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Die wiedergefundene Poesie

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Zur neuen deutschen Ausgabe des Gesamtwerkes von Marcel Proust. „A la recherche du temps perdu". 1. Band: „In Swanns Welt" (628 Seiten). 2. Band: „Im Schatten junger Mädchenblüte“ (766 Seiten). Deutsch von Eva Rechel-Mertens. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, und Rascher-Verlag, Zürich. Preis des Bandes etwa 20 DM

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Zur neuen deutschen Ausgabe des Gesamtwerkes von Marcel Proust. „A la recherche du temps perdu". 1. Band: „In Swanns Welt" (628 Seiten). 2. Band: „Im Schatten junger Mädchenblüte“ (766 Seiten). Deutsch von Eva Rechel-Mertens. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, und Rascher-Verlag, Zürich. Preis des Bandes etwa 20 DM

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In Frankreich ist Marcel Proust (1871 bis 1922) ein „Klassiker“, dessen Prosa in den oberen Klassen der Lyzeen studiert.und an den Seminaren der Facultės des lettres zu den dort beliebten Textinterpretationen benützt wird. In England und in den USA gibt es seit vielen Jahren einen regelrechten Proust-Kult. Für das deutsche Sprachgebiet ist er ein fast unbekannter Autor von legendärem Ruf. Denn die Lektüre Proustscher Werke in der Originalsprache bereitet Schwierigkeiten, und eine deutsche Ausgabe, 1926 von R. Schottlaender begonnen und von W. Benjamin und F. Hessel bis 1932 fortgesetzt, kam ins Stocken. Nunmehr bringt ein angesehener und leistungsfähiger deutscher Verlag in rascher Folge (jedes Halbjahr — ein neuer Band) das riesige, etwa 5000 Seiten umfassende Werk heraus und präsentiert es — zum erstenmal in einer ausgezeichneten Uebersetzung — dem deutschen Lesepublikum.

Von dem Dichter, der einer sehr begüterten Pariser Arztfajnilie entstammt, gibt Leon Daudet in seinen Memoiren die folgende Schilderung: In den Jahren 1900 bis etwa 1905 tauchte jeweils abends gegen halb acht Uhr in einem der großen Restaurants in der Rue Royale ein in wollene Schals gehüllter junger Mann auf. Er ließ sich eine Traube und ein Glas Wasser geben und erklärte, er sei soeben aufgestanden, er habe Grippe und werde sich gleich wieder legen, der Lärm tue ihm weh. Er warf unruhige und spöttische Blicke um sich, brach i.n ein entzücktes Lachen aus -y- und blieb. Bald kamen in zögernd-eiligem Ton Bemerkungen voll überraschender Neuheit und funkende Aperęus aus seinem Mund .., Seit seiner Kindheit an einem schweren Asthma leidend, führt er — sehr wohlhabend und schonungsbedürftig — in den Salons des Faubourg Saint- Germain und in der Gesellschaft von Adeligen, Herzögen und Prinzessinnen das Leben eines müßigen Snobs, der sich, in sein verdunkeltes Zimmer am Boulevard Hausmann zurückgekehrt, in einen emsigen, unerbittlichen Arbeiter verwandelt. In etwa 20 Dossiers liegen Tausende von Zetteln, auf denen er — wie vor ihm Balzac oder Zola — seine Beobachtungen aufgezeichnet hat. So entsteht das dichte, mit einem Blick kaum zu überschauende Gewebe seines (einzigen) großen Werkes, das er „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" nennt.

1913 erscheint der erste Band („Du cöte de chez Swann") und findet seine Bewunderer. Aber erst nachdem der zweite Teil („A l'ombre des jeunes filles en fleur") mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet ist, wird Proust berühmt. Die übrigen Bände erscheinen in rascher Folge, der letzte („Le temps retrouvė“) wird 1927 posthum veröffentlicht.

Im passiven Titelhelden des ersten Buches hat Proust die eine, der Außenwelt zugekehrte Seite seines eigenen Wesens nachgezeichnet: „So lange schon hatte er darauf verzichtet, sein Leben auf ein ideales Ziel zu richten, hatte es vielmehr so ganz auf eine Abfolge von täglich sich erneuernden Befriedigungen abgestellt, daß er, ohne es sich jemals ausdrücklich zu sagen, die Meinung hegte, es werde bis zu seinem Ende immer so weitergehen; ja mehr noch: da er sich im Geiste nicht mehr mit großen Gedanken beschäftigte, hatte er aufgehört, an ihre Realität zu glauben, ohne daß er diese geradezu leugnete…" Der Dichter Proust aber findet in der schöpferischen Erinnerung das Instrument, die entrinnende, verlorene Zeit festzuhalten und ins Bewußtsein — und damit ins Dauernde — zu heben. Aus unzähligen Eindrücken, Beobachtungen und Erlebnissen sowie aus der atmosphärischen Schilderung einer sehr geschlossenen, hochkultivierten Gesellschaft wächst Poesie. Ihrem Zauber wird sich kaum ein Leser entziehen können, ob er nun, wie etwa Andre Gide, Prousts bewundertes Werk als „das nutzloseste“ bezeichnet, das „nichts zu beweisen sucht", oder ob man dem Urteil Ortega y Gassets zustimmt, der schrieb: „Ohne dieses Werk wäre in den klar umrissenen Konturen der literarischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts ein großes Loch zu sehen." Hören wir hierzu noch die Stimme Hermann Hesses: „Proust ist ohne Zweifel der wichtigste Vertreter der Generation der französischen Dichtung, welche auf Gide und Rolland folgt, der hellsichtigste tiefgrabende Psychologe, der eigenwilligste Gestalter, der sprachlich genialste Meister des Ausdrucks."

Von einer „Handlung" kann natürlich in diesem riesigen Prosawerk kaum die Rede sein. Durch das häufige Vor- und Zurückblenden ist deren wichtigste Voraussetzung — ein stabiles Rawn- und Zeitverhältnis — aufgegeben. Obwohl es ausgedehnte, streng konstruierte und zusammenhängende Teile gibt, ist die Form Prousts schwer zu beschreiben und zu analysieren, da sie sich — vegetativ wuchernd und wandelnd von Band zu Band ändert Das erste, dreiteilige Buch schildert zunächst des Autors Kindheit in Corabray. Dort, im großbürgerlichen Elternhaus, erscheint Swann, auf dessen leidenschaftliche und eifersüchtige Liebe zu Odette der zweite Teil zurückblendet, während der dritte, wie in einem letzten Symphoniesatz, die Motive der vorausgegangenen verknüpft. Der zweite Band, „Im Schatten junger Mädchenblüte", ist eine riesige, cinsätzige Prosarhapsodie, die neue und alte Motive verknüpft: Odette als Madame Swann und deren Tochter Gilberte, der Aufenthalt in Balbec, die Bekanntschaften mit der Schauspielerin Berma, dem Marquis de Norpois, dem Dichter Bergotte, den Freunden Saint-Loup und Bloch, der Prinzessin von Luxemburg und schließlich mit dem Maler Elstir, der dem Jüngling die Bekanntschaft der jungen Mädchen, der „fröhlichen Schar", vermittelt, in der sich auch Albertine findet, die dem sechsten Band den Titel geben wird.

Was man sich von dem Bekanntwerden des Proustschen Werkes — nicht im Sinne einer Nachahmung, sondern des Maßstabes — für Deutschland erhoffen möchte, hat Th. W. Adorno ausgesprochen: „Wie man jedem deutschen lyrischen Gedicht anhört, ob es dem Geist nach vorgeorgisch oder nach-georgisch ist, auch wenn es mit der Georgischen Lyrik gar nichts zu tun hat, so sollte sich wohl die deutsche Prosa scheiden lassen nach einer vor-proustischen und nach- proustischen. Wer an seiner Forderung, die gewohnten Oberflächenzusammenhänge zu durchbrechen, die genauesten Namen für die Phänomene zu finden, sich nicht mißt, sollte als zurückgeblieben ein schlechtes Gewissen vor sich selber bekommen." Auf diese Hoch-Schule des Prosastils, die auch in der deutschen Uebertragung ihre Gültigkeit bewahrt, seien vor allem unsere jüngeren Schriftsteller nachdrücklich aufmerksam gemacht. Prof. Dr. H. A. Fiechtner

Aber das Wort sagte ich nicht. Von Alan Paton. Wolfgang - Krüger - Verlag; Hamburg. 280 Seiten. Preis 18.80 DM.

Wie in seinem früheren Roman „Denn sie sollen getröstet werden" berührt Paton auch mit dem vorliegenden eine wunde Stelle des Weltgewissens: Was hat der weiße Mann getan, um die Probleme zu lösen, die er mit der Zerstörung der einst festgefügten Stammes- und Sittenordnung der afrikanischen Schwarzen und ihrer Verproletarisierung geschaffen hat? Eines dieser Probleme, die unerbittliche Trennung von Weiß und.Schwarz im Bereich der Südafrikanischen Union und die tragischen Konflikte, die daraus entstehen können, werden hier in überaus packender Form und mit dem Ernst, der dem Thema entspricht, behandelt.

Der Ausgang der jüngsten südafrikanischen Provinzialwahlen, der eine weitere Verschärfung der im übelsten Sinn des Wortes reaktionären Rassenpolitik Malans befürchten läßt, verleiht diesem ungewöhnlichen Roman eine leider unbestreitbare Aktualität.

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