6591015-1952_26_01.jpg
Digital In Arbeit

Die zweite Generation

Werbung
Werbung
Werbung

Das Schlagwort von de Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen" ist ebenso aus der Mode gekommen wie die Mehrzahl der populären kurzschlüssigen Sinngebungen der geschichtlichen Entwicklung. Ist doch das Mißvergnügen an der Gegenwart allzu weit verbreitet und wohl auch begründet, als daß man die gesamte bisherige geschichtliche Entwicklung als eine Reihe von auf die Gegenwart hingeordneten „Vorstufen“ auffassen möchte, während andererseits auch der Glaube an eine Entwicklung auf eine künftige Idealzeit hin zusammen mit allen welt- lich-utopistischen Ideologien stark an Überzeugungskraft eingebüßt hat. Geblieben ist aber doch wohl das Bedürfnis, in der fast unübersehbaren Fülle von Umwälzungen, Revolutionen und Kriegen, welche die jetzt lebende und denkende Generation in den vergangenen Jahrzehnten teils aktiv, teils passiv mitmachte und noch mitmacht, die tieferen Ursachen und größeren Linien zu sehen, die der verwirrenden Vielfalt der Tagesereignisse zwar vielleicht noch keinen Sinn verleihen, aber sie mindestens in ihrer tyrannisch-beklemmenden Bedeutung abwerten und sie auf den gebührenden Platz verweisen; eben als widerspruchsvolle Oberflächenwirbel, die größere und tiefere Strömungen zugleich dem forschenden Blick anzeigen, dem oberflächlichen aber verbergen.

Wenn daher im folgenden versucht werden soll, ein in dieser oder jener Form die ganze Welt berührendes Problem aufzuzeigen, so darf dieser Versuch keineswegs als das hybride Unterfangen aufgefaßt werden, eine allgemein- und alleingültige Formel für die Umwälzungen und Tendenzen unseres Jahrhunderts zu finden, sondern allein als Ausdruck des Bemühens, in dem Wirrsal der Zeitgeschichte einen und gewiß nicht den einzigen „Trend", eine durchgehende Tendenz also, herauszuarbeiten.

Die Erkenntnis, daß wir etwa seit der Jahrhundertwende, deutlich aber zumindest seit dem ersten Weltkrieg (über die beste chronologische Abgrenzung ließe sich eine lange, im Grunde unfruchtbare Diskussion abführen), in einer Zeit tiefgreifender. weltweiter Umwälzungen leben, bildet dabei eine Voraussetzung unserer Überlegungen. Denn so wahr es ist, daß „Krisenhaftigkeit" ein ewiges Merkmal geschichtlichen Geschehens ist, so unbestreitbar gibt es doch Epochen verhältnismäßiger Stabilität und andere voll Bewegtheit, Unruhe und Krisen; und ebenso unbestreitbar ist es wohl auch, daß wir in einer solchen Zeit der „Umbrüche", „Aufbrüche", „Revolutionen" und „Krisen" leben, von Vorgängen, für die gerade wir nicht zufällig ein so reiches, bis zum Überdruß verwendetes Vokabular entwickelt haben.

Die amerikanischen Soziologen kennen den Begriff der „zweiten Generation", der aus der Praxis der Einwanderungspolitik, der Kriminalstatistik und der Jugendfürsorge stammt und in dem ununterbrochenen Strom der Assimilierung der Einwanderer immer wieder seine Brauchbarkeit beweist. Während nämlich die „erste Generation", die der Einwanderer, in ihrem Wesen noch die alte Heimat mit in die Neue Welt mitbringt, sich in kon- nationalen Gruppen zusammenschließt, so unzählige „Klein-Deutschland", „Neuitalien", „Klein-Armenien“ usw. bildend, kurz, in der geschlossenen Kultur der alten Heimat weiterlebt; während die „dritte Generation“ sich meist bereits völlig der Neuen Welt angeglichen hat, ist die „zweite Generation" die Problemgeneration mit dem höchsten Prozentsatz an Kriminalität und an gescheiterten Existenzen. Weit über das Ziel hinausschießende Anpassung, Minderwertigkeitsgefühle, Überempfindlichkeit und Reizbarkeit,' seelische Wurzel- und Heimatlosigkeit, durch den Zusammenstoß zweier Welten in der Psyche des einzelnen bedingte Labilität sind die Kennzeichen dieser nicht mehr der Alten, noch nicht der Neuen Welt verbundenen Generation. Wobei die Zuschreibung einer solchen Geisteshaltung allein der zweiten Generation natürlich insofern eine vergröbernde Verallgemeinerung darstellt, da Spuren dieser Geisteshaltung oft schon bei der ersten oder noch bei der dritten und wohl auch noch bei späteren Generationen zu finden sind. Aber als typisch für diese Haltung ist doch eben die jeweilige „zweite Generation" anzusprechen.

Nun ist es bemerkenswert, aber nicht weiter erstaunlich, daß wir die eben gekennzeichnete Geisteshaltung der „zweiten Generation" nicht nur in den USA, sondern weitverbreitet, als fast die ganze Bevölkerung oder zumindest breite Schichten von ihr umfassenden „neuen Nationalcharakter" in allen jenen Ländern und Erdteilen finden, wo eine „geschlossene" alte Kultur mit der „modernen" okziden- talen Weltzivilisation zusammenstößt und von dieser abgelöst wird; so vor allem im Vorderen Orient, in der Welt des Islam, aber auch in allen anderen Ländern, die nach der fortschrittsoptimistisch- oberflädilichenTerminologie des „Punkt-4- Programms" Präsident Trumans als „zurückgebliebene“ oder unterentwickelte Gebiete" bezeichnet werden; letzten Endes, wenn auch in etwas anderer Form selbst in Europa, im europäischen Dorf oder in der sich ebenfalls auflösenden, nach „Klassen" und „Ständen" geschichteten Gesellschaft der europäischen Städte und Nationen. Auch hier kann man überall die typischen Kennzeichen der Geisteshaltung der „zweiten Generation" verfolgen, nur daß sich dort, wo die Widerstände stärker sind, die Auseinandersetzung wohl auf noch mehr biologische Generationen erstreckt als in den Vereinigten Staaten. Die Mittel, mit denen die okzidentale Weltzivilisation in die Bereiche der „geschlossenen" alten National- oder Regionalkultur eindringt, sind vor allem die der modernen Technik, der Massenkommunikationsmittel — billige Magazine, Radio, Film — und der stan dardisierten Kleidung. (So hat neben den beiden Weltkriegen vielleicht nichts so sehr das alte „imperialistische"/ auf der strengen Rassentrennung beruhende Kolonialsystem zerstört wie die Distanz- losigkeit des Hollywoodfilms, der das „farbige" Publikum auf dem Umweg über die Flimmerleinwand in unmittelbaren Kontakt mit dem Familien-, Gefühls- und Geschlechtsleben der „Weißen“ brachte.)

Es ist nicht zu leugnen, daß es sich hier um einen großen Entwurzelungs- und Nivellierungsprozeß handelt, dessen unaufhaltsames Fortschreiten den Kulturhistoriker und Romantiker, den Freund organisch gewachsener Kultur und der farbenfrohen Vielfalt der Welt ebenso schmerzt, wie es den religiösen und ethisch verantwortungsbewußten Menschen (und damit zunächst auch alle Religionsgemeinschaften der Welt) mit tiefer, berechtigter Sorge erfüllt. Die Weltreligionen, voran das Christentum, haben allerdings bereits erwiesen, daß sie entgegen ursprüftglicher, „konservativer" Befürchtungen auch diese tiefgreifende Umwälzung zu überstehen, ja daraus sogar neue Kräfte zu ziehen vermögen, weil eben Religion im Menschen weit tiefer angelegt und daher auch beständiger und unzerstörbarer ist als alle „Kultur".

Ergibt sich so als düstere Aussicht nur die Zukunftsvision des menschlichen Ter-mitenstaates, der völligen Bindungs-, Wurzel- und Beziehungslosigkeit der zukünftigen Massen-Menschheit, die von Bangkok bis New York, von Kapstadt bis Hammerfest in ihren Lebensgewohnheiten, in Wohnung, Kleidung, Nahrung, in kultureller Produktion und Konsum immer gleichartiger, einförmiger, farbloser wird? Das amerikanische Beispiel, das den Ausgangspunkt für unsere Überlegungen bildete, mag uns auch hier eine nicht völlig hoffnungslose Antwort andeuten. Denn dort folgt auf die Wurzellosigkeit der „zweiten Generation“ stets die neue Bindung an neue Gemeinschaften („Home-town . Berufs- und Arbeits-

gemeinschaft, und vor allem die natürliche „Urzelle“, die Familie, ausgehend von der Kleinfamilie wieder zu neuen größeren Familiengemeinschaften, während die Religionsgemeinschaften den Wandel aus den bereits angeführten Gründen am besten überstehen). Ansätze zu solchen neuen Bindungen, vor allem in der Gemeinsamkeit der Arbeit, sind auch in Europa und auch bereits in anderen Erdteilen erkennbar. (Auch in den kommunistischen Staaten vollzog und vollzieht sich ja im Grunde, teils gefördert, teils gehemmt vom totalitären System, die gleiche innere Wandlung und Umwälzung.) Außerdem ergibt sich gerade wieder aus dem amerikanischen Beispiel die tröstliche Feststellung, daß die alten Kulturtraditionen, nach der völligen Assimilierung und scheinbaren Vernichtung in verwandelter, neuschöpfe- rischar und verjüngter Form wieder auferstehen, unerwartete „Renaissancen“ erlebend.

Das tiefe, seit Jahrzehnten immer stärker fühlbar werdende innere Unbehagen unserer Zeit aber mag tatsächlich nicht zuletzt daher rühren, daß wir alle zu einer großen, weltweiten und weltgeschichtlichen „zweiten Generation“ gehören

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung