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Die Voyeure mit der Fernbedienung

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Bis in die sechziger Jahre hinein gab es in Österreich den sogenannten „Kuppelei-Paragraphen". Das hieß: Jeder Vermieter, der eine Räumlichkeit an ein nicht verheiratetes Paar weitergab, mußte damit rechnen, angezeigt und bestraft zu werden, und in vielen Fällen geschah das auch.

Zoomen wir uns nur ein Viertel-Jahrhundert weiter: Im Fernsehen läuft eine Show, in der junge, wohl ausgesucht fesche Menschen beiderlei Geschlechts in einem quizartigen Verfahren miteinander bekannt gemacht werden.

Das „Siegerpaar" darf auf Fernsehkosten ein Wochenende an einem tollen Ort verbringen, mit allem Drumherum, natürlich in einem gemeinsamen Zimmer. In einer der folgenden Sendungen berichten sie dann, wie sie miteinander zurechtgekommen sind.

„Herzblatt" heißt die Sendung, und was die Zuseher in Wahrheit interessiert, ist natürlich nur: Haben sie miteinander oder haben sie nicht...?

Sechziger Jahre: Liebende sind auf Heuschober angewiesen oder auf die elterliche Wohnung.

Neunziger Jahre: Das Fernsehen als öffentlicher Kuppler.

Was ist da passiert? Wie ist ein solcher Kulturbruch innerhalb von nur einem Vierteljahrhundert möglich?

Um nicht mißverstanden zu werden: Daß sich die Moralinsäure früherer Jahrzehnte aufgelöst hat, ist ein Segen. Wer auf die „gute alte, moralische Zeit" verweist, muß sich fragen lassen, wie gut und alt und moralisch diese Zeit in den dreißiger, vierziger Jahren gewesen ist?

Dem kalt geplanten Mißbrauch fast aller höheren Werte im Dienst der nationalsozialistischen Idee „verdanken" wir seitdem eine fast pathologische Scheu vor dem Höheren und vor Idealen, eine Unmöglichkeit, Werte und Worte wie Vaterlandsliebe, Mutterglück, Treue, Kameradschaft et cetera ohne bitteren Geschmack im Mund auszusprechen.

Wenn der Psychoanalytiker H. Löwenfeld 1976 von einem „Zeitalter der Schamlosigkeit" spricht, dann meint er teilweise das vergiftete Erbe der Nazis.

Natürlich ist das aber nur ein Teil der Erklärung. Schamlosigkeit als gesellschaftliche Übung ist keine „Errungenschaft" der Jetztzeit.

Es gab sie schon im Zeitalter der griechischen Sophisten, im Frankreich Ralzacs und Stendhals, in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, um nur einige Beispiele zu nennen, die der Psychoanalytiker Leon Wurmser in seinem Ruch „Die Maske der Scham" anführt.

Noch nie aber gab es öffentlich geübte, teilweise sogar eingeforderte Schamlosigkeit in einem Ausmaß, wie es heute durch die Medien, vor allem durch Fernsehen, in jeden Haushalt, an jeden Arbeitsplatz gebracht wird, und sich wie eine Flut schmutzigen Wassers über das ganze Land ergießt.

Die Art und Weise, wie mit Geheimnissen öffentlich umgegangen, wie Intimität zur Schau gestellt, bloßgelegt wird, wie die Schamgrenzen von Menschen bedenkenlos verletzt werden; wie selbst die schmutzigste Wäsche *vor eingeladenem Studio-Publikum, in Wahrheit aber vor Millionen Zusehern gewaschen wird; wie geheimste Eigenheiten und Wünsche, Ängste und Nöte und Verletzungen als Zündstoff der Volksbelustigung gebraucht werden all das ist Ausdruck eines eigenartigen und faszinierenden gesellschaftlichen Prozesses, dessen Teil jeder ist, ob er will oder nicht.

Euripides hat in „Medea" die Schamlosigkeit „die schlimmste aller menschlichen Krankheiten" genannt.

Und Nietzsche hat im vergangenen Jahrhundert diese Einstellung exakt beschrieben - es ist die Einstellung fast aller TV-Talkmaster, sie paßt für einen Großteil der News-Re-richterstattung, für Reality-TV, aber natürlich auch für die Regenbogenpresse, deren Reporter oft wie die Hyänen noch vor der Polizei bei Verwandten von Mord- und Katastrophenopfern nach Fotos und sonstigen spektakulären Zeugnissen schnüffeln. Nicht selten sind Reporter die Erstverkünder der Hiobsbotschaft.

Nun also Nietzsche: „Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der ,modernen Ideen', vielleicht nichts so ekelerregend wie ihr Mangel an Scham. Ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an alles gerührt, geleckt, getastet wird ..."

Eine Philippika gegen die TV-Macher, gegen die Sendungsverantwortlichen, gegen die Talkmaster träfe aber die Falschen. Sie suchen nach Redürfnissen, testen den Markt ab, finden heraus, was „ankommt". Die Nachfrage bestimmt die Ware. Die Zeiten, wo journalistischer Ethos viele Geschmacklosigkeiten von selbst verbot, sind lange vorbei, vielleicht gab es sie nie.

Wir alle, die wir Fernsehapparate haben und gebrauchen, rühren mit, lecken mit, tasten mit, wenn die Gäste von „Vera", „Help-TV", Meiser, Fliege oder Schäfer „aufgemacht" werden, wenn unter dem Vorwand der Tabulosigkeit oder des Helfens Menschen mit ihrer Privatheit Programm machen, ohne dafür auch nur annähernd bezahlt zu bekommen. Im Gegenteil: sie zahlen einen sehr hohen Preis, nicht selten mit der Aufgabe ihrer letzten, höchsteigenen, mühsam aufgebauten Würde.

Die wahren „Sendungsmacher" sind also alle, die TV konsumieren. Ihre (also unsere) Bedürfnisse bestimmen das Angebot. Ein kollektives Abdrehen bei den fraglichen Sendungen würde sehr rasch medienhygienische Folgen haben.

Der deutsche Psychologe und Psychoanalytiker Micha Hilgers referierte jüngst auf dem Weltkongreß für Psychotherapie in Wien über das Phänomen der „infraroten Schamlosigkeit", über „Exhibitionismus, Voyeurismus und die elektronischen Medien".

Er meinte unter anderem: „Ein Schwärm von Journalisten wartete bereits, als sich die Angehörigen der Flugzeugkatastrophe vor der Dominikanischen Bepublik im Flughafengebäude einfanden - viele von ihnen noch ahnungslos.

Bei laufenden Kameras und eingeschalteten Mikrophonen erhielt mancher die Nachricht vom Tode seiner Nächsten aus dem Munde eines Beporters: „Wie fühlen Sie sich? Sagen Sie doch etwas!"

Der englische Satiriker Jonathan Swift hat in „Gedanken zu verschiedenen Themen" geschrieben: „Daß Menschen böse sind, erstaunt mich nie. Aber ich wundere mich oft, daß sie sich nicht schämen."

Hilgers wies in seinem Beferat darauf hin, daß durch die brutale Distanzlosigkeit der Medien die noch unter Schock stehenden Opfer von Katastrophen jeder Art keinen Intimitätsschutz genießen, der ihren Schmerz und ihr Leid vor den Augen der Welt verbergen würde.

Im Gegenteil: „Die Betroffenen sind durch die Zurschaustellung ihrer unmittelbaren emotionalen Be-aktionen einer weiteren traumati-sierenden Verletzung ausgesetzt. Noch während des unmittelbaren Einflusses des ersten Traumas kommt ein zweites durch den Übergriff der Medienöffentlichkeit auf die eigene Intimität hinzu."

In bezug auf diverse Talkshows analysiert Hilgers, daß sie häufig ein Wechselspiel von Exhibitionismus und Voyeurismus (den Wurmser übrigens Skopophilie nennt) wären. Es seien die Teilnehmer beider Seiten mit Gewinn bei der Sache: dadurch, daß häufig in unverschämter oder schamloser Weise über Themen gesprochen werde, die einem strengen Tabu unterliegen, werden Schamgrenzen überschritten.

Das ermöglicht eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Funktion einer Perversion liege nicht, so Hilgers, im Fehlen von Scham, sondern in deren Kontrolle.

Der Talkshow-Gast, der sich enthüllt (nicht selten auch auf Kosten seiner sozialen Umwelt, der Familie und Freunde), macht die Zuschauer durch seine exhibitionistische Darstellung zum kontrollierten und ohnmächtigen Objekt seiner Enthüllung.

Er genießt die Größenphantasie, im Medium Fernsehen Mittelpunkt zu sein und sich als mutig und progressiv erwiesen zu haben. Er ist das Wagnis eingegangen, vor Millionen Geheimstes auszuplaudern oder zu zeigen. Die feige Daheimgebliebenen sind die Blamierten, nicht er (oder sie).

Und umgekehrt der Fernseher wähnt ebenfalls, im Besitz der Kontrolle zu sein. Als Voyeur mit der Fernbedienung in der Hand kann er die Befriedigung genießen, erstens „Verbotenes" zu sehen und zweitens nicht derjenige zu sein, der sich soeben enthüllt und möglicherweise blamiert.

Beide Parteien bearbeiten Schamszenen, „indem sie sich gegenseitig zum Objekt der Beschämung machen, sich selbst aber außerhalb der Demütigung wähnen" (Hilgers).

Diese implizite Bedürfnisübereinstimmung von Zuschauern und Teilnehmern macht die peinlichsten Sendungen oft zu den erfolgreichsten. Es wird zwar Intimes gezeigt, aber es ist Pseudo-Intimität. „Schamlosigkeit", so Hilgers, „kann kein Ziel sein, ist keine Erlösung, noch sexuelle Befreiung, sondern Verlust der Erlebnisfähigkeit.

Scham - in Maßen - ist das Gefühl, das die Grenzen des Selbst und jene der anderen schützt. Ihre Überschreitung führt zum Verlust der Achtung - des Fremden wie des Eigenen."

Scham ist es, die zu Identifizierung auffordert, zu Solidarität, wenn man andere in peinlicher Lage sieht.

Schamlosigkeit aber leugnet die Peinlichkeit und Not der Lage. Schlimmer noch: sie macht den Schutz- und Abwehrmechanismus der Scham lächerlich.

Und Spott ist nach Dostojewski „die schnellste Tötungsart". Eine schamlose Gesellschaft gibt Bespekt und Würde preis, und den Schutz der Humanität.

Das ist wohl die große Gefahr der schamlosen Gesellschaft, zu der wir unterwegs zu sein scheinen.

Der Autor ist

Wissenschaftsjoumalist in Wien.

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