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Die vorläufige Bilanz des Giulio Ändreotti

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Der 78 Jahre alte Giulio Ändreotti muß sich mit den Gerichten herumschlagen. Was bleibt vom einst so Mächtigen, der an die 50 Jahre lang die Geschicke Italiens bestimmte? Von der Größe des siebenmaligen italienischen Ministerpräsidenten scheint nur die Tiefe seines Falles übrig geblieben zu sein.

So stellt es auch die neue Ändreotti-Biographie des Auslandschefs des deutschen Wochenmagazins „Fo-cus“, Hanspeter Oschwald, dar: „Giulio Ändreotti - Aufstieg und Fall eines Mächtigen“. Viel Platz nimmt darin der Absturz des Pragmatikers ein, den der Pragmatismus an die Spitze, aber auch in den Abgrund führte. Mit dem Hutmachersohn auS der Ciociara, Heimat vieler Kardinäle und Politiker, kann man keine politischen Rechnungen mehr begleichen, aber die moralische Rechnung für alles, was unter, durch, neben und auch ohne ihn im Nachkriegsitalien passierte, bekommt er jetzt beinhart präsentiert.

Vor einem halben Jahr besuchte ich Giulio Ändreotti in seiner Privatwohnung im Herzen Roms. Der Politiker, den stets eine Aura des Geheimnisvollen umgab, wirkte trotz der anstehenden neuen Prozeßrunde völlig ruhig und stellte sich eineinhalb Stunden lang allen Fragen. Der alte Mann, der überhaupt nicht gebrechlich wirkt, sieht wohl ein, daß es in Italien nicht gelungen ist, die gesetzgebende Gewalt der Regionen zu stärken, obwohl das die Absicht der Konstituante gewesen ist, deren Mitglied Ändreotti 1948 war. Heute bekennt er die Fehler des Zentralstaates, die besonders nach der Industrialisierung des Nordens zum Vorschein kamen. Dem, wie er sagt, „diffusen Gemütszustand*“ des italienischen Nordens, der nicht die Gefahr einer Sezession, wohl aber die einer Anarchie beinhalte, müsse Rom mit einer großangelegten Dezentralisierung und echten Föderalisierung begegnen. Das gilt seiner Ansicht auch für das vereinigte Europa als neuer Rechts- und Autoritätsquelle.

Er plädiert für eine Reform der Verfassung, „und zwar mit Courage“. Nicht nur den Regionen sollte mehr Kompetenz zugestanden werden - vor allem im Resteuerungssystem -, auch der zentrale Verwaltungsapparat müßte verkleinert und die Dezentralisierung selbst auf Regionalebene vorangetrieben werden. Viel verspricht er sich von einer Parlamentsreform nach österreichischem oder deutschem Vorbild: Der Senat, die zweite Kammer, sollte in eine Kammer der regionalen Repräsentanten umgewandelt werden.

Von der Parteienlandschaft werde es abhängen, in welche Richtung sich Italien weiterentwickelt. Eine Wiedergeburt der Democrazia Cristiana hält Ändreotti auch deshalb nicht für möglich, weil in Italien die Tendenz zur Bipolarität - Mehrheit und Opposition - anhalte. Er selbst bevorzugt nach wie vor „für ein so vielseitiges Land wie Italien“ ein Proporzsystem mit Fünf-Prozent-Hürde. Auf lange Sicht könne sich in Italien ein echtes Mitte-Links-Zentrum mit der zu europäischen Sozialdemokraten gewandelten postkommunistischen PDS, den drei größeren Zentrumsparteien CCD, CDU und PPI (früher alle DC) und der neuen Partei von Ex-Ministerpräsident Lamberto Dini (Rinno-vamento Italiano) entwickeln. Wenn sich die PDS weiter demokratisch entwickle, könnten sich ihr viele Katholiken anschließen, meint Ändreotti, der eine Zusammenarbeit von katholischer Soziallehre und Sozialdemokratie für gewisse Aspekte für durchaus normal hält. Er verweist auf einen „großen Bedarf nach Evangelisierung nicht nur in den Missionen, sondern auch hier bei uns in Italien“, weil sich die Bevölkerung bei wichtigen Entscheidungen - wie Scheidung oder Abtreibung - nicht sehr an die christliche Soziallehre gehalten habe.

Daß in Italien kein Stein auf dem anderen geblieben und die DC zerfallen ist, erfüllt ihn mit Traurigkeit: „Es war nicht richtig, ihren Namen zu ändern, wir waren schließlich eine Partei, der das Verdienst zukam, eine außerordentliche Verwandlung unseres Landes durchgeführt zu haben. Ich akzeptiere in keiner Weise, daß man die historische Rolle der DC abwertet.“ Ändreotti hat keine Macht mehr, ein Denker und Analytiker ist er allemal. Das geht auch aus Osch-walds Buch hervor, obwohl es sich meiner Meinung zu sehr auf die Mafia-Rolle, Andreottis konzentriert, ohne sie wirklich ausleuchten zu können. Ändreotti wird eher an den unaufgeklärten Mordfällen und Skandalen seiner Zeit denn an seinen Leistungen gemessen. Sein Leben erscheint in dieser Beleuchtung nach außen vatikanisch gelb-weiß, nach innen sündig schwarz. Natürlich ist das ganze aufgezeigte Versagen im Umfeld Andreottis wirklich passiert: Es gab keine Hilfe für Aldo Moro, es gab Schweigegeld für den Journalisten Pecorelli, der später ermordet wurde, Bekanntschaften und Querverbindungen zu allen in den Ambrosiana-Bank-Skandal und den Mordfall Cal-vi Verwickelten, starke Fäden zur Cosa Nostra. Aber ist Ändreotti strafrechtlich überall schuldig? Er hat, wie er nicht ohne Stolz anmerkt, der Mafia entscheidende Schläge versetzt. Eine Antwort darauf kann auch Osch wald nicht geben. Ändreotti versteht die Prozesse in Palermo und Perugia als Buße für-sein Leben, als vorweggenommenes Fsgefeuer, glaubt aber, daß die Anschuldigung der Mafia-Nähe seinem Image nicht geschadet habe: „Die Leute kennen mich seit 50 Jahren und niemand hat seine Achtung vor mir verloren. Ich empfinde diesen Prozeß, diese Beschuldigungen der sogenannten reuigen Mafiosi, als einen politischen Kampf der Mafia gegen meine Person, denn ich habe immer nur strenge Gesetze gegen die Mafia durchgebracht. Ich hoffe, daß nicht allzuviel Zeit verstreichen wird, bis dies auch im Prozeß klar wird.“

Ändreotti sieht die historische Chance, die Politik der Mitte mit jener der Linken zu versöhnen und für Europa fruchtbar zu machen. Hier lebt auf einer historisch anderen Ebene Aldo Moros Politik des NichtMißtrauens gegenüber Sozialisten und Kommunisten fort.

GIULIO ÄNDREOTTI

Aufstieg und Fall eines Mächtigen. I 'on Hanspeter Oschwald Herder Spectruin, Freiburg 1996. , 191 Seilen, Tb, öS 125,-

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