6554057-1948_12_01.jpg
Digital In Arbeit

Die verlorene Illusion

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist Sonntagmorgen. Eigentlidi noch Sonntag nachts, denn noch wölbt sich das Dunkel der Nacht über die Dächer der Stadt. Ein paar Lampen werfen einen grellen Schein auf das Czernin-Palais. Groß und erdrückend liegt der Komplex des Palastes da. Drei Stock hoch, das Untergeschoß aus massiven Quadern; dreißig sch were faulen unterteilen die breite Fassade. Jan Czemin von Chudenice ließ sich diesen Palast durch den Italiener Francesco Caratti erbauen, ließ sich ihn erbauen einige Jahrzehnte nachdem die Macht der Stände in der Schlacht am Weißen Berg vernichtet und sein Verwandter Dionys von Czernin unten am Altstädter Ring enthauptet worden war wegen seiner Beteiligung am Prager Fenstersturz. Und nachdem mit dem Prinzip gebrochen worden war, daß die böhmischen Herren die Herren des Königs und des Staates seien. Ist dieser Palast nicht wie ein Versuch, die Illusion dieser ehemaligen Realität vorzuzaubern, und glaubhaft zu machen, daß sie noch bestehe? Daß nichts geschehen sei? Grell werfen die Lampen ihren Schein. Die Quadern wirken doppelt massiv. Ein paar Polizisten gehen die Fassade entlang, auf und ab, auf und ab. Die Häuser drüben schlafen noch. Unten auf der kleinen Lorettokirche schlägt das Glockenspiel des Turmes halb sechs Uhr früh. Klein ist die Fassade dieser Kirche, klein und demütig, trotz aller Schönheit gegen niemand aufbegehrend. Verkörperung einer Realität und keiner Illusion wie dieser Palast da drüben.

Die Lampen verlöschen. Dunkel liegt über dem Platz. Lautlos nur steigt ein Raunen über die Dächer, der Vorbote des kommenden Tages.

Ganz still und menschenlleer ist jetzt der Platz. Vorgestern noch drängten sich Tausende und Tausende vor dem Portal, ein unterdrückter Ląrm lag ständig über dem Ort. Tausende warteten geduldig auf Einlaß in den Palast, um die Leiche eines Mannes, eines schon alten Mannes zu sehen, der trotzdem immer als der „junge Masaryk" bezeichnet wurde, der populär war, wie es nie sein Vater war, und nie beliebt, zum Unterschied von seinem heißgeliebten Vater. Niemand wußte eigentlich, wovon er Abschied nahm, von dem Namen des Toten oder vom Toten selbst, von dem Prinzip, das der Name verkörperte, oder von der Illusion, die mit dem Tode dieses Mannes dahingegangen war. Gestern noch wurde der ehemalige Herr dieses Hauses aus dem Hause getragen und sein Sarg neben den Sarg seines Vaters gelegt. Der kluge und lustige Sohn neben den ernsten und genialen Vater. Der Realist neben den Illusionisten. Wer aber war eigentlich der Realist von beiden, wer eigentlich Illusionist? Der Vater, der glaubte, sein Staat sei stark genug und könne bestehen, oder sein Sohn, der in seinem Wiener Humor — denn er war ein geborener Wiener, der den gemütlichen, lässigen Dialekt der Wiener Salons sprach und der außerdem, wie alle Tschechen,'eine tiefe und geheime Liebe zur Donaustadt besaß — der in seiner Wiener Art einmal zu seinem alten Vater sagte: „Du siehst so gut aus, daß du noch die ganze Republik überleben wirst!" Wer war eigentlich der Realist und wer der Illusionist? Der Vater, der 1914 in die Emigration ging und gegen die Habsburger- nionarchie opponierte, oder der Sohn, der 1914 zur k. u. k. Armee einrückte, sich . als Einjahrig-Freiwilliger die Silberne Tapferkeitsmedaille holte und zur gleichen Zeit, da sein Vater die ersten Erfolge in seiner Auslandspolitik erzielt, das Patent eines k. u. k. Leutnants bekam und der noch beim Novemberavancement 1918 —, November 1918! — zum k. u. k. Oberleut nant befördert wurde? Jener Sohn, der an der Seite von 900.000 Tschechen und Slowaken für die Erhaltung der Monarchie kämpfte, gegen die nur 100.000 Legioanäre auf der Seite der ändern?

In ihm war noch in irgendeiner Form der Geist des alten Österreich lebendig. Er war ein Grandseigneur. Als einmal, einige Jahre nach der Gründung der Republik, ein neuer englischer Diplomat in Prag bei einem Empfang auf der Burg zum jungen Masaryk, den er für einen Briten hielt, sagte, was könne schon los sein in einem Staat, dessen Präsident der Sohn eines Kutschers sei, lächelte Jan Masaryk nur zu dieser Entgleisung, ohne je sie weiterzuerzählen. Und er beherrschte fremde Sprachen, wie sie nur die alten Beamten der Monarchie beherrschen konnten. Neben seinem Tschechisch und Deutsch sprach er das Französisch fließend und mit dem ganzen Esprit, der dieser Sprache innewohnt, sprach das Englisch wie ein Student der Princeton university, sprach ein Dutzend anderer Sprachen, darunter das Magyarische, als sei er ein Angehöriger der Gentry, und das Magyarisch-Deutsch mit der Würde eines Dorfnotärs, sprach sogar Jiddisch in den Variationen, die zwischen der Leopoldstadt und Czernowitz möglich waren. Und war wie ein alter Österreicher, ein treuer Beamter seiner Regierung, das heißt: er tat, was sie wollte. Tat es wie hundert und tausende andere Tschechen, die vorher Beamte des alten Österreich gewesen waren und auf deren Pflichtbewußtsein der neue Staat aufgebaut werden konnte. War immer nur Organ seiner Regierung, auch als Außenminister, sei es in London, sei es in Prag, denn der wirkliche Außenminister war und blieb immer Dr. Benesch. Nur jetzt, als Dr. Benesch plötzlich auf die Seite geschoben worden war und er in der Regierung nicht mehr Beamter, sondern Staatsmann sein sollte, ja eine Politik machen sollte, deren Ausführung übermenschliche Anforderungen an ihn stellte, da er, der Jan Masaryk, der einzige war, dessen Name eine Garantie bedeutet hätte, daß das System, das in dem Namen Masaryk ausgedrückt war, bestehen bleibe, da zerbrach er. Zerbrach wahrscheinlich, weil er eine Illusion aufrechtzuer- halent nicht mehr vermochte. Welche Illusion? ...

Die Karriere seines Vaters hatte begonnen mit der Veröffentlichung einer großen Untersuchung über den Selbstmord. Die Karriere des Sohnes hatte aufgehört mit einem Selbstmord. Der Vater hatit als Ursache der um sich greifenden Selbstmordepidemie die Irreligiosität bezeichnet und — da die alten Religionen nicht mehr genügend Anziehungskraft besäßen — nach einer neuen Religion gerufen. Diese Religion sollten die „Ideale der Humanität“ sein. Sein Sohn hatte diese Ideale in sich aufgenommen, war Humanist wie sein Vater und hatte trotzdem Selbstmord verübt. Sein Vater war der Illusion gewesen, sein Staat könne allein bestehen, sein Sohn mußte erleben, daß dies eine Illusion war. Sein Vater lebte für die Realität, sein Sohn ging an ihr zugrunde. Sarg neben Sarg liegen Vater und Sohn.

Es ist Tag geworden. Die Sonne schüttet ihre Strahlen über das Czernin-Palais und die Lorettokirche. Die Glocken beginnen, die sechste Stunde zu spielen. Durch die sonntägliche Ruhe dringt das leise Murmeln von Mönchen, die das Chorgebet verrichten. Ein uralter Pater geht durch den Hof des Klosters, tritt in die Lorettokapelle ein, die ein paar Leuchter erhellen. Vom nur kniet eine alte Frau, als der Priester die Worte der Messe beginnt: „Intoribo ad altare Dei, ad Deum, qui laetificat juv.entutem meam. — Ich trete zum Altare Gottes, zu Gott, der midi jung macht und froh.“ Schlohweiß ist der Bart des Kapuziners, der Gott dafür dankt, daß er ihm ewige Jugend gibt. Wie sagte Masaryk? „Wir brauchen eine neue Religion!" Masaryk ist tot, sein Sohn ist tot,

die Illusion eines Staates der Humanität ist tot und seine Religion der Humanität ist tot. Aber am Altare steht der greise Mönch und opfert der unsterblichen .Wahrheit des ewigen Gottes.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung