6629563-1956_29_08.jpg
Digital In Arbeit

Die verzauberte Stadt

Werbung
Werbung
Werbung

Die „Kleinseite“, ein am linken Ufer der Moldau gelegener Stadtteil Prags, ist durch viele liebevolle Schilderungen bekannt geworden, am besten durch Jan Nerudas „Klein-seitner Geschichten“, die einst würdig befunden worden waren, in Reclams Universalbibliothek aufgenommen zu werden, und durch Gustav Meyrinks Romane und Erzählungen. Ausgezeichnet durch viele schöne und großartige Kirchen, wie zum Beispiel die Sankt-Nikolaus-Kirche von Ignaz und Kilian Dienzen-hofer, und durch zahllose Paläste im Barockstil, durch altertümliche Gassen und Höfe, durch verträumte Gärten und durch eine Fülle geschichtlicher Erinnerungen, die sich seit Jahrhunderten wie geologische Formationen über-einandergeschichtet haben, ist ihr Charakter, der sie von den andern altertümlichen Bezirken Prags unterscheidet, durch eine Reihe von historisch-soziologischen Umständen bestimmt, die sie zu einer verzauberten Stadt machen. In der alten Monarchie war sie der Sitz des Adels, der wichtigsten Aemter, der Statthalterei, der höchsten Gerichte und Militärbehörden, während sich die Stadt auf dem rechten Ufer ausdehnte und modernisierte und zum Handels- und Industriezentrum entwickelte, in dem die geschichtlichen Merkwürdigkeiten allmählich zu Museumsstücken inmitten einer neuen Welt wurden, erstarrte die „Kleinseite“ zu Füßen des Hradschins und blieb verstrickt in altertümlicher Isoliertheit und pittoreskem Verfall. Hier, wo einst, vor hundert Jahren, noch die großen Hotels und Gasthöfe standen, wurden die Gassen nun still und müde; Adelspaläste und Kirchen wurden in der österreichischen Zeit teils zu Kasernen umgewandelt, die Häuser bekamen Runzeln und die Gärten verwilderten auf die romantischeste Art. Während im neuen Prag, auf dem rechten Ufer, moderne Bauten sich erhoben, Industriepaläste und Kaufhäuser, blieb hier alles beim alten. Die Kaffee- und Gasthäuser hielten fest an ihrer Kleinseitner Tradition, und das bildete lange Zeit ihren Reiz. Die Sonntagsspaziergänger vom anderen Ufer bestaunten eine andere Welt, die mit anderen Menschen bevölkert war. Denn auch die Kleinseitner Menschen waren Sonderlinge geworden. Hier begegnete man den merkwürdigsten Figuren aus Meyrinkschen Romanen und Nerudaschen Erzählungen. Im Kleinseitner Kaffeehaus, das einst Cafe Radetzky geheißen hatte, gegenüber einem romantisch-heroisieren-den und doch sehr gemütlich wirkenden Denkmal saßen, bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, bei ihrem Kaffee Hofräte und pensionierte Offiziere, Gerichtsräte, Aktuare und altertümliche Damen, die alfe durch eine eigentümliche Denkungsart und eine eigentümliche Weise, sich auszudrücken, verbunden waren. Unweit davon gab e? und steht noch heute eines der berühmtesten Bierlokale Prags, „U Schnellu“ geheißen, zu dem Sachverständige des Pilsner Bieres, das hier aus dem tiefsten Keller, vom Faße verzapft, serviert wurde, aus den entferntesten Stadtteilen gepilgert kamen. Auf Schritt und Tritt aber setzt die Geschichte dem kleinbürgerlichen Leben ihre wuchtige Kulisse entgegen, und jedes Haus beginnt zu erzählen, wenn man träumend durch die Gassen der Kleinseite spazierengeht. Denn die hypnotische Macht dieser verzauberten Stadt zwingt zum Träumen. Hier steht Wallensteins Palast mit vielen Erinnerungen an längst vergangene Geschichte; da ist noch Wallensteins Pferd aus der Schlacht bei Lützen zu sehen, etwas ruppig und schäbig, aber doch das Original. Und kunterbunt anderes. Da ist der Palast des Grafen Kaspar Sternberg, mit dem Goethe eine lange und intime Korrespondenz geführt; Goethe war, wie aus Sternbergs Briefen hervorgeht, besonders an der Entstehung von Gewittern im „böhmischen Kessel“ interessiert, und Sternberg versorgte den neugierigen Universalisten mit ganzen Faszikeln von meteorologischen Aufzeichnungen. Hier, in der Badgasse, an der Fassade des ehemaligen Palais Wolkenstein, erinnert eine Gedenktafel daran, daß Beethovens Anwesenheit diese Stätte geheiligt hat. Gegenüber, in einem heute recht verfallenen Hause, dem einstigen „Badhotel“, wohnten nach den französischen Revolutionsstürmen der berüchtigte Fouchi, Karl X. von Frankreich, Chateaubriand und die Madame Recamier. Auch die Tochter Maria Antoinettes, die Herzogin von Angouleme.

Gleich hinter der Karlsbrücke, behütet vom gewaltigen Brückenturm aus vorsintflutlicher, gotischer Zeit, steht das Steinitzsche Haus, in dem der erste Schachweltmeister, Steinitz, zur Welt kam. Den meisten Besuchern Prags, ja selbst vielen Pragern unbekannt bleibt — weil aus unerfindlichen Gründen die Fremdenführer davon nicht Kenntnis nehmen — das Palais Wrtba in der Karmelitergasse, ein großer Komplex mit Höfen, einem sehr merkwürdigen gigantischen Herkulesdenkmal von Mathias Braun und einem den Berg hinansteigenden Park, dessen Schönheit mit der Ueppigkeit toskanischer Gartenanlagen wetteifern kann. Lieber barocke Treppen, flankiert von antiken Götterbildern von Offenbachscher Travestie, Sandsteinmonumenten von Mathias Braun, geht es in immer neuen Wendungen und Absätzen hinauf zu einem Plateau, von dem aus sich das Panorama Prags in einer einzigartigen Großartigkeit erschließt. Es ist der schönste Blick, den man von Prag haben kann, imposanter noch als der Blick vom eisernen Aussichtsturm auf der sogenannten Hasenburg, der auch noch zur Kleinseite gehört. Man sieht den Weißen Berg, wo einst die entscheidende Schlacht von 1621 geschlagen wurde, die langgestreckten Gebäude des Hradschins, den Dom und nun eine Kirche reben der andern, Kuppel an

Kuppel und Turmspitze an Turmspitze gereiht, eingebettet in das dichte Grün versteckter, unzähliger Gärten, man sieht die Altstadt, den breiten Fluß, die Brücken und das große Häusermeer in weitem Bogen sich bis zum Süden ziehen, zur Burg und Festung Wyschehrad.

Die Namen der Kleinseitner Straßen sind ein geschichtlicher Steckbrief; die meisten Gassen und Plätze sind noch immer nach katholischen Heiligen, nach Kirchen und Klöstern benannt: Thomasgasse, Maltheserplatz, Karmelitergasse, Grandprioratsplatz, Josefsgasse, Fünfkirchenplatz, Prokopsgasse, Johannesbergerl. Die Häuser und Paläste aber tragen die Namen der adeligen Geschlechter, die die Machtkämpfe der Geschichte widerspiegeln. Von dem böhmischen Uradel, der die Schlacht auf dem Weißen Berg überlebte und dem darauffolgenden Blutgericht entging, seien nur die Lobkowicz und Schwarzenberg, die Kolowrat, Kinsky, Wrbna, Wrtba, Dobrzensky, Chotek, Nostitz, Matinitz, Waldstein und Spork genannt. Sie alle hatten ihre oft großartigen Paläste auf der Kleinseite oder auf dem angrenzenden Hradschin. In der Zeit der Gegenreformation strömte habsbur-gisch-spanisch-burgundischer und habsburgisch-italienischer Adel ein: Bouquoi, Rohan, Matten-cloit, Silva-Tarroucca, Pallavicini, Montecuccoli, Orsini-Rosenberg, Sarracini, Colloredo und Clary-Aldringen. Hierzu kamen die Paläste der deutschen Adelsgeschlechter: Fürstenbelg (in dessen Palast heute das tschechoslowakische Informationsministerium untergebracht ist), Windischgrätz, Schönborn, Kaunitz, Thun-Hohenstein, Wolkenstein, Hohenlohe, Harrach und viele andere. Heute beherbergen alle diese Paläste nur Aemter oder Kleinbürger oder gar nur Mäuse.

Es gibt in Prag Spezialisten der „Kleinseite“, so wie es Sachverständige der Altstadt gibt. Sie kennen jeden Stein, jedes merkwürdige Türschild, jeden verborgenen Winkel und werden doch zeitlebens nicht mit Neuentdeckungen fertig. Wie erst ist der Fremde überrascht, unter sachkundiger Führung immer neue Plätze und Plätzchen zu entdecken, die wie ein Stück Italien anmuten. Viele Jahrhunderte lang haben ja tatsächlich italienische Architekten, Baumeister und Stukkateure an den Kleinseitner Adelspalästen gearbeitet. In den vier Jahreszeiten wechselt die Kleinseite ihr pittoreskes Bild. Im Winter, wenn frischer Schnee in dichten Ballen die barocken Heiligenfiguren auf der Karlsbrücke in Hermelin kleidet, im Frühling, wenn der Flieder mit berauschendem Duft ungebärdig über die alten Gartenmauern klettert, im Sommer, wenn die alten Dächer von gelbem Sonnenglanz überzogen sind, im Herbst, wenn die Dämmerung alles noch geheimnisvoller macht — wahrhaftig, man weiß nicht, wann der Kleinseite das Attribut „verzaubert“ mehr gebührt I

Aus dem Nachlaß

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung