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Die „unerträgliche Jugend”

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„…Wahrlich, sie wäre unerträglich, wäre ich nicht auch unerträglich gewesen”, sagte einst der 73jährige Goethe gesprächsweise zu dem Sohne seines Freundes, des Buchhändlers Frommann, einem jungen Mann von kaum 24 Jahren, und es mag ein Menetekel für uns sein, daß diese Einsicht in das leidige und zu allen Zeiten aktuell gewesene Problem der „heutigen Jugend” in diesen Jahren aus zwei Gründen abgeht: unsere Erziehungsprobleme sind wirklich schwieriger geworden, und außerdem — müßte man nicht in Variierung des Goetheschen Ausspruches heute die ältere Generation anklagen: „wahrlich, sie ist unerträglich, laßt uns hoffen, daß nicht auch wir dereinst unerträglich werden …”?

Denn über allen Bedenken, Urteilen und Schmähungen gegenüber unserer Jugend sollte stets die Erkenntnis der älteren, der anklagenden Partei stehen, daß die Situation und Problematik unserer Jugend i h r Werk ist.

Staunend und (sogar ehrlich) entrüstet sieht man da eine Saat heranreifen, die man selbst im Namen des Fortschritts an unsere Burschen und Mädchen herangebracht hat, merkt, daß das Ziel, „die neue Generation für die ersehnte Glückseligkeit auf dieser Erde heranzubilden” (DIVINI ILLIUS MAGISTRI, Enz. Pius’ XI.), nur Verwirrung und Unbehagen stiftet, und glaubt, durch Kritik und Einberufung von Tagungen und Kongressen die Schuld auf andere — hauptsächlich aber auf die vollkommen unschuldig in diese Zeit hineingeborene Jugend — abwälzen zu können.

WIE DIE ALTEN SUNGEN…

Es wird festgestellt: Erotische Fehlhaltung infolge verfrühter sexueller Erlebnisse. Hier liegen auch die Ursachen für die Störung des späteren Ehe- und Familienlebens. Die Gemeinschaftsfähigkeit wird durch zunehmende Verrohung in Frage gestellt. Es mangelt an Achtung vor echter Autorität, dafür besteht ein Anspruch auf Vormündigkeit.

Das Nützliche wird auf Kosten religiöser oder sittlicher Werte überbetont. Selbstauslieferung an das Konsumdiktat der „Industrie der Lebensfreude”, also mangelnde Spargesinnung in Verbindung mit dem Fehlen einer verantwortungsbewußten Beziehung zum Geld.

“Eine um sich greifende geistige Verflachung (Selbstverdummung), die unsere Jugend dem Kitsch, der Sensation und der Stimmungsmache ausliefert. Eine gewisse Passivität als Folge der Reizüberflutung, gleichzeitig mit dem Nachlassen der Leistung in Schule und Betrieb.

Eine ausgesprochene Rentnergesinnung gegenüber der Gemeinschaft, Hand in Hand mit dem sich überall breitmachenden Absentismus in sozialer und politischer Hinsicht.

Zugegeben, alle diese Dinge sind bekannt, sind auch durchaus im Bewußtsein der Allgemeinheit. Aber sie werden kaum als eigene Fehler angesehen, immer nur als Fehler der heran- wachsenden Generation. Handelt es sich um eine dieser „crises heureuses”, wie Dürkheim sie nennt, die zu allen Zeiten sowohl bei ökonomischen Krisen wie auch bei Hoch- oder Ueber- konjunktur auftreten? Was tun? Wo den Hebel ansetzen? Zweifellos gibt es in der Fülle der erwähnten Fehler eine zentrale Stelle, die, einmal erkannt, wahrscheinlich viele Probleme, die nur als Folgeerscheinungen auftreten, gleichzeitig zu lösen helfen könnte.

Rentnergesinnung: Man denkt an das Gedränge um die Staatsstellungen. An das Abwälzen der Verantwortlichkeit. An diese gewisse geistige Verflachung aus dem Gefühl heraus: „mir kann nichts mehr passieren”. Man denkt an die Bildchenstreifen in den Tageszeitungen, die auch ihr erwachsenes Leserpublikum finden, an den anspruchslosen Film (Jugendliche würden sich nicht getrauen, so etwas zu schaffen), an die drei Minuten Seligkeit, die man mit dem Einwurf der Schillingmünze erkauft.

Aber — warum geschieht das eigentlich? Warum ist das Musizieren, die Pflege der Hausmusik, das Lied daheim im Kreise der Familie abgekommen? Doch nicht etwa, weil die Eltern für ihre Kinder keine Zeit mehr haben? Nein, bitte, nicht zugeben. Denn dann wäre die Unschuld der Jugend einmal mehr bewiesen …

Jeder Erzieher, der mit Burschen und Mädchen zusammenarbeitet, wird bestätigen, daß junge Leute gern singen. Er wird aber auch bestätigen, daß für die meisten davon Lieder, von denen man meinen sollte, sie seien Allgemeingut des Volkes, praktisch unbekannt sind. Schuld unserer Jugend?

Und ganz offensichtlich ist auch der Drang nach Aktivität vorhanden, der Drang nach eigenem Tun. Oder ist etwa die Leidenschaft und Vorliebe unserer Jugend für die modernen Tänze etwas anderes als ein Ventil für die vermißte Aktivität, für das vermißte gemeinsame Erlebnis im Spiel? Zweifellos sucht die Jugend (und sie findet es auch) in den modernen Rhythmen das gruppenbildende Element, das ihr sonst fehlt (unsere Schuld), das sie braucht.

Wenn dann einige Burschen und Mädchen zu einer, Gruppe zusammengefunden haben — was dann? Wer gibt der Gruppe Inhalt und Sinn? Vielleicht • gar ein religiöses oder politisches Ideal? Vater erzählte doch, wie es ihm 1934 oder 1938 oder 1945 oder wie es gar dem Großvater im Jahre 1918 ergangen war. Mutter warnt täglich vor solchen Dingen. Nur nicht ,;einschreiben” lassen! Und wenn doch, dann bitte nur wegen des augenblicklich zu erwartenden Erfolges, der sich etwa im Erlangen einer Wohnung (da mußt du zu den …gehen) oder im Erreichen einer bestimmten Position (aber da mußt du zu den…gehen) einstellen muß. Also „gewissen”-haft überlegen! Später kann man ja wieder austreten.

UND DIE VERANTWORTUNG?

Nachdem wir so viele Probleme und Fehlleistungen auf eine Wurzel zurückführen konnten, ergibt sich auch die Ursache des Mangels an Aktivität mit der gleichzeitigen Anmaßung einer Vormündigkeit der Jugend von selbst: es ist die mangelnde Achtung vor echter Autorität. Echte Autorität kann es nur dort geben, wo Autorität aus dem Religiösen abgeleitet wird. Daher gibt es echte politische Autorität heute überhaupt nicht. Dafür sorgt außerdem in Wahlzeiten schon die Propagandaabteilung der Gegenpartei. Man spricht heute von der Acceleration, von der nicht nur psychischen, sondern auch physischen Veränderung, die mit unserer Jugend vor sich geht. Man beobachtet mit Aufmerksamkeit die Diskontinuität von Längenwachstum und innerer Reifung — und merkt nicht, daß die Elterngeneration trotz „normaler” Entwicklung schließlich auch nie zu jener inneren Reifung gekommen ist, die imstande wäre, der jüngeren etwas zu geben. Wie sollte sie wohl auch?

Ist sie doch die (halb)starke Generation, die die Geschichte Oesterreichs aus purem Kraft- meiertum auf 40 Jahre zusammenschneidet, die das Recht nach Bedarf biegt, einer Konvention der Menschenrechte beitritt und dennoch Ausnahmegesetze bestehen läßt, die Staatshymne wechselt wie ein gebrauchtes Hemd. Eine Generation, die in ihrer Hauptstadt kommunistische Festspiele zuläßt (obwohl sie natürlich dagegen ist), und es der Jugend überläßt, gegen diese Vergewaltigung des primitivsten sittlichen Gebotes zu demonstrieren.

Nein, man fragt sich doch, ob diese Generation von Erwachsenen überhaupt irgendeiner „heutigen Jugend” wert ist. Zum Glück hat die Jugend ihre eigene Gesetzlichkeit. Sie schöpft aus einer reichen und herrlichen Kraft: aus der ihr von Gott gegebenen Kraft der Jungfräulichkeit und Rechtlichkeit der Jugend. Dennoch wäre es schön, könnte die Jugend sagen: Wir sind nicht allein!

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