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Die Zuflucht

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Durch manche Jahre hat ein Lieblingswunsch mich begleitet — vielmehr nicht mich „begleitet“, sondern in mir gewurzelt, sich aus mir genährt, Kraft aus mir gesogen, so wie gewisse Verwandte und Freunde uns „begleiten“, indem sie sich von uns lieben und verehren lassen, unser Haus zu ihrem und unsere Kraft zu ihrer machen.

Jener Lieblingswunsch war sehr schön und nicht allzu unbescheiden, wenn man ihn von außen ansah. Sein Inhalt war, kurz gesagt, eine Zuflucht. Die Zuflucht sah zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden aus. Bald war es eine Holzknechthütte in den Alpen, mit einem Schrägen zum Schlafen, vier Stunden vom nächsten bewohnten Haus entfernt. Bald war sie ein Häuschen am Vierwaldstätter See mit einem Ruderboot an der Lände. Dann war es eine Höhle oder eine kleine Ruine, nah am lichten Kastanienwald, so hoch gelegen wie die höchsten Reben, mit oder ohne Fenster und Tür. Ein andres Mal war die Zuflucht ein Schiffsbillett, gültig für eine kleine Kabine auf einem Schiff ohne andre Passagiere, für eine Seefahrt von drei Monaten, einerlei, wohin. Und manchmal war es noch bescheidener, war nur ein Loch in der Erde, ein kleines Grab, gut oder schlecht geschaufelt, mit oder ohne Blumen drüber, mit oder ohne Sarg.

Der Sinn und die Hauptsache aber waren immer genau dieselben. Ob Landhaus oder Schiffskabine, ob Felsenhöhle im Süden oder Erdloch im Kirchhof — der Sinn war stets derselbe: eine Zuflucht! Als Überschrift über diesem Wunsch stand immer der Vers des schwäbischen Pfarrers, jenes lieben, kränklichen Sonderlings, der weltabgeschieden und mit nichts zu tun in einem Dörflein saß und dort die Verse dichtete: „Laß, o Welt, o laß mich sein!“ i

Damit schien mir alles gewonnen; wenn ich irgendwo einen Unterschlupf und eine Zuflucht hätte, ein Versteck wüßte, sicher und still, Wald oder See dabei, jedenfalls aber keine Menschen, keine Sorgenboten und Gedankendiebe, keine Briefe, keine Telegramme, keine Zeitungen, keinerlei Hapdlungsreisende der Kultur. Es mochte ein Bach dort rauschen oder ein Wasserfall oder Sonne still auf braune Felsen brennen, es mochten dort Schmetterlinge fliegen oder Ziegen weiden, Eidechsen brüten oder Möven nisten, einerlei, nur meinen Frieden wollte ich dort haben, mein Alleinsein, meinen Schlaf und Traum. Niemand dürfte diese Zuflucht betreten, den ich nicht rief, niemand sie nur wissen, niemand dort mich kennen, niemand etwas von mir wollen, niemand mich zu etwas zwingen.

Er war hübsch: mein Wunsch und Traum, er klang süß und bescheiden, er hatte Vorbilder und Dichter von Namen für sich. Und wie berechtigt war er! Gab es für einen Menschen, der nicht nach Macht strebte, der die Ansprüche der Welt an ihn so gerecht wie ' möglich zu erfüllen suchte, der ein Dichter, Philisoph und stiller Bürger war gab es für mich einen richtigeren, begreiflicheren Wunsch als den nach meiner Zuflucht, nach der Ecke im Süden, dem Felsenwinkel im Gebirge, nach Höhle, Versteck, Unterschlupf, Grab? Wenn je das Landhaus, die Schiffskabine zu anspruchsvoll war — vom Streulager in der Hütte, vom kleinen, namenlosen Grab konnte man das gewiß nicht sagen.

Viele Stunden in vielen Jahren habe ich an meinem Traum gebaut, viele Stunden auf Spaziergängen, bei der Gartenarbeit, vor dem Einschlafen, nach dem Erwachen, auf der Eisenbahn, auch schlaflose Nächte wandte ich ihm zu. Ich baute an ihm, malte und pinselte an ihm, musizierte ihn schöner, zarter, holder, tuschte am Waldschatten, phantasierte am Ziegengeläut', wob Sehnsucht, strömte Liebe hinein. Zärtlich beleuchtete ich meinen Liebling, streichelt ihn mütterlich, liebkoste ihn werbend. Wenn ich mich besinne, so kann ich wohl sagen, daß ich vielleicht an kein Ding auf Erden oder an wenige so viel Liebe gewendet habe, so viel Sorgfalt, so viel Wärme vom eigenen Blut, so viel Kraft des Verlangens.

Und wie hat er zu Zeiten mir geleuchtet, aufreizend und tröstend, wie klang er innig und vertieft, wie glühte er rosenhaft, mein Lieblingstraum! Wie war er in zärtlichste Goldfäden eingesponnen, mit tausendmal abgewogenen Farben innig und schmelzend gemalt!

Hin und wieder mit den Jahren geschah es, daß andere Stimmen mich ergriffen, daß hier und dort eine Mahnung mich traf, eine Einsicht mich streifte, die dem Traum schadeten, die kleine Sprünge in seine kostbare Farbenfläche zogen, eine Saite an ihm verstimmten, ein welkes Blatt in seinem Laub zeigten. Schnell flickte ich nach, goß neue Liebe zu, bereute -tief die Störung, gab dem Wunsch neues Blut zur Nahrung. Bald war er wieder schön und ganz. Und, um es gleich zu sagen, noch heute kann er sich erholen, kann wieder strahlen, kann zurückgewinnen, was er verlor.

Aber häufiger traten mich Erkenntnisse an, die sich mit dem Traum nicht vertrugen. Ein Wort im Gespräch mit Freunden, ein Satz in einem Buch, ein Vers in der Bibel, eine Zeile bei Goethe faßte mich zwingend an, Vereinsamungen, Verluste von Freunden, Einbußen an Freunden sprachen ihre rauhe Sprache zu mir, Schmerzen nisteten sich bei mir ein. Lauter Zurufe, lauter Mahnungen, jede im einzelnen wenig beachtet, alle aber immer wieder auf denselben wunden Fleck treffend. Und alle waren gegen meinen Traum! Shakespeare verhöhnte ihn, Kant griff ihn an. Buddha verneinte ihn. Nur die Schmerzen führten mich oft und oft zu ihm zurück. Würden sie nicht sich beruhigen und fliehen, wenn ich meine Zuflucht einmal hätte? Würden nicht Schlaf und Hunger, Lächeln und freier Blick, fester Atem und Tatenlust wieder kommen, dort in der Höhle, am Bach, am Herzen der Natur, fern vom Lärm, fern vom Betrieb?

Aber auch Schmerzen wurden energischer, wurden dauernder, und auch sie richteten sich mehr und mehr gegen meinen Traum. Es kamen die Stunden, wo ich sah: er war nichts wert! Die „Zuflucht“ würde mich nicht heilen, die Schmerzen würden im Wald und in der Hütte nicht vergehen, ich würde dort nicht mit der Welt eins werden und mit mir selber nicht in Ordnung kommen.

Das ging alles langsam und in vielen engen Spiralen, und hundertmal war der Wunschtraum wieder da, der Bach lief trostvoll über goldenbraune Kiesel, und der See wiegte irinigste Farbenträume. Nur die Mahnungen nahmen zu, und vor allem die Schmerzen, und oft schien Hiob mir mein Bruder zu sein.

Und einmal klopfte eine neue Erkenntnis mir an die Stirn, die war schlimmer, war deutlicher, feindlicher, drohender. Sie hieß so:

„Dein Wunschtraum ist nicht bloß falsch gewesen, nicht bloß ein Irrtum, nicht bloß eine hübsche Kinderei und Seifenblase! Er war viel mehr, viel ärger, viel gefährlicher! Er hat an dir gefressen, er hat dein Blut getrunken, er hat dein Leben bestohlen. Hast du jemals dem Freunde, hast du der Frau, dem Kind, hast du dir selbst jemals auch nur halb so viel Liebe gegönnt, wie ihm, halb so viel Sorgfalt, Wärme, halb so viel Tage, Nächte, Schöpferstunden? Erschrickst du jetzt? Siehst du jetzt, wen du genährt hast, wen du am Herzen trugst? Und deine Müdigkeit und deine Schmerzen, dein Altern, deine Schwächung — wem verdankst du sie? Ihm, ihm, alles ihm, alles diesem Traum, diesem Blutsauger, dieser Schlange!“

Auch diese Einsicht siegte nicht beim erstenmal, und heute noch, so fest sie sitzt, ist sie Zweifeln und Niederlagen ausgesetzt. Aber sie ist dageblieben. Und wieder kam ein Tag: der stieß meinem Traum das Herz ein.

Der Traum wurde auf seine letzte Probe gestellt — er sollte erfüllt werden! Es war eine Zuflucht da, ein Häuschen, klein, still, fern, schön, hoch auf dem Berg überm südlichen See, Zuflucht und Versteck, Ausruhenest und Traumwiege. Es war zu haben, es wurde mir angeboten.

Siehe, da war der Traum ertappt! Ertappt in seiner ganzen, schönen Verlogenheit. Nämlich, er — erschrack, als er sich erfüllen wähnte, er wußte Ausreden, er riet ab, er schauderte zurück.

Ach, er konnte nicht anders. Er hatte so lange gelogen, er hatte so lange versprochen, viel zuviel versprochen! Immer hatte er empfangen und empfangen, und nun sollte er einmal geben. Und nun war nichts, was er zu geben hatte. Er zuckte zurück wie ein Schwindler, der einen falschen Wohnort angegeben hat und jetzt dorthin gebracht wird, wo niemand ihn kennen will, wo er verstummen muß, wo er entlarvt wird.

Das war sein Todesstoß.

Aber Vampire ertragen manchen Todesstoß und leben doch auf einmal wieder, sind wieder da, wollen wieder fressen, wieder mit lebendem Blut gefüttert sein. Auch dieser lebt noch, hat noch Schliche und Möglichkeiten. Aber ich weiß jetzt, daß er mein Feind ist.

Ich weiß es seit dem Tage, an dem mir die letzte Mahnung zuflog. Sie kam, wie alle Erkenntnisse, in einer wohlbekannten, oft gesehenen Gestalt. Es war ein Spruch, den ich in einem Buch „zufällig“ las, ein alter Satz, ein Wort aus der Bibel, und eines, das ich seit vielen Jahren kannte und auswendig wußte. Aber heute war es neu, heute klang es inwendig, heute lebte es:

„Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“

Jetzt habe ich wieder etwas, dem ich nachgehe, das mich leitet, dem ich Blut opfere. Es ist kein Wunsch und Traum, es ist ein Ziel.

Dies Ziel ist wieder — eine Zuflucht! Nicht eine Höhle, nicht ein Schiff. Ich suche jetzt und begehre eine Zuflucht inwendig in mir, einen Raum oder Punkt, wo nur Ich ist, wohin die Welt nicht reicht, wo ich allein zu Hause bin, sicherer als Gebirg und Höhle, sicherer und verborgener als Sarg und Grab. Das ist mein Ziel. Dorthin soll nichts eindringen können, es werde denn ganz zu Ich.

Dann mögen Stürme sein, mögen Schmerzen sein, möge Blut fließen!

Noch bin ich lange nicht dort, noch bin ich am ersten Anfang des Weges. Aber es ist nun mein Weg. Nicht mehr mein Traum!

O tiefe Zuflucht! Dich erreicht kein Sturm, dich brennt kein Feuer, dich zerstört kein Krieg. Kleine Kammer im Innern, kleiner Sarg, kleine Wiege. Du bist mein Ziel.

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