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DIE ZWEIFEL DES THOMAS

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T\ie Evangelisten berichten nichts darüber, warum Thomas an der Tatsache der Auferstehung zweifelte. Gerade er, der Tapferste unter den Aposteln. „Gehen wir mit Ihm, um mit Ihm zu sterben“, sagte er, als Christus aus der Sicherheit Transjordaniens nach Judäa aufbrechen will, um Seinen Freund Lazarus aus dem Grab zu rufen. Thomas hat nicht wie Judas verraten, nicht wie Petrus geleugnet, Christus zu kennen. Thomas war sicher einer von jenen, die im Oelgarten Gethsemane für Jesus das Schwert zogen. Gewiß — er flüchtete wie alle anderen, und unter dem Kreuz war er nicht zu finden. Aber das war ja schon der Ausfluß seines Zweifels.

Thomas ist kaum ein Aesthet gewesen, der am Kreuz Anstoß nahm, weil ihm die Sache zu peinlich und zu blutig verlief, ein Träumer, der das Paradies kommen sah, ein Idealist, der enttäuscht ist, weil seine Konstruktion an der Härte der Wirklichkeit scheiterte. Thomas war kein karriere- und genußsüchtiger Spekulant, der von der messianischen Bewegung Jesu für sich wirtschaftliche Vorteile und entsprechende Machtpositionen erwartete, und der nun enttäuscht resignierte. Thomas war kein Rabbiner, den theologische Zweifel an der Messianität des Meister plagten und der die Thora des Moses über das lebendige Geisteszeugnis des Jesus aus Nazareth stellte. Thomas war kein methodischer Zweifler mit wissenschaftlichen cartesianlschen Vorbehalten, dem die Sache unglaubwürdig, weil unbewiesen vorkam. Die Manie der Positivisten, die Hand am Leib und den Gedanken im Kopf zu leugnen und sich in nie endenwollenden puristischen Begriffsdefinitionen zu ergehen, war ihm fremd. Thomas war auch kein pietistischer Schwärmer, der von der Macht der Liebe die allgemeine Bekehrung und das Bruderreich auf Erden erwartete, und kein Gnostiker, der sich mit Jesus in ein unangreifbares inneres Reich der Meditation, Spekulation und Vision flüchten wollte. Thomas war kein fanatischer Sektierer, der mit dem Messias Jesu Rache an den Gottesfeinden nehmen wollte, um die Erde von ihnen zu reinigen und das Reich Gottes mit der Schärfe des blutigen Schwertes aufzurichten.

Aber Thomas litt ohne Zweifel am Zweifel aller, die damals die „göttliche Katastrophe“ miterlebten. „Und wir hatten gehofft, daß Er es sein werde, der Israel retten würde“, sagen die Jesusjünger, die nach Emmaus wandern. Sie erwarteten und suchten alle in Jesus von Nazareth den starken Gott. Und was anderes wollen Menschen, wenn sie nicht Autonomisten sind, die Gott leugnen oder schwach halten (wie die Deisten, d. h. Liberalen), damit ihre menschgöttliche Glorie nicht geprüft werde. Es ist nicht bloß eine jüdische Vorstellung („Die Juden suchen Machtzeichen“), daß Gott sich durch Stärke in dieser heillosen und gestörten Welt als Gott dokumentieren müßte. Das Paradies ist verschwunden, Kriege, Klassenkämpfe, rassische Auseinandersetzungen, ideologische Weltkonflikte toben auf einer Erde, die längst die technische zivilisatorische Möglichkeit hätte, eine geeinte Brüdergemeinde Menschheit zu beherbergen. Alle nationalen und sozialen Messianismen sind nichts als Surrogate für diesen Glauben an den starken Gott, der Ordnung, Frieden und Gerechtigkeit auf Erden stiften wird. Und alle Anklagen gegen Christus und das Christentum sind nichts als Enttäuschung darüber, daß Sein Paradies noch nicht gekommen ist und Jesus anscheinend nicht der Christus war, weil es noch Hunger, Unterdrückung, Angst und Tod gibt. ..Bist du es, der kommen soll, oder sollen Wir auf einn anderen warten?“ Und Diktatoren mit ihren Ideologen bieten sich an, dieser andere schlechthin zu sein. Thomas war vor: Untergang dessen, in dem er den Bringer einer neuen Erde verehrt hatte, erschüttert und verstört. Aber nicht bloß vielleicht von der Katastrophe Seines „Reiches“. Vielleicht von der Kampflosig-keit Seiner Gefangennahme und Seines Todes. Vielleicht von den Worten des Verratenen: „Stecke das Schwert in die Scheide.“ Vielleicht hatte Thomas im Herzen aufgejubelt, als es hieß: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Auch wenn für ihn das „Reich der Himmel“ mehr als ein politisches Imperium war, und wenn er die Völker der Heiden nicht als Außenstehende massa damnata ansah — Thomas hätte sicher keinen Anstoß am Machtkampf Gottes in dieser Welt genommen. Aber er verstand den Gott nicht, der vor der Niedertracht Seiner Feinde kapitulierte. Thomas wäre an Seiner Seite gewesen, Thomas war ein militanter Diener Seines kommenden Reiches. Aber er verstand den leidenden Gott nicht. Er bangte um seine Existenz, als Jesus gekreuzigt wurde. Er konnte Seinem Gott die verlorene Schlacht und den Triumph des Bösen nicht verzeihen. Thomas wollte, wie alle, daß die Gerechtigkeit triumphiert. Vielleicht hatte er sich entschlossen, nun seine Hoffnung auf die Waffe zu setzen und als Partisane seinen Weg zu gehen. Vielleicht war er nun damit einverstanden, daß man Barrabas losgekämpft hatte und nicht Jesus. Denn Barrabas war ein Vorkämpfer des säkularisierten Messianismus. Thomas hat das Reich als „Friede und Freude im Heiligen Geist“ nicht angenommen, weil ihm die zeitliche Realisation ab soziale und politische und sakrale eschatolo-gische Ordnung fehlte. Thomas wollte das Ganze, die „Wiedergeburt des Kosmos“, die „Wiederherstellung aller Dinge“, mit eigenen Augen sehen und eigenen Händen greifen.

Thomas wollte die Welt ändern und konnte es nicht ertragen, daß Gott sie ändern wollte. Und der statt dessen den Gehorsam des Todes empfahl.

Das Kreuz als Prinzip, das Kreuz als Methode, das Kreuz als verbindlichen Weg für jede Jüngerschaft — dem galt der Protest des Thomas. Thomas war ein Liebender, ein Entflammter. Er erwartete für Millionen von Leidenden die Wiederkunft des Paradieses, für Millionen von Unterdrückten die Freiheit und Gerechtigkeit. Thomas war kein Anwärter auf Mandate und Positionen, er war ein Leidender für alle, der für alle ihr Recht verlangte.

Die im Zweifel enthaltene Verzweiflung an der Schwäche Gottes teilt Thomas mit den anderen. Wie aber erklärt es sich, daß er nicht mit den anderen glauben will, als sie ihm strahlend verkünden: „Wir haben den Herrn gesehen“? War es diese Revolte gegen das Kreuz als Schicksal für Christus, für Thomas, für eine Menschheit? War es Desinteresse an Jesu Auferstehung, weil er das Leiden abgeschafft wissen wollte, das, was schon geschehen war, wofür es keine Heilung gab, das, was allen anderen nun, was der Menschheit bis ans Ende bevorstand?

Und weshalb brach der Mann ins Knie, als ihm, gerade ihm, der Auferstandene inmitten der Brüder erschien; und weshalb bekannte er als erster das feierliche Bekenntnis, auf das sich nun bis zum Ende die ganze Kirche stützt: „Mein Herr und mein Gott“? Thomas taucht die Hand ins Wundenmal, in die durchbohrten Hände, die geöffnete Seite. Kam ihm in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß das Schicksal-des Kreuzes und das Schicksal des Todes nichts bedeuten als den Anlaß zur Liebe? Daß es nicht entscheidend Ist, was man erfährt, sondern wie man es trägt: ob man glaubt und nicht verzweifelt, ob man gehorcht und nicht rebelliert, ob man zum Schlachtopfer der Liebe wird und nichts mehr für sich begehrt. Vielleicht hat er in diesem Augenblick begriffen, daß Gott auf dieser Erde niemand tötet, wie Camus meint, weil Er herzlos oder Teufel ist, sondern, weil Er seinen Brüdern die höchste Möglichkeit nicht nehmen will, für die vielen, für alle ein Geopferter zu sein. Das Reich Gottes war im Tode Jesu nicht zerbrochen, untergegangen. Es war im Todesgehorsam, in der Todesliebe des Sohnes und des Menschenbruders Wirklichkeit geworden. Die fordernde Gerechtigkeit hat ihr Recht verloren. Zum Objekt der Gerechtigkeit zu werden bedeutet nichts. Zum Subjekt der tausendfach geprüften, der gekreuzigten Glieder nach göttlichem Vorbild zu werden, das allein schafft eine neue Menschheit, eine neue Welt. Sie quillt aus der verklärten Wunde, in die mit zitternder Hand Thomas griff.

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