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Die „ Wien-Krise ”

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Sie befällt mich von Zeit zu Zeit, etwa alle paar Monate, und wenn sie da ist, ist es schon zu spät: Weder gute Ratschläge noch Schokolade noch das Lieblingsbuch sind imstande, sie wegzubringen. Die Rede ist von der Wien-Krise. Sie ist eine Krankheit, die ausschließlich Nicht-Wiener, die aus irgendeinem Grund in Wien leben müssen, heimsucht, und darunter vorzugsweise jene, die nicht in einer Großstadt aufgewachsen sind.

Die Krise kann morgens beginnen, wenn ich zusammen mit Dutzenden anderen Menschen im U-Bahn-Waggon stehe und das routinemäßige Abschalten und Wegschauen einfach nicht gelingen will. ,Orange Haltegriffe baumeln über Köpfen, die in die gleiche Bichtung schauen', schreibe ich dann in mein Tagebuch. Gerhard Boths „Eine Beise in das Innere von Wien” muß herhalten (unter den Pflastersteinen der Stadt seien eine Million Batten, darüber eine Million Wiener) und natürlich Thomas Bernhards „Holzfällen” („Diese entsetzliche Stadt Wien, dachte ich, die mich tief in die Verzweiflung und tatsächlich wieder einmal in nichts als in Ausweglosigkeit gestürzt hat...”). Und an den Stationen Schottentor, Karlsplatz und Stephansplatz, wo ich wie gewohnt Schlange an der Bolltreppe stehe, fällt mir regelmäßig Canettis „Masse und Macht” ein. Niemals wird mir irgend jemand erzählen können, es sei normal und nichts Besonderes geschweige denn Abnormes, wenn ich jeden Tag in der Früh im morgendlichen Stau an besagten Plätzen Hunderten und Tausenden Menschen quasi wie kleinen Blitzlichtern begegne und sie nicht anschauen kann, denn sobald ich jemanden länger anschaue, ist er schon wieder weg. Auch darf man ja gar niemanden länger anschauen, gibt es doch eine Blicklänge, die erlaubt ist und eine, die indiskret und verpönt ist. Also schaut man niemanden an. Und so übt sich das Wegschauen ein: langsam und unbarmherzig gräbt es sich in Leib und Seele der Stadtmenschen ein.

Das Auge ist überfordert, und vielleicht sind deswegen so viele Menschen kurzsichtig, weil sie alles, Menschengesichter, fleischige Lippen und rechteckige Pizzastücke, Werbeplakate und die wie ein bedrohlicher Pfeil einfahrende U-Bahn, Häuserfronten und Fassaden, den Pflasterboden in der Fußgängerzone, überfüllte Mistkübel und die Sandler in den U-Bahn-Stationen, gezwungen sind, aus nächster Nähe zu sehen. Es fehlt die weite Perspektive auf Berge oder das Meer, es fehlt der Horizont.

Diese Überforderung des Auges durch die Masse erzeugt auch jene Menschenfeindlichkeit, an der die Schwächsten des Systems schließlich zugrunde gehen. Obdachlose sind die Seismographen der Großstadt. Sie haben nichts zu verlieren, also lügen sie nicht. „Heißt du Waldi?”, hörte ich einmal einen von ihnen zu einem Hund, der unruhig an der Leine seiner Besitzerin zerrte, in einer U-Bahn-Station sagen. Keine Beaktion. „Heißt du Waldi?”, brüllte er dann plötzlich durch die Halle, in der die Menschenmenge wartete. Nur ein abgestumpftes Schweigen schrie zurück. Erstaunt horchte der Alte, stampfte dann mit dem Fuß auf, nahm einen kleinen Schluck aus seiner Flasche und begann lautstark zu singen „Holladaro, wir san olle do!” - so, als ob er ihnen allen, die da verschüchtert und vereinzelt auf ihren Abtransport warteten, sagen wollte, daß sie nicht alleine da stünden, sondern zusammen mit dreißig, fünfzig, hundert anderen

Leuten, so als wollte er ihnen die Absurdität dieser Situation, die er tagaus tagein beobachten konnte, daß da Dutzende von Menschen sich auf engstem Baum befinden und sich nichts, auch gar nichts zu sagen haben, ins Gesicht schreien.

Eine Wien-Krise, ist sie einmal da, ist durch fast nichts zu beheben. Schon gar nicht durch einen Spaziergang in einem schönen Wiener Park. Parks und ihre Bevölkerung, Touristen, Tauben und sonstige Spaziergänger waren mir - obwohl inmitten von Wiesen und Wäldern aufgewachsen -überhaupt auf Anhieb zuwider. Lange Zeit saß ich aus Prinzip, während ringsum alle Sonntag nachmittags spazieren gingen, in Kaffeehäusern und verlor mich in intellektuellen Be-flexionen über diese künstlichen Gebilde, die dir ein Grün vorgaukeln und frische Luft und Natur, die doch gar nicht da sind. Ich ging erst wieder in Parks spazieren, als ich keine Zeit mehr zum Nachdenken darüber hatte.

Apropos Kaffeehaus: Wenn das Gefühl der Unerträglichkeit überhaupt nicht weichen will, gehe ich in ein Wiener Kaffeehaus und denke daran, daß die Wiener Kaffeehäuser wirklich eine einmalige Angelegenheit in der ganzen weiten Welt sind, bestelle eine Melange und lese Thomas Bernhards Satz zu Ende: „Diese entsetzliche Stadt Wien, dachte ich, die mich tief in die Verzweiflung und tatsächlich wieder einmal in nichts als in Ausweglosigkeit gestürzt hat, ist plötzlich der Motor, der meinen Kopf wieder denken, der meinen Körper wieder wie einen lebendigen reagieren läßt...”

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