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DIE WAHRHEIT UND DAS LEBEN

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Es ist wieder Weihnachten.

Wie alle Jahre am Heiligen Abend, liegt dein Tagebuch vor mir aufgeschlagen und ich lese diese mir so vertrauten Seiten, die mein Leben waren in all der Zeit.

Nun bist du zwanzig Jahr tot. Es ist meine Gewohnheit geworden, laut mit dir zu reden. Wer mich sehen und hören könnte, der würde wohl erschrecken.

Bin ich deshalb schrullig? Hier vielleicht bin ich’s wirklich. Anderswo, wie in Japan, wär ich’s nicht, wo das ganze Volk täglich den Geist der Abgeschiedenen beschwört, mit deren Asche es in seinen Wohnungen weiterlebt.

Nein, meine Treue zu dir ist nicht Schrulligkeit, sowenig wie es dein Tod war, den du selbst verschuldet hast.

Aber das Leben geht weiter, indem es sich verändert, und das heißt ja nur, indem es uns verwandelt. Und so habe ich

Es schläft fast immer. Am Eingang und am Ausgang senläft der Mensch soviel.

Es ist ein Knabe! ein richtiges Christkind, nicht wahr, mit seinem Blondlockengeringei. Seine Mutter, wenn sie auch in Paris geboren ist, stammt ja von Flamen ab. Übrigens hat Friedrich genauso ausgesehen, damals, erinnerst du dich, als er zum erstenmal ein Gedicht aufsagte am Heiligen Abend. Du hattest es für ihn geschrieben. Ich weiß noch, wie es endete:

Ein wunderhelles Glöcklern klingelt! Die Tür geht auf: Der Lichterbaum! Von Silberhaaren ganz umringelt! Die Engel schweben noch im Raum.

Komm! Sieh ihn dir an! Siehst du, deshalb erschrecke ich: Er sieht dir so ähnlich.

Lachst du. weil alle Welt von diesen winzigen Wesen, kaum daß sie geboren sind, behauptet, sie gleichen ihrem Ursprung? Ich unterscheide mich nicht gerne und bin am glücklichsten, wenn ich fühle, wie alle fühlen. Und so sage ich dir denn, sie sehen dir alle ähnlich, auch das Mädchen, und am meisten der Älteste, der fünf Jahre alt ist. An ihm habe ich es zuerst bemerkt, damals bei der Ankunft auf dem Bahnhof.

Sie hatten ihn an die Waggontüre hingestellt und ließen ihn allein heruntersteigen und in meine Arme fallen.

Und da geschah es, daß es mich wie ein Blitz durchzuckte: Du bist wiedergekehrt. Da stand dein Bild — du weißt, wie Klages sagt — wahrhaftig, dein Bild stand da, vor meinem äußeren und zugleich vor meinem inneren Auge, und ich fühlte, wie eine Flamme sich in mir entzündete und anfing mich zu wärmen. Es war die Flamme einer anderen, längst vergessenen Wahrheit, die seit deinem Tode nicht mehr in mir gebrannt hatte. Die Flamme jener Wahrheit, die das Leben ist, das einfache, das gewöhnliche Leben hier auf der Erde.

Zitiere nur Kümbergers Kritik an Sokrates, wie du oft getan: „Ich hätte den Mann für gescheiter gehalten!“ — Ich bin doch nur eine Frau! Bedenkst du es auch? Wie gut hat der alte Hermann Hesse es gewußt: Auch ein Kind erziehen ist lebenswert! Ich will es tun! Oh, ich will die Früchte meiner Trauer pflücken, will diesen Kindern all die Schätze geben, die ich bei dir ergraben habe, als- ich in der Todeswahrheit lebte.

Es ist nichts weiter als Natur, ich weiß es! Doch lebt kein Mensch, der sich ihrer schämen dürfte.

Zwanzig Jahre lang habe ich in der Vergangenheit gelebt, um jetzt durch ein Kind zu erfahren, daß es nur eine Zeit gibt, die Gegenwart. In ihr ist Sterben, aber in ihr ist kein Tod.

Nun habe ich wieder das Weihnachtsgedicht aufgeschlagen, das du in Dachau am 3. Dezember 1942 für deine Kinder geschrieben hast. Sie sollten es zu Hause aufsagen. Wir haben es erst nach deinem Tode bekommen, und ich habe es nie ohne Erbitterung lesen können. Wie um mich zu höhnen, hast du darin auch deinen Opfertod auch noch bejaht.

Und nun dünkt mich, daß es die Wahrheit sagt: Hassend oder trauernd leben wir ein fremdes Leben, nicht unser eigenes wahres. Nur wenn wir opfernd lieben, leben wir wirklich, denn nur die Liebe ist die Wahrheit und das Leben.

Weihnacht wieder! Welche Wandlung

Unserer Herzen, Jahr für Jahr, An dem Tag der heiligen Handlung, Da die Erde Gott gebar;

Da sie ihres Seins Geheimnis

Kündete der Menschnatur,

Daß in Wahrheit die Erträumnis

Alles Lebens Opfer nur!

Opfernd sind wir zu erlösen,

Uns verschenkend leben wir;

Schenken nur ist nicht vom Bösen, Opfer nur ist nicht von hier.

Opfer, das in alle Winde

Leben streut und doch nicht irrt.

Jubel, Jubel, ob dem Kinde,

Das ans Holz geschlagen wird.

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