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Die Waffe des Westens?

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In diesem Spätsommer und Frühherbst 1961, in dem der weltpolitische Konflikt in vielen Menschen die Angsl und die Sorge mobilisiert hat, die am Grunde jedes Menschenlebens lauern, ist wieder einmal die bange Frage aufgestanden: Wie groß sind die Kräfte des Westens? Welche Kräfte, welche Potentiale kann der Westen noch mobilisieren, um sich im Widerstand selbst zu behaupten? Was liegt da näher, als sich jener Bewegung zuzuwenden, die sich selbst als d i e Ideologie und als das einzige Rettungsmittel des Westens versteht? Eine Bewegung, deren Aufruf „Die Tapferen entscheiden“, durch die Propagandamittel unserer Zeit annähernd eine Milliarde Menschen erreichte und deren Gründer und Sprecher, Frank Buchman, in eben diesem kritischen Spätsommer im hohen Alter von 83 fahren in Freudenstadt im Schwarzwald die Welt verließ, für deren Änderung er rastlos gekämpft hatte.

Moral Rearmement, die „Moralische Aufrüstung“, wie sie selbst sich nennt, ist eine Bewegung unserer Zeit, die Stürme von Enthusiasmus und Ströme von Begeisterung ausgelöst hat, und, in Reaktion, so manche Entrüstung: die scharfe Ablehnung nicht nur von seiten der angegriffenen Kommunisten, sondern auch von Hierarchen und Gliederungen des Weltkatholizismus und von protestantischen Theologen, die in ihr einen Abfall vom Christentum sehen. Nach dem Tod Frank Buch- mans ist die Moralische Aufrüstung selbst an einem kritischen Punkt angelangt, an einem Wendepunkt ihrer Geschichte: Ihre weitere Geschichtsmächtigkeit wird davon abhängen, ob sie in einem schöpferischen Verzicht in strenger Selbstkritik ihren Weg seit 193 8 überprüfen und sich selbst ändern wird, oder ob sie auf der breiten Straße der Publicity, der Politisierung, der Massenbearbeitung weitermarschieren, dergestalt versanden und auf dem Schutthaufen landen wird, auf dem so viele große Hoffnungen Europas vom 18. zum 20. Jahrhundert verramscht wurden.

Es gehört zu den großen Verdiensten der Moralischen Aufrüstung, daß man ihr gegenüber nicht als ein „man“ Stellung nehmen kann; sie spricht den einzelnen, das Ich, die Person direkt, sehr direkt an, fordert von ihm ein Bekenntnis, eine klare Stellungnahme als Mensch, Individuum, als Person. Ihre großen Erfolge hat die Moralische Aufrüstung überall dort erzielt, wo es ihr gelang, einzelne in ihrem Personkern anzusprechen, zu „ändern“, und durch diese ergriffenen einzelnen Massen zu bewegen.

Nur als ein Ich, eine Person, kann man redlich Stellung nehmen zur Moralischen Aufrüstung. Ich habe der ersten Gruppe von Österreichern angehört, die nach diesem zweiten Weltkrieg, 1947, nach Caux, ins europäische Zentrum der Moralischen Aufrüstung, kamen. Ich habe dort unvergeßliche Eindrücke empfangen. Einigen bedeutenden Menschen dieser Bewegung weiß ich mich in Freundschaft verbunden. Vielleicht wird die Kritik, die heute hoch an der Zeit ist, und die an die Adresse von Caux eine Einladung zur Selbständerung, zur Selbsterhellung ist, einige dieser Menschen erreichen. Um von anderer Seite nicht mißverstanden zu werden: Diese Kritik steht ebenso fern einer hemmungslosen Bewunderung wie jener säuerlichen, nicht selten hämischen Ablehnung, die manche Katholiken der Moralischen Aufrüstung gegenüber empfinden, da sie in ihr nur einen sehr erfolgreichen Konkurrenten sehen mit schier unerreichbaren Mitteln der Propaganda und Selbstverklärung.

Gründer zweier Bewegungen

Frank Buchman, der Gründer und große Beweger zweier Bewegungen, der Oxford-Bewegung und der Moralischen Aufrüstung, stammt aus St. Gallen und begann in England als Studentenseelsorger. Schweizerische Zähigkeit, Nüchternheit, Klugheit und Sinn für Realitäten vereinigte er mit der Ergriffenheit englischer Sekten und nonkonformistischer Bewegungen. Unverkennbar, und für den Mitteleuropäer überraschend, bricht in den Meetings der Moralischen Aufrüstung ein Enthusiasmus auf, urverwandt den Revivals, den Begeisterungsstürmen in den Erweckungsbewegungen des erneuerten Kalvinismus und des frühen Methodismus. „Die Kinder des Lichts“ greifen unter Führung des Heiligen Geistes zu den Waffen, um gegen die „Kinder der Finsternis“ zu kämpfen. Hier, in diesem religiösen Urerlebnis angelsächsischer Puritaner und Schwärmer des 16. bis 19. Jahrhunderts, ruht bereits die Achse, um die sich später, in Buchmans zweiter Bewegung, alles drehen sollte. Die tiefgreifende Politisierung der Moralischen Aufrüstung ist bereits in einem Kern der religiösen Erfahrung ihres Gründers angelegt.

Der junge Buchman ist ein Mann, der mit Recht unzufrieden ist mit den Zuständen in Europa, in der Christenheit, in seiner englischen Kirche. Er geht als Missionär nach China, nach Japan. Er lernt dort, und früh auch schon in Indien, Männer kennen, die das Gesicht ihrer Völker verändern und die-y ltgeschichte.. machet).: 1Ä15 begegnet,-er Gandhi und führt in Kanton Jange, Gespräche mit Eft. Sun .Yat-sen, in Japan mit Baron Shibusawa, einem der großen Pioniere der Industrialisierung Japans. Mit Recht erinnert Theophil Spoerri, der bekannte Schweizer Romanist, einer der reinsten Geister der Moralischen Aufrüstung, in seinem Gedenkartikel für Buchman an diese heroische und bedeutungsvolle Frühzeit dieses Mannes.

Das entscheidende Erlebnis

Dieser junge Buchman ist ein Mann der jüngeren Oxford-Bewegung (die zu unterscheiden ist von der älteren Oxford-Bewegung, aus der New- man erwuchs), die in der Zeit um den ersten Weltkrieg eine wache Jugend und Intelligenz in England und Skandinavien ergriff. Ihr Leitmotiv war: Du mußt dich ändern. Frank Buchmans entscheidendes Erlebnis datiert von 1908. Wie ein Blitz traf ihn der Anblick des Kreuzes Christi. „In England, im Seengebiet, zeigte mir Gott eines Tages die kostspieligen Folgen meines Stolzes und meines Materialismus. Ich gab es zu. Das ist der erste Schritt: Werde ehrlich mit dir selbst. Ich sagte: Es tut mir leid.“

Die Oxford-Bewegung kannte nur dieses eine absolute Gebot: absolute Ehrlichkeit und praktizierte es in ihren Meetings in öffentlichen Sündenbekenntnissen, in Laienbeichten. Da diese leidenschaftlichen Sündenbekenntnisse sehr tief die Intimzonen der Person aufrissen, den Untergrund des Sexuellen bloßlegten, setzte hier die erste und härteste Verurteilung der Bewegung von seiten katholischer Bischöfe und Theologen an.

Eben diese Oxford-Bewegung, der sich naturgemäß mehr introvertierte Typen anschlossen, die „Führung“ durch das „innere Licht“ suchten (wir erinnern uns an Newmans ergreifendes Gebet „Lead, kindly light“), war in jeder Hinsicht noch tausende Meilen entfernt von der Moralischen Aufrüstung, einer politischen Bewegung in der Hand cleverer Manager der Macht und des großen Geschäfts, der „heiligen" Interessen der westlichen Welt.

Nur kurz kann hier diese Entwicklung angedeutet werden. Frank Buchman hat von den großen Männern, die Geschichte machen, in

Asien einen unauslöschlichen Eindruck empfangen. Hier sah er, mit allen Augen seines wachen eigenen Weltwesens, was sich aus Menschen „machen“ läßt, wenn sie geformt, umgeschmolzen werden im Schmelztiegel des Enthusiasmus, gepaart mit großer Willenskraft, mit der Härte von realistischen Plänen. Die Welt „ändern“: Marx, Lenin und Stalin setzen hier ihrerseits an. Buchman tritt ihnen auf der anderen Seite gegenüber. Er hofft, für dieses große, notwendige und heilige Geschäft der Änderung aller Verhältnisse charismatische Führer in der westlichen Welt zu finden. Zunächst in Mussolini und Hitler.

„Ich danke dem Himmel für einen Mann wie Adolf Hitler, der eine Verteidigungsfront gegen den kommunistischen Antichrist errichtet hat.“ Frank Buchman sagt dies in jenen entscheidungsschweren Jahren der Vorbereitung des zweiten Weltkrieges, in denen auch nicht wenige Führer des Weltkatholi- ziismus und protestantische Theologen den „Führer“ Adolf Hitler als Führer im „Kreuzzug gegen den gottlosen Bolschewismus“ sehen. Im heißen Klima dieser Jahre entsteht aus der Oxford-Bewegung die Moralische Aufrüstung. 193 8 gewinnt sie ihren Sitz in Caux und versteht sich von nun an als ein Über-Rom (nicht ganz offen eingestanden), eine pontifikale Einigung aller Religionen, und, sehr eingestanden, als ein Über-Moskau, als das einzige Waffenzentrum, das Moskau überwinden kann. Diese neue, religiöspolitische Bewegung erweitert das Bekenntnis von einem Absolutum auf vier Gebote, Selbstverpflichtungen ihrer Mitglieder: absolute Ehrlichkeit, absolute Reinheit, absolute Liebe, absolute Selbstlosigkeit.

Zwei Führer fielen aus

Nach dem Ausfall der charismatischen Führer des Westens, des Duce und des „Führers“, kommt nur noch e i n „leader“ („Führer“ ist der alte Heilsname in den enthusiastischen Bewegungen der Puritaner und verwandter religiöser Denominationen), e i n Führer in Betracht: Frank Buchman. Frank Buchman gelingt es nun, mit großer Tatkraft, Menschen und Mittel um sich zu sammeln: Aktivisten — nicht mehr die introvertierten, nach innen gekehrten, sinnend-besorgten, spirituellen Typen der Oxford-Bewegung, sondern junge, aus dem Krieg heimkehrende Männer und Frauen, die ihr Leben in den Kampf werfen wollen für eine „bessere Welt“.

Ich habe nie wieder in meinem Leben so viele prächtige, junge, inner lieh junge Menschen in so großer Zahl und vereint in Brüderlichkeit gesehen wie in Caux 1947.

Diese Menschen führt der Leader, der Führer der „inspirierten Demokratie“, Frank Buchman, in die Schlacht: überall dorthin, wo es brennt. Im Europa nach 1945 in die ersten Auseinandersetzungen zwischen Deutschen einerseits, Franzosen, Belgiern usw. anderseits. Männer und Mädchen der Moralischen Aufrüstung bilden Teams, die zunächst an den kritischen Punkten der westlichen Welt eingesetzt werden: in großen Arbeitskonflikten in den USA, in Europa, im französischbelgischen Kohlen- und Stahlrevier, im englischen Grubenrevier, im Ruhrgebiet. Früh wird Afrika einbezogen: mit einem weltpolitischen Blick, der in manchem an die jungen Generalstäbler der frühen Gesellschaft Jesu erinnern, die Indien, China, Japan, beide Amerika und ganz Europa im Auge, Hirn und Herzen sehen, erfaßt Buchman und sein engster Führungsstab, ein kleines Team hochbegabter Männer und Frauen, Brennpunkte der Auseinandersetzung: die erwachenden Völker in Afrika, das Ringen in Indien und Indonesien, in Südamerika. Erstaunliches und Bedeutendes ist da, in diesen Jahren von 1945 bis 1960, geleistet worden. Unter der Fahne der Moralischen Aufrüstung sind Söhne und Töchter Europas und der weißen Hemisphäre hinaus- und hinübergezogen, um in Asien, Afrika und Südamerika Menschen, Völker und Verhältnisse zu ändern. Um gegen „d a s Böse“ zu kämpfen. Wobei als das Böse und als der Böse der Kommunismus verstanden wird und praktisch sehr bald alles, was sich der Moralischen Aufrüstung und ihrem Heilsanspruch widersetzt. „Wer nicht mit mir ist, ist wider mich", ist ein Anhänger des Bösen. Einen Tiefpunkt erreicht die Moralische Aufrüstung auf dem Höhepunkt ihrer Propaganda: in einer Druckschrift, die in Millionen Exemplaren allen deutschen Haushalten zugestellt wird, denunziert sie alle Gegner des gottgesandten Führers Adenauer als Bösewichte, Handlanger des Teufels, des Kommunismus.

Caux auf dem Scheideweg

Es ist hier nicht der Ort, das Grelle, sich Überschlagende, Marktschreierische dieser Propaganda, die ihr Maß nicht findet und ihr Ziel überschießt, in den letzten Jahren nochmals zu fixieren. Hier läuft auf immer heißeren Touren ein riesiger Motor seinem Leerlauf zu. Wichtiger ist ein anderes, bedeutsam für den Westen, für die

Moralische Aufrüstung, für ihre Mitglieder, Freunde, Gegner: die Einsicht: So geht es in einem guten Sinn nicht mehr weiter. Was aber dann? Was aber nun? Soll der riesige Aufwand vertan sein, sollen die prächtigen Menschen, die sich, ihr Leben, in den Dienst dieser für sie heiligen Sache gestellt haben, verheizt werden? Und in unguten Bränden verbraucht werden, da der Ansatz verdorben, das Licht verunreinigt ist — genau seit jenen Tagen am Vorabend des zweiten Weltkrieges, in denen falsche Führerhoffnung und falsche Angst die echte Universalität des Anfanges verdarben?

Die stärkste Kraft, die wahre Macht des Westens, die Grundlage seiner innersten Überlegenheit über so viele seiner inneren und äußeren Feinde, besteht in einem einzigen Vermögen: in der Kraft und im Willen, sich selbst zu reformieren, sich selbst zu durchschauen, die eigenen Wege zu entwir-

ren, und mögen sie auch Jahrhunderte und Jahrtausende verworren sein. Kraft des Westens ist Kraft seiner Reformen und Reformationen, seiner Renaissancen, seiner Wiedergeburten. Für die Moralische Aufrüstung würde dies bedeuten: die tägliche Gewissensforschung in der „stillen Stunde“ — „ich muß mich ändern“ — wirklich fundamental zu betreiben. Freunde und Gegner der Moralischen Aufrüstung hatten und haben seit Jahren den Eindruck, daß eben diese Selbstverpflichtung, das erste und letzte Gebot der Moralischen Aufrüstung, wohl von den Anhängern und Gliedern verlangt und praktiziert, von den maßgebenden Führern aber nicht mehr verstanden wurde. Ihr beinharter, geistloser und liebloser politischer Propagandismus wäre sonst undenkbar. Kann Caux sich selbst reformieren? Caux, von dem in diesen letzten Jahren so viele Parolen des kalten Krieges ausgegangen sind, hat auch ein Wort geprägt, das heute und morgen als Gericht und Verheißung über ihm schwebt: „Du bist so weit von Gott wie von deinem ärgsten Feind.“ The heart of matter, das Herz aller Dinge: Caux steht hier am Scheideweg. Sein weiteres Scheitern auf dem Weg von 1938 führt in keine gute Zukunft und schwächt den Westen, dem es helfen will, indem es ihm beste Kräfte verdirbt, verführt durch schlechte Verwendung. Die Frage — findet die Moralische Aufrüstung neue Wege? — ist in diesem Sinne ein Teilstück der Existenzfrage des Westens: Wie viele, gute und beste Kräfte wurden hier vertan, schlecht verwendet, da der Anfang und das Ende, der Ursprung und das Ziel aus dem Auge verloren wurden. Nur an der Kraft zur Selbstreform kann man die gute Macht von Bewegungen erkennen, die sich auf Gott berufen und die das Angesicht der Welt und des Menschen erneuern wollen.

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