6688677-1962_28_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Welt wird „verdiristlicht“

Werbung
Werbung
Werbung

Seit meiner Kindheit bin ich viel gereist und seit 1956 fahre ich alljährlich in großen Schleifen um die Welt. Dies gibt mir den Mut, über die Chancen des Christentums bestimmte Aussagen zu machen...

Nun ist die globale Situation zweifellos so, daß wir uns mit recht großen Schritten einer Weltzivilisation und — in. ihrem Gefolge — einer Weltkultur nähern, Gleichgülig, ob diese Evolution nun (wie mancherorts) pfeilschnell, langsam, oder ruckweise vor sich geht, die Tatsache selbst kann nicht in Frage gestellt werden. Und diese Weltzivilisation und Weltkultur werden im Grunde „westlich“, werden „euroamerikanisch“ sein. Umgekehrt werden wir von Asien oder Afrika herzlieh wenig lernen, mögen auch einige Halbgebildete, die nie im Neuen Testament geblättert haben und beim Lesen des Korans oder des Tao-Te-King in spitze Freudenschreie ausbrechen, anders denken. Die Sehnsucht der Nichteuropäer ist es doch, es dem Westen „gleichzutun“, sich so schnell als möglich zu verwestlichen, und ihr häufigster Vorwurf an unsere Adresse ist nicht der, daß wir andere Kulturen um ihre „Seele“ gebracht hätten, sondern daß wir uns nicht genügend angestrengt haben, die Völker der Übersee völlig zu assimilieren.

Freilich ist der Sehnsuchtsruf (bisweilen auch ein wutschnaubendes Gebrüll) nach Verwestlichung nur ganz selten auf unsere wirklichen Werte gerichtet. Man verlangt nach der äußerlichen Verwestlichung, weil man — natürlicherweise - das Äußerliehe besser sieht. Zudem sind die rein materiellen Werte leichter übertragbar. Nichts ist einfacher als ein Auto zu kaufen — oder ein Gemälde. Das technische Verständnis für das Automobil ist allerdings keine einfache geschäftliche Transaktion mehr; das künstlerische Verständnis für das Bild beruht sogar auf. einem langen Bil-durigsvorgang.

Schwierig ist auch die Übertragung bei politischen Einrichtungen, denn hinter deren Formalstruktur lebt ein ganz bestimmter Geist. Das gilt besonders für die echt konstitutionellen Formen des Rechtsstaates (der nicht notwendigerweise formale Demokratie zu sein braucht) sowie auch für soziale Einrichtungen. Beide sind eben nur wahrhaft verständlich wenn man zu ihren Wurzeln zurückgeht, und bei diesem Nachforschen stoßen wir auf den Tod zweier Männer: des Philosophen Sokrates (geistiger Ahne Piatos und Aristoteles') und des Gott-Menschen Christus. Diese predigten die Liebe und die Wahrheit. Aus dem Christlichen in seiner Synthese mit dem hellenischen Geist entstand unser Sinn für objektive Realität, der spezifisch westlich-europäisch ist. Darum ist es kein Zufall, daß die moderne Technik, unser großes Blendwerk, im christlichen Raum entstanden ist. Der Ingenieur ist eben, so unglaublich es klingen mag, im Schatten des Kreuzes geboren. Wir halten die tätige Liebe gern für ein universales Phänomen und glauben auch, daß der Sinn für das objektiv Wahre allmenschlich sei. Welch ein Irrtum! So erklärte mir ein japanischer Student, daß er die Wahrheit durch Kontemplation (und s a-t o r i) intuitiv erfasse, und ein indischer Chauffeur brachte mich in Delhi zu Nummer 1, Windsor-Platz, anstatt zu Nummer 1, Alexandra-Platz. „Was wollen Sie“, erwiderte er auf meinen Protest. „Das ist ein Platz und da ist Nummer 1!“ Der Rest war westliche Haarspalterei. Doch weder durch Yoga noch durch satori baut man IBM-Maschinen. Man braucht sich nur die infolge von Pannen verendeten Autos auf den Straßen des Kongo ansehen, um zu verstehen, daß Pannen nur durch den behoben werden können, der das Gesetz der Kausalität kennt. Tanzende Medizinmänner können hier wenig ausrichten.

Arthur Koestler hat völlig recht, wenn er in seinem Asien-Buch betont, daß westliche Kultur und Zivilisation ein package deal sind, eine „Globalofferte“, die man nur als zusammenhängendes Ganzes erfolgreich kaufen kann. Es gibt heute in Indien keine Universität, an der nicht Englisch die Lehrsprache ist, und zwar schon deswegen, weil die Textbücher nicht in einheimischen Sprachen verfaßt weiden könnten. Dazu fehlt einfach das Vokabular. Wer aber englische Sprache und Literatur in den Mittelschulen studiert, muß Chaucer, Shakespeare, Donne, Dickens und Thackeray sich geistig zu eigen machen. Und der Neger der Elfenbeinküste, der am Nachmittag die Morgenausgabe des „Figaro“ auf Dünndruckpapier liest, bekommt auch die Theater- und Buchkritiken mit. Im kommunistischen China stehen sich Jesus Christus und Karl Marx gegenüber, während in Tokio die Sophia-Universität (Jochi Daigaku), von Kölner Katholiken stark finanziell unterstützt, sich intellektuell langsam einen ersten Platz erringt. Glaubt wirklich jemand, daß eines Tages eine Shinto-LIniversität am Rhein entstehen könnte, in der man lehrt, daß der japanische Kaiser (oder gar der deutsche Bundespräsident) von der Sonnengöttin Amaterasu-o-mi-kami abstammt? Selbst deir hochgebildete japanische Kaiser, ein Biologe ersten Ranges, hat dies nie geglaubt.

All dies heißt nun mit anderen Worten, daß sich ein gewollt-ungewollter Zug zur (i m Grunde christlichen) Zivilisation und Kultur des Westens allenthalben abzeichnet. Anderseits aber ist dieser Zug keineswegs geradlinig auf das Christentum ausgerichtet; er strebt vielmehr dem Äußerlichen, dem Zufällig-Nebensächlichen, dem Veralteten zu. Oft glaubt man den Schrei zu vernehmen: „Wir wollen alles — nur nicht den Kern, nur nicht das, worauf es eurer Ansicht naqh wirklich ankommt!“

Wer ist nun aber schuld an diesem Sachverhalt?

Zweifellos ist die Schuld an diesem oft gigantischen Mißverständnis zwischen Ost und West eine sehr geteilte. Das „Ja“ zum Gottessohn ist schwieriger als das „Ja“ zum elektrischen Rasierapparat oder zum schmachtenden Schlagerlied, das besonders den Kongolesen entzückt. Wie alle Wahrheit ist das Christentum komplex und keine fausse idee claire. Den „fleischlichen Menschen“ aber zieht die saftige Frucht mehr an als das knorrige Wurzelwerk oder der harte Stamm.

Anderseits haben wir die e n g e r e n Kontakte mit der Übersee erst dann hergestellt, als wir, in den Worten Douglas Jerrolds, die „Apostel unserer Apostasie“ geworden waren, als wir Opfer der höchst irrigen Annahme wurden, man könne auch ganz gut, nett, und vielleicht sogar „gottgefällig“ vom Geruch der leeren Flasche des Christentums leben, sofern man nur die richtige Partei wähle, alle sechs Monate zum Zahnarzt ginge, lieb zu den Tieren sei und auch sonst „anständig“ bliebe. Solchen Stiefel glaubt heute nur mehr der aufgeklärte Spießer östlicher und westlicher Prägung (was nicht sagen will, daß diese Spezies des menschlichen Geschlechtes eine Seltenheit sei). Nun haben wir aber den Mist, die Abfälle, sagen wir es ruhig: die Fäkalien unserer Kultur eifrigst exportiert und zwar im Sinne eines „Kundendienstes“: wir lieferten das, wofür das größte Interesse vorhanden war. Solange wir christlich waren, dachten und fühlten, betonten wir die christlichen Werte. Bei allen schweren und schwersten psychologischen Fehlern machten wir mit den allerbeschei-densten Mitteln im 16. und 17. Jahrhundert in der Übersee gewaltige Fortschritte für unseren Glauben. Erst in den letzten 10, 15, 20 Jahren dringt das Christentum wieder vor — zum Teil äußerst erfolgreich. (Formosa, Hongkong, Flores, Südvietnam, Zentral-afnika.) Für die Rückschläge in China und Nordvietnam sind rein politische Faktoren verantwortlich.

Heute ist unser Feind in der Übersee nicht der lokale Volksglaube, sondern die ekelhaftesten europäischen Exporte: Nationalismus, Kommunismus, Materialismus, Laizismus. Dabei gibt es dort — ganz wie bei uns — die Querverbindungen zwischen diesen einzelnen, zum größten Teil aus christlichen Mißverständnissen entstandenen „Häresien“, die in einem in Asien oder in Afrika nur zu oft den Eindruck erwecken, man wäre durch eine Wells-sche Zeitmaschine um 20 bis 50 Jahre in der Geschichte zurückversetzt worden. Man hört den einheimischen Politikern zu und wird schmerzlich erinnert: das stammt von Emile Combes, das von Bebel, das von Robespierre, das von Marx oder vom „größten Führer aller Zeiten“. Immer wieder ist das Hindernis die Staatsomnipotenz mit ihrer totalen Kontrolle und dem Streben nach kompletter Uniformität, wobei dann das Christentum als Störfaktor betrachtet wird, als „ausländischer Import“, eine Etikette die aus unerklärlichen Gründen nicht für den atheistisch-materialistischen Blödsinn Europas und Amerikas verwendet wird. Anscheinend sind Vakuum und Hohlheit, wie auch Hohlköpfigkeit, international.

Unsere Schuld liegt.' aber, auch' konkret in der Jetztzeit, bei: uns hier in Europa. Wir kümmern uns viel zu wenig um die „Afro-Asiaten“ (ein idiotischer Ausdruck, denn was hat schon ein Japaner mit einem Senegalesen gemein?), die zu uns kommen, um zu studieren. Das Apostolat unter diesen Menschen gehört viel mehr ausgebaut, als es bis jetzt der Fall ist — und nicht nur das Apostolat, sondern auch die menschlichen Kontakte. Man braucht nur einmal die Liste der .linksdralligen“ politischen Führer Asiens (und zum Teil auch Afrikas) durchzugehen und wird sofort auf die ehemaligen Studenten in Europa oder Amerika stoßen: Tschu-En-Lai, Ho-Tschi-Minh. der ermordete Dr. Banda-ranaike, Nehru, Nkrumah, Sekou Toure usw. Hier haben uns der programmatische Internationalismus der Linken und das nationalistische Gift unter den sogenannten „Konservativen“ übel mitgespielt. Unsere Versäumnisse kommen uns hier teuer zu stehen.

Negativ ist auch das Vorwiegen des anglo-amerikanischen Einflusses in Asien zu werten, eines Einflusses, der nicht nur linguistisch, sondern auch rein materielle Ursachen hat. Christliche Intellektuelle des Kontinents haben meist weder die sprachliche Gewandtheit noch das nötige Kleingeld, um in Asien aufzutreten, Verbindungen anzuknüpfen und ihren Einfluß geltend zu machen. Ein führender indischer Theologe teilte mir ganz ernsthaft mit, daß er in Bertrand Russell den wichtigsten lebenden Philosophen des Westens sähe. Und der Schaden, der von weltlichen amerikanischen Universitäten (dank wohldotierter Stipendien) im Sinne eines agnostischen Relativismus angestellt wird, ist unermeßlich.

Trotzdem sollen wir Christen Europas nicht verzagen, denn wir haben nicht nur die Wahrheit, sondern auch das Versprechen des Herrn. Wenn es auch noch vieler Wege und Umwege bedarf, so wird es sich doch im Laufe der Zeit herausstellen, daß nur das Christentum selbst eine nun einmal wurzelhaft vom Christlichen her geprägte globale Kultur und Zivilisation mit Sinn, Wärme und Kraft erfüllen kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung