichen ihr Dasein. Nicht umsonst bezeichnet ihre Bezeichnung Parias heute in aller Welt^las Ausgestoßensein aus der Gesellschaft. Ein Mann aus einer Hindukaste fühlt sich verunreinigt, wenn er einen Paria auch nur berührt. Er wird aus seiner Kaste ausgeschlossen, wenn er von einem Paria Wasser oder gekodite Speisen annimmt. Die öffentlichen Einrichtungen sind den Kastenlosen versperrt. Ihre Kinder dürfen keine öffentliche Schule besuchen, sie dürfen nicht einmal aus dem gemeinsamen Dorfbrunnen Wasser schöpfen. Die Schwelle des Hindutempels dürfen sie nicht überschreiten, es würde kein Brahmane für sie opfern oder bei ihrer Hochzeit, bei Begräbnissen die vorgeschriebenen Zeremonien vollziehen. Die Diener der höheren Kasten leisten den Kastenlosen keine Dienste, auch dann, wenn sie selbst Kastenlose sind. So sind die Parias gezwungen, ihre Priester, Handwerker und Hilfskräfte aus den eigenen Reihen zu nehmen. Am schlechtesten ist ihre Stellung in jenen Gebieten, in denen westliche Ideen noch wenig Anklang gefunden haben, vor allem in den Dörfern, in denen noch immer 85 Prozent der Bevölkerung Indiens leben.

Die Religion der Unberührbaren, von den primitiven und niederen Elementen des Hinduismus geformt, ist eine Religion der qualvollen Furcht vor bösen Geistern und ihren Heimsuchungen der Menschheit, Unglück, Krankheit und Not. In diesen Vorstellungen lebt nur ein verderbter Gottesbegriff. Was hätte auch der Paria, der „Stiefsohn der Götter“, von diesen zu erwarten! So kümmert auch er sich wenig um diese Gottheiten, von denen er keine rechte Vorstellung hat. Bis in die neueste Zeit war es verpönt, den Unberührbaren die heiligen Schriften der Hindus auch nur lesen zu lassen, geschweige denn sie ihnen zu erklären.

Die Entstehung dieses entrechteten und wirtschaftlich ausgebeuteten Standes reicht in eine Vorzeit zurück, in der armes Volk von den Mächtigen der Hochkasten — es gibt deren vier in Indien — versklavt wurde und jede Rassenmischung aufhörte. Mit . der Versklavung dieser unterworfenen Volksmassen verfielen auch gewisse Gewerbe, die von diesen Deklassierten häufig betrieben wurden, als unrein betrachtet der Ächtung, so die Beschäftigung der Gerber und Totengräber. Andere wieder wurden kastenlos, weil ihre Vorfahren wegen irgendeines Vergehens ihre Kaste' verloren hatten. Nachkommen von Primitivstämmen schließlich, die Kuhfleisch aßen oder andere bei den Hindus verpönte Lebensgewohnheiten hatten, verfielen mit der Annahme der Hindureligion dieser Kaste der Entrechteten.

Eines der tragischesten Momente und eine der größten Schwierigkeiten, den Kastenlosen zu helfen, liegt in der religiösen Verankerung dieses unheilvollen Begriffes. Die Existenz der Parias wird von der hinduistischen Religion dahin erklärt, daß ihre Vertreter in einem früheren Dasein gesündigt haben und als Strafe hiefür in eine so niedrige Volksklasse hineingeboren wurden. Der Kastenlose kann sich aber für seine nächste Wiedergeburt dadurch ein besseres Schicksal verdienen, daß er sein hartes Los in diesem Leben geduldig erträgt und sich gegen sein Schicksal, also gegen seine Unterdrücker, nicht auflehnt. Dem Mann aus hoher Kaste aber steht gleichsam ein göttliches Recht zu, den Paria mit Nichtachtung zu behandeln. Auch er erfüllt damit nur das unumstößliche Gesetz des Karma und gibt so dem Kastenlosen Gelegenheit, sich für das künftige Leben Verdienste zu erwerben.

Diese Sanktionen des Kastensystems und der damit gegebenen Rechtlosigkeit der Unbe-rührbaren, eine der schlimmsten sozial-widrigen Mißdeutungen einer Religion, ist aber ein so wesentliches Element der hindu-istisdien Religion und Geisteshaltung, daß an ihr nicht gerüttelt werden kann, ohne den Hinduismus in seinen Tundamenten zu erschüttern. Das fühlen instinktiv nicht nur die Vertreter der hohen Kasten, sondern auch die Parias selbst. Alle diejenigen, die am traditionellen Hinduglauben festhalten — auch die Parias unter ihnen —, wagen es nicht, sich aufzulehnen. Wer heute in Indien auch unter den Unberührbarcn auf eine Reform der diese so schwer benachteiligenden Gesellschaftsordnung hinarbeitet, hat sich innerlich schon weit vom strengen Hinduismus entfernt.

Der unbestrittene Führer der Reformpartei unter den Kastenlosen ist Doktor A m b d e k a r, ein Mahar, der sich aus ganz niedeigen Verhältnissen zu einer äll-indisdien Bedeutung emporgekämpft hat-Gandhi, der sich den-.Unberührbaren beizustehen bereit gezeigt hat, will das hindu-istische Kastensystem aufrechterhalten, aber die Kastenlosen in die unterste, die „Schudra“-Kaste, aufnehmen. Möglicherweise spielt in Gandhis Erwägungen die Furcht, auf 60 Millionen Anhänger verzichten zu müssen, eine Rolle. Die Reformpartei weigert sich, das Problem der Unberühr-baren als ein religiöses zu erkennen, es sei ein soziales und nationales, und ejn Religionswechsel würde deshalb den Parias .nichts nützen. Aber die Unberührbaren sind keine geschlossene Einheit und es würde auch unmöglich sein, so große, über ganz Indien zerstreute und zu 90 Prozent des Lesens und Schreibens unkundige Menschenmassen zu einem Religiohswechsel zu veranlassen. Nicht einmal Doktor A m b-d e k a r, der seit Jahren wiederholt mit dem Abfall vom Hinduismus gedroht hat, hat dies bisher wahrgemacht.

Immerhin sind seit langem einzelne und auch ganze Gruppen von Parias vom Hinduismus abgebröckelt und haben sich anderen Religionsgemeinschaften, vor allem den Mohammedanern, zugewendet. Die indischen Volkszählungen haben ergeben, daß sich die Moslems im Laufe der letzten 65 Jihre um 85 Prozent vermehrt haben, während die Hindus nur um 35 Prozent zugenommen haben. In Bengalen haben die Hindus sogai um 6 Prozent abgenommen, während di( Mohammedaner in allen Provinzen, in dener sie eine Minorität bilden, um das Doppelt* zugenommen haben. Da der natürlich« Vermehrungsquotient bei Hindus und Moslems mit 12 Prozent in zehn Jahren glcid ist, muß der Uberschuß aus Konversionei stammen, bei denen die Kastenlosen da Hauptkontingent stellen. Die Mohamme daner versprechen den bekehrten Kasten losen soziale Gleichstellung und handeh bis zu einem gewissen Grade auch danach Freilich bleiben noch manche Schranken be stehen, aber diese sind mehr ein Zugestand nis an den Hinduismus, als daß sie der prinzipiellen Haltung des Tslams entsprechen würden. Trotzdem ist mit einem geschlossenen «Übertritt der Parias zum Islam nicht zu rechnen, da ihnen dessen puritanische Geisteshaltung fremd bleibt.

Die Missionen der beiden großen christlichen Bekenntnisse, Katholiken und Protestanten, bemühen sich erfolgreich unter den Parias. Die Katholiken zählen in Indien derzeit etwa vier Millionen Anhänger. Sie haben in den letzten zehn Jahren um 33 Prozent, also um 21 Prozent über den Satz der natürlichen Vermehrung hinaus, an Zahl zugenommen. Sie naben also etwa 630.000 neue Bekenner gewonnen, von denen die Mehrzahl aus den Reihen der Kastenlosen stammt. Eine Massenbewegung zum Christentum findet nur in wenigen Diözesen statt, doch ist eine solche gegenwärtig in Lahore im 'Gange„ wo man in den nächsten Jahren über 100.000 Konversionen aus den Kreisen der Unberührbaren erwartet. Kann sich die Mission aber auf eine so reichhaltige Ernte organisatorisch nicht einrichten, so flauen solche Massenbewegungen^ leicht ab. Auch muß die Missionsarbeit nach großen Erfolgen mehr in die Tiefe gehen, um die Qualität der Neuchristen zu heben. Besonders ist dies bei den Kastenlosen geboten, die, seit Jahrhunderten mißhandelt und unterdrückt, manche Eigenschaften angenommen haben, die ihren schlechten Ruf einigermaßen rechtfertigen können.

Oft wird die Frage gestellt, ob es zweckmäßig ist, bei der Missionierung mit den untersten Schichten zu beginnen, da dies leicht die höheren Kasten abstößt, während umgekehrt ein positives Beispiel der letzteren auf die Tieferstehenden erfahrungsgemäß befruchtend wirkt. Aber die Kirche hat von allem Anfang an das Christentum allen, ohne Unterschied von Stand und Rasse, gepredigt und wenn, wie zu erwarten, das Kastenwesen in Indien eines Tages zusammenbrechen wird, wird es nicht darauf ankommen, welcher Kaste die Christen vorher angehört haben, sondern auf ihre möglichst große Zahl.

Es fehlt nicht an Stimmen, die den Kastenlosen den Übertritt zum Christentum in geschlossener Gemeinschaft anraten. Ein Parse, J. E. S a n j a n a, hat im Jänner 1946 ein Buch veröffentlicht, in dem er zu llem Schlüsse kommt, daß den Parias nur durch geschlossenen Übertritt zur katholischen Kirche geholfen werden könne. San-jana hält dies auch für den Ausgleich der großen Spannungen zwischen Moslems und Hindus förderlich und weist darauf hin, auf eine wie großartige, tausendjährige soziale und kulturelle Aufbauarbeit die Kirche zurückblicken könne. Auf einem Kongreß der Unberührbaren in N a g p u r wurde heuer der mit großem Beifall aufgenommene Vorschlag gemacht, aus Christen, den Paria und den 30 Millionen zählenden Primitivstämmen einmal eine neue große Partei zu bilden. Im ganzen Räume des Kastenlosenproblems liegen für den indischen Katholizismus große Aufgaben, wenn der Boden einmal reif für den Pflug sein wird.

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