Die Welt, die wir kannten

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Der Amerikaner Benjamin Anastas schrieb einen Roman der Zwischenkriegszeit in Prag und am Grundlsee.

Auf Seite 464 dieses Romans, auf dem Flüchtlingsschiff kurz vor der amerikanischen Küste, sagt der bejahrte jüdische Prager Zahnarzt, der bald Selbstmord begehen wird, dem Protagonisten Arno Singer: "Deine Kinder werden Amerikaner sein. Nichts wissen über die Welt, die wir hinter uns gelassen haben. Das Geräusch, das Droschken machen, wenn sie über Kopfsteinpflaster rollen, das ist ihnen egal, oder die Huren auf der Kleinseite, wenn sie am Tor stehen, die Ellbogen aufgestützt, diese schmutzigen Ellbogen, gelangweilt wie Kinder. Deine Kinder werden nichts wissen von der Welt, die wir kannten. Nichts."

Suchende Enkel

Oskar Goldschmidt hat jedoch nicht mit der Enkelgeneration gerechnet, die, einem alten Gesetz der Emigration zufolge, den assimilierten Eltern eine Nase dreht und beginnt, den Traditionen der Großeltern nachzuspüren. Der Autor dieses Romans der Zwischenkriegszeit, der in Prag und am Grundlsee spielt, ist genau so einer. Es ist fast unglaublich, dass es einem 1969 in Gloucester, Massachusetts, geborenen Amerikaner möglich sein sollte, einen in zwei unterschiedlichen Milieus spielenden großen, ja repräsentativen Roman der zwanziger und dreißiger Jahre zu recherchieren und zu schreiben und doch ist es so: Der Autor mit dem griechischen Familiennamen spürt in einer "imaginierten Rekonstruktion von Geschichte" seinem Großvater mütterlicherseits, einem Prager Juden, dessen Schicksal von der eigenen Familie mit einem Tabu belegt wurde, mit detaillierter Sorgfalt nach. Befasste er sich in früheren Werken, insbesondere dem Roman "Die wahre Geschichte vom Verschwinden eines Pastors" mit u.s.-amerikanischen Lebenswelten, so recherchierte er nun, u.a. im New Yorker Leo Baeck Institute und anderen Archiven sowie durch umfangreiche Interviews "das kulturelle Leben einer anderen Epoche" und in einer anderen Welt. Diese umfangreiche Materialsammlung synthetisierte der engagierte Erzähler in einem Roman, der den Rezensenten der Zeit fälschlicherweise an das Genre des "großen realistischen Romans" erinnerte.

Roman Geschichte

Darum kann es sich aber schon deshalb nicht handeln, da der Autor kunstvoll und auf versponnene Weise mit den Konventionen von Fiktion und Realität spielt - und dies nicht bloß durch die romanhafte Verarbeitung von "Geschichte". Im Buch führt er uns eine Reihe historischer Persönlichkeiten vor, darunter (mittel-) europäische Geistesgrößen wie Egon Friedell oder den Biologen Julian Huxley, die von der vormaligen Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald und ihrem dahindämmernden Mann in der Villa Seeblick am Grundlsee beherbergt werden.

Andererseits wird die Romanhandlung von einem fiktiven Außenseiter, dem Prager Ingenieur Arno Singer, zusammengehalten, der durch seine Psychoanalytikerin den Weg zum Grundlsee findet, wo er sich (wie Anastas' Großvater) in die amerikanische Lyrikerin May Sarton verliebt. Protokolle von Arnos Analytikerin sowie Liebesbriefe geben dem Werk eine Collagenhaftigkeit, dessen "experimenteller" Charakter allerdings weniger auf literarische Ambitionen des Autors denn auf die historische Unabgeschlossenheit der erzählten Handlung zielt.

Der traditionelle Weg, einen solchen Roman zu entschlüsseln, wäre, das historische Material nachzurecherchieren, um die Art und Weise der Fiktionalisierung verstehen und bewerten zu können. Da dem Durchschnittsleser eine solch mühevolle Arbeit jedoch kaum zugemutet werden kann, ist der Roman wohl als postmoderne Geschichtsklitterung, wenn auch einer etwas ernsthafteren Sorte, zu lesen. Schon die thematische Bedeutung der Psychoanalyse weist auf die bedingte Gültigkeit der Realitätswahrnehmung, die nur die gesellschaftliche Oberfläche in Betracht zieht. Der tragikomische Leidensweg des Schmetterlingsammlers Arno Singer, der seine Sammelobjekte mittels Äther in einem "Tötungsglas" in einen "humanen Tod" sendet und zu seiner Umwelt und vor allem zum anderen Geschlecht eine mehr als distanzierte Beziehung hat, deutet auf eine Hinterfragung rationaler Gesellschaftsanalyse. Dass sich diese Vita vor der zunehmenden Bedrohung durch Faschismus und Nationalsozialismus in Europa vollzieht, zeigt die psychologische, aber auch epistemologische Krise der Periode. Mit der faszinierenden Rekonstruktion der Schwarzwaldschen Gesellschaft im Salzkammergut wird die krisenhafte Entwicklung Europas am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in einem kleinen, vermeintlich idyllischen Ausschnitt des Kontinents fühl- und erkennbar.

Benjamin Anastas, der in Italien seine zweite Heimat gefunden hat, hat mit dieser Geschichte, die als Übersetzung und nicht im englischsprachigen Original in Erstausgabe erschien, nicht bloß seine Familiengeschichte rekonstruiert. Der literarische Weg dieses amerikanischen Autors zurück nach Europa (hier ist er der transatlantischen Schriftstellerin May Sartor sehr verwandt) reflektiert indirekt auch das Unbehagen an der eigenen Gesellschaft und den Versuch, historische Krisenszenarien zum Verständnis des Enigmas der eigenen Epoche zu nutzen. Österreichischen Lesern vermittelt dieser amerikanische Blick aufs eigene Land ein merkwürdig fremd-vertrautes Bild einer Zeit, in dem Mitteleuropa trotz aller Krisenhaftigkeit noch eine Einheit bildete. Ein Roman zum politischen Film unserer Tage?

Am Fuss des Gebirgs

Roman von Benjamin Anastas

Aus d. Amerikan. v. Silvia Morawetz

Jung und Jung Verlag, Salzburg 2005 471 Seiten, geb., e 24,90

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