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Die Versuchung des Marxismus

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Es ist im folgenden stets vom Marxismus die Rede, nicht vom Sozialismus. Das sei vorweg festgestellt.

In der Denkweise des Marxismus kommt den Produktionsverhältnissen (d. h. den Eigentumsverhältnissen an den Produktionsmitteln) eine entscheidende Bedeutung für die Bildung von Ideen zu. Wenn sich die Produktionsverhältnisse verändern, ist es unvermeidbar — marxistisch gedacht —, daß sich auch die Ideen des Marxismus ändern. Verstaatlichung und Aneignung von Macht muß daher zu einem Wandel des Marxismus führen. Ob nun Marx mit seiner Milieutheorie recht hat oder nicht: der Marxismus ist ein anderer geworden. Der Genosse Generaldirektor rmifi, weil milieubefangen, eben generaldirektorial oder, wie in Westdeutschland, arbeits-direktorial denken und, was noch leidiger ist, handeln, das heißt, er agiert in den Augen seiner in der betrieblichen Hierarchie unten befindlichen Genossen „kapitalistisch“.

Von vielen, die marxistisch etikettiert sind, werden die marxistischen Grundsätze, die im sozialen Bereich keineswegs immer die schlechtesten waren, mit Komfort kompensiert.

Die Marxisten in gehobener Stellung können sich dem Prozeß der* Verbürgerlichung und damit Säkularisierung des marxistischen Glaubens kaum mehr entziehen. Dadurch aber wird die „reine“ Lehre korrumpiert.

Weil nun viele Marxisten „satte“ Bürger geworden sind (ein Umstand, der mitunter in der Presse freimütig zugegeben wird), finden sich die Marxisten in einer für sie selbst überraschenden Nähe von Parteien und Ideen, die sie stets zu bekämpfen vorgegeben haben. Wir sehen erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen „rechts“ und „link s“, zwischen gewissen Repräsentanten eines liberalkapitalistischen Unternehmertums und den Generälen der verstaatlichten Wirtschaft sowie den Anhängern einer Kollektivisierung von Wirtschaft und Kultur.

Eine unheiligeAllianzist entstanden: In Bayern, wo sich Marxisten und die liberalen Bayernparteiler gefunden haben und auch durch die sehr üble Spielbankaffäre nicht getrennt werden konnten.

Die Allianz steht in Nordrhein-Westfalen: Der sozialistische Abgeordnete Siem-sen erklärte im Düsseldorfer Landtag (16. Februar 1956), daß die Grundlage der Verbindung von FDP (d. h. von Nationalisten und Kapitalisten) mit der SPD die gleiche Auffassung über Kultur und Geistesfreiheit sowie e i n Miteinander auf sozialpolitischem G e b i e t (!) sei. Karl Marx müßte sich über solche Aeußerungen im Grab umdrehen. Es ist aber so. Der gemeinsame Feind jedoch sind die christlichen Kirchen, das „kohlschwarze Gewürm“, wie sich der „liberale“ ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Reinhold Maier, äußerte.

In Belgien: Die Verbindung zwischen Liberalen und Sozialisten (mehrheitlich Marxisten) ist dort so innig, daß die Sozialisten sogar ihre eigenen Gewerkschaften weitgehend verleugnen, um nur ja nicht die Liberalen zu vergrämen. So waren am Kongreß 1954 der belgischen sozialistischen Gewerkschaften die sozialistischen Minister nicht erschienen, um sich ihre Betragensnote nicht zu verschlechtern.

Es muß keineswegs die Loge oder, wie manche meinen, der Kreml gewesen sein, die den Marxisten als Brautwerber die Liberalen der alten Denkweise zugeführt haben. Was da ist, das ist echte Gemeinsamkeit zwischen reaktionären Liberalen (die mit den echten Liberalen nur den Namen gemeinsam haben) und reaktionären orthodoxen Staatsmarxisten. Die Gesinnungsverwandtschaft ist da in Sachen der Lebensführung und in der Stellung zu den Fragen des christlichen Glaubens. Und dann in der Art, wie man die soziale Frage zu lösen gedenkt: beiden geht es nicht um den konkreten Menschen, sondern um abstrakte Menschen, denen eine abstrakte Freiheit gebracht werden soll. Tatsächlich aber ist die Freiheit der „Kapitalmarxisten“ als Privileg einer dünnen Schichte von Privilegierten zu verstehen, daher der Kampf beider Gruppen gegen das Kleineigentum, gegen echte Mitbestimmung und für die Konzernierung und Ksrtellisie-rung der Wirtschaft. Es ist auch nicht unverständlich, wenn ein Industrieller in unserem Land einem christlichen Gewerkschafter erklärte: „Mit euch christlichen Gewerkschaftern v/ollen wir keinen Kontakt, lieber mit den Sozialisten. Ihr verlangt uns zuviel.“ Tatsächlich, wir Christen verlangen viel, wenn wir von Sozialreform reden; nicht sozialen Wohnungsbau allein (der gut ist), sondern Wohnungseigentum, nicht Volkseigentum, sondern Miteigentum.

Wie die Gemeinsamkeit zwischen oft national getarnten Liberalen der alten Schule und Marxisten über die Institutionen des demokratischen Sozialismus hinausgreifen, das sieht man, wenn man sich die Reden des FDP-Führers Dr. Dehler (beim verflossenen VdU sehr beliebt) liest.

Schließlich, wozu die Beweise aus der Gegenwart: Marx hat doch nicht nur Hegel, wie er erklärte, in seinen Gedanken auf den Kopf gestellt, sondern die Gedanken der Dogmatiker des orthodoxen Liberalismus. Wenn der Marxismus nur Methode der Analyse des Gesellschaftlichen ist, was liegt daran, die alten Ideen der „Ausbeuter“ wieder auf die Füße zu stellen? Schließlich liegt, es nicht jedem, lange Zeit auf dem Kopf stehenzubleiben.

Schon gar nicht, wenn er ein „feister Bürger“ geworden ist.

So erkennen wir Christen — und mit uns die Freiheitlichen in des Wortes ursprünglicher Bedeutung — immer mehr, daß es zweckvoll ist, im orthodoxen Marxismus nur eine Spielart des orthodoxen Liberalismus zu sehen. Marxismus der Weg, Weltherrschaft im Interesse einer Elite das Ziel. Was die einen von den anderen unterscheidet, sind nur noch Nuancen und ist vielleicht noch abstammungsbedingt.

Der Marxismus war einstmals echte und formell für Millionen begründete Hoffnung und Erlösungsglaube.

Lind nun die große Ernüchterung, die Moham-medanisierung des Marxismus, der nicht mehr Heilslehre ist, sondern sich als eine Summe von Rezepten zur Sicherung des Lebensstandards erweist, vor allem aber als Chance von Gruppen, für sich die soziale Frage höchstpersönlich zu lösen. Daneben stehen die vielen gläubigen Marxisten, denen wir in Achtung begegnen müssen, weil sie glauben und lieben können, die vielen, die „ihren Marx“ gelesen haben. Sie stehen nun da als reine Toren. Man läßt sie wohl noch die Schrift auslegen wie eh und je. Mehr aber nicht.

Daneben aber werden von den wissend gewordenen Neomandsten noch im Sandkasten die alten antikapitalistischen Kampf spiele vollführt. Freilich muß man - so in Wahlzeiten — den Antikapitalismus bereits dosieren, „befreit“ man doch nicht allein die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer, die man sich freilich, wie den Gottseibeiuns, nicht beim Namen zu nennen getraut, sondern umschrieben, als Kleingewerbetreibende bezeichnet. Sonst könnten sie, diese Ausbeuter im Rang von Greißlern und Schustern den Straßensängern von süßer Liebe und Altersversorgung, das Fenster zuscbjagen.

Neben den „restaurativen“ Marxisten sind bei- im Bereich des kontinentalen Sozialismus offensichtlich starke Kräfte am Werk - auch in

Oesterreich — die in echter Liberalität (eine im christlichen Raum übrigens keineswegs häufig anzutreffende Tugend) und unter Anknüpfung an die ursprünglich christlichen Wurzeln des Sozialismus, an die Befreiung der Ausgebeuteten, sie seien dieser oder jener Gruppe zugehörig, denken. Wir meinen die Gruppen des f r e i-heitlichen Sozialismus. Seine Anhängerschar wächst. Nicht allein unter den Intellektuellen (vor allem in Deutschland, es sei nur an Professor Schiller erinnert), sondern auch unter der Arbeiterschaft. Bei den Menschen, die jenseits von Doktrinen und kalten Glaubenssätzen ohne menschlichen Bezug, sich ein Leben in Wohlfahrt und in Freiheit erwünschen. Ihr Kampf ist oft ein heroischer und unbedankter.

Wenn die orthodoxen Marxisten (die durch das Phänomen der Macht zu Neomarxisten geworden sind), sich ihre „artgemäßen“ Kontakte suchen, warum sollten nicht die freiheitlichen Sozialisten, die den Christen in einer bemerkenswerten Weise nahegekommen zu sein scheinen, mit den bekennenden Christen ins Gespräch kommen? Ohne daß dabei vorweg das Problem der Parteien eine Rolle zu spielen hätte.

Der gemeinsame Wille zur Sozialreform als einem Konkreten, und nicht als einer Summe von Lehrsätzen allein, ist da. Es fehlt nur der Anstoß, den gerade der Tatbestand gegeben haben sollte, daß „sich die Kapitalisten Her Länder vereinigt haben“ und daß der Marxismus zu feinen Ursprüngen zurückgefunden hat, zu „deinem“ Hegel und zu seinem „Ricardo“. S.

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