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DIE WAHRE HEIMAT

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Diese Worte richtete der bekannte Dichter Edzard Schaper, der selbst seine Heimat verloren hat, in der Stadthalle Stuttgart-Sindelfingen an die geflüchteten und vertriebenen Deutschen. Der vollständige Text ist bei Jakob Hegner erschienen.

Über die Vertreibung des Menschen schwebt am Anfang der Menschheit in der Heiligen Schrift das Schwert des Engels, der Schuld wider Gott mit Austreibung straft, nach Gottes Willen. Stehen Peitsche, Kolben und Pistolen in unserem Zeitalter der Ideologien und der Austreibungen nach den widergöttlichen Doktrinen der Ideologien in einem auch nur irgendwie gleichgearteten Verhältnis der Schuld deutschen Volkstums zu jener Schuld des ersten Menschenpaares in seinem Aufruhr wider Gott?

Niemand wird das behaupten wollen oder behaupten können. Vertreibung des Menschen oder einer Volksgruppe um ihres So-Seins, um ihrer Nationalität, ihres Standes, ihres Glaubens willen, kann immer nur versuchen, Rechtfertigung in der Priorität der nackten Gewalt zu finden. Aber solche Rechtfertigung kehrt sich — wie wir es am katholischen polnischen Volk gewahren — letztlich wider die Einheit des Volkes selbst und wider die Einheit des christlichen Glaubens, und ihre tragischen Folgen sind nicht abzusehen.

Anderseits, um der Gerechtigkeit willen: Wieviel Vertriebene sühnen mit dem härtesten Los der Austreibung aus dem „Paradies”, als das ihnen ihre alte Heimat heute erscheint, vielleicht auch Untreue gegenüber dem Staatswesen, in dem ihre alte Heimat lag, und gegenüber dem Staatswesen, in dem ihre alte Heimat lag, und gegenüber seinem Staatsvolk in der Stunde, da es schwach gegenüber dem starken Angreifer ihres eigenen Volkstums war? Das ist eine Frage ans Gewissen, und ich sage Ihnen: ich habe zu lange in fremden Staaten gelebt, als daß ich diese Gewissensfrage ungestellt sein lassen dürfte. Dehn nichts hat das Teufelsblendwerk des Nationalsozialismus raffinierter in seine Dienste zu stellen verstanden und nichts schmählicher mißbraucht als: den Idealismus der Jugend, die Treue, die man den Deutschen zu Recht oder zu Unrecht nachsagt, und die Institutionen der Selbstverwaltung, die das Deutschtum sich dort, wo es seit Jahrhunderten geschlossen siedelte, geschaffen hatte, als es sie von Berlin aus lenkte und mit dem demagogischen Raffinement der Fünften Kolonne im Zeichen eines weltdeutschen Idealismus in den Dienst der angestrebten Weltsklaverei zu stellen versucht hat.

Der Hinweis darauf, wir hätten „hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchten wir”, scheint zum aus-

gedroschenen Stroh christlicher Ausflüchte für geistige Notherbergen zu gehören, ja vielleicht nicht einmal zu soviel, sondern er mutet die meisten an wie Spreu, die man sich zur Verblendung für die harte Wirklichkeit pastoral in die Augen streut. Und dennoch ist es ein Wort von soviel Kurswert in der menschlichen Wirklichkeit, wie einem in der Not von Flucht und Fremde zu gültiger geistiger Währung werden kann: gültiger Währung, deren Parität mit dem eigenen Verlangen nach Bleibe und Heimat im Umherirren und in der Fremde sich immer neu erweist durch den Glauben.

Was ist Bleibe? Bleibe ist nicht „die bleibende Statt”, welche das Evangelium meint, denn die liegt außerhalb des irdischen Bereiches. Bleibe ist, abgesehen davon, daß sie in der Gegenüberstellung zur Flucht Bestandteil des Titels einer Sammlung von Gedichten eines geflüchteten estnischen Dichters ist — Bleibe ist auch in der Interpretation der Wörterbücher nicht mehr als ein Synonym für „Unterkunft”. Sie ist nicht Heimat. Es ist ein Wort, das von Unsteten, Schweifenden, Wandernden, Flüchtenden oder von „fahrendem Volk” erfunden worden ist für die Stätte unterwegs, an der man einmal innehält und Obdach findet. Nicht um für immer zu bleiben, sondern nur um zu rasten, für kürzere oder längere, meist aber für kürzere Zeit.

Kann aber der Geflüchtete und Vertriebene, dem die Flucht vor der vernichtenden Gewalt derer, die ihn zur Flucht gezwungen haben, gelungen ist, oder der die Austreibung lebendigen Leibes überstanden hat, über die Bleibe, die Unterkunft, die Rast hinaus, nicht neue Heimat finden? Bleibt mit dem einen Augenblick des Aufbruchs in die Flucht oder der Vertreibung wirklich alles für immer in die Notdürftigkeit der Bleibe, als einem Ort unter vielen, gekettet? Und sind es nur die Ketten eines Unentrinnbaren, die man — mit der Gewohnheit, sie tragen zu müssen, immer leichter — von Ort zu Ort weiterschleppt, oder können nicht auch einmal die abgestreift oder von der großen Kraft eines einzigen Menschenherzens, das für uns schlägt, losgeschmiedet werden und neue, von Herzen echte Bande in neuer Beheimatung erwachsen? Beheimatung in jedem Sinne: menschlichem, sozialem, atmosphärischem, sächlichem — so daß die neue Welt des Flüchtlings einfach seine Welt und Heimat wird?

Das ist eine Frage im „weiten Feld” menschlichen Schicksals, deren Beantwortung schon von dem Lebensalter abhängt, in dem ein Mensch einmal zum Flüchtling wurde; denn es ist klar, daß sich erst öffnende geistige Augen viel leichter eine unvermerkt eingetretene Fremde als Heimat sehen lernen werden. Es ist eine Frage nicht nur über Länder und deren Regierungsformen und soziale Struktur, sondern eine Frage über Kontinente hinweg, über Rasse, Farbe und Konfessionen. Es ist eine Kardinalfrage nach individuellem oder kollektivem Schicksal.

Jahrhunderte haben diskriminierte Volks- und Glaubensgemeinschaften nicht nur von einem Land ins andere, sondern rund um den Erdball flüchten sehen. Und wie düstere Mahnmale, daß jeder von uns „unstet und flüchtig” wie Kain werden kann — ohne dabei Kain zu sein, sondern an Sanftmut eher gleich dessen erschlagenem Bruder Abel —, hasten durch die Nächte der Jahrhunderte verstohlen jene einzelnen Verfemten, deren „Schuld” es vielleicht nur gewesen ist, daß sie den irdischen Gewalthabern einmal „ins Angesicht widerstanden” haben; denken wir nur an den ersten, den hinreißenden, edlen Bußprediger Arnold von Brescia, Augustinerchorherr, Schüler Abälards, der um 1150 gegen die Verweltlichung der Papstkirche auftrat, den evangelischen Weg der Nachfolge Christi forderte — und von seinem „Schutzherrn” Kaiser Friedrich Barbarossa schnöde den Henkern des Papstes ausgeliefert wurde, damit ein kleiner politischer Handel zwischen Kaiser und Papst nicht für den

Kaiser verlorengehe Und wieviel solchen politischen Handels um Flüchtlinge und mit Flüchtlingen hat es seitdem nicht gegeben? Ist unser Eingeborensein in diese Welt, an einem Ort, in einem Land, je zu vertauschen oder gar vom Innersten her anderswo und dort, nur dort zu ersetzen?

Die Beispiele, die man gegen den Kleinmut, Heimat sei — einmal verloren — nie zu ersetzen, anführen mag, weisen alle in die Vergangenheit zurück, wo sie ganze Volks- oder Glaubensgemeinschaften betreffen, die zu Flüchtlingen gemacht worden waren, oder in jenes Zeitalter, da das höfische Europa jedem einzelnen Heimat in seinem verbrieften Stand bot. Und wenn es um den einzelnen geht, sind heute das Lebensalter des Ausgewurzelten und neu Verpflanzten, die Verschiedenheit der geographischen, klimatischen und geistigen Zonen und die Anpassungs- und Kommunikationsfähigkeit des jeweiligen Menschen entscheidend — oder beinahe entscheidend, richtiger gesagt. Denn jeder von uns Flüchtlingen trägt von Land zu Land und von einem Erdteil zum anderen auch noch etwas unbewußt Immanentes, das von einem Augenblick zum anderen bewußt und manifest werden kann: das Geheimnis seines Herkommens und seiner alten Heimat in jedweder Gestalt: über einen Appell an seine Sinne, mag er ein ähnliches Bild, einen Klang oder einen unbegreiflichen Geruch oder Geschmack betreffen, bis in eine unerklärliche und unaussprechliche Ahnung des Herzens. Und es gibt im Zeitalter der Moderne keine neue Welt, die sich — wie zu Zeiten der Albigenser, der Täufer, der Mährischen Brüder, der mennonitischen Flüchtlinge rund um den Erdball, der Hugenotten oder der Auswanderer aus der Alten Welt in die jungfräuliche Wildnis Amerikas — so unformalistisch und bereitwillig für den Flüchtling öffnete und sich von ihm zu seiner Welt, seiner neuen Heimat gestalten ließe wie einst. Überall findet der geflüchtete Mensch schon eine fertige Welt vor, in die er sich unter Preisgabe von manch Eigenem aus der Vergangenheit einfügen soll und muß.

So erscheint die Heimat am Ende des Lebens unwiederholbar, unteilbar und — wo sie verlassen wurde, weil sie hat verlassen werden müssen — unwiederbringlich. Aber wir können dankbar Bleibe haben; der letzte Raum in der Fremde ist ein liebendes Herz, das uns wahrhaft neue Heimat schenkt; die mitmenschliche Pflichterfüllung, die besser und dauernder als Vertragswerke eine neue humane und soziale Ordnung schafft; die Geduld aus Erfahrung, welche Hoffnungen schafft, und die Hoffnungen, die nicht zuschanden gehen lassen. Alles dies in Anerkenntnis der Rechte Gottes auf den Menschen, aus welchen allein das Recht auf eine Heimat als eine Lehensgabe Gottes an den Menschen erwächst.

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