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Diese Freikartenanwärter!

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Ich muß mir endlich einmal einen Aerger von der Seele schreiben, der mich schon jahrelang bedrückt.

Und zwar ist es die unausrottbare und unabsehbare Menge der professionellen Freikartenanwärter, die mich in Rage bringt. — Wieso gilt überall auf der Welt der Grundsatz: Ins Theater oder Konzert geht man (im Falle man dort auch nur den wachehabenden Portier des Gebäudes persönlich kennen sollte) prinzipiell nur — umsonst!! Das gibt es doch in keiner anderen Branche des vielverzweigten Geschäftslebens.

Ist es jemals irgendeinem Menschen in den Sinn gekommen, ein Schuhgeschäft zu betreten, in welchem zufällig der Bruder oder die Tante hinter der Budel stehen und — auf dieses verwandschaftliche Verhältnis pochend — vom Besitzer des Lokals ein Paar Lackschuhe oder Schuhwichse — umsonst — zu verlangen? Oder gibt es jemanden, der es wagen würde, auf der Post auch nur eine Briefmarke zu beanspruchen, nur weil der Beamte am Schalter ein guter Freund ist?

Wir aber werden mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt — unser ganzes Leben lang, immer wieder um Frei karten gebeten. Gebeten ist viel zu mild ausgedrückt, erpreßt, vergewaltigt! — und das aber nicht etwa von armen Teufeln, die hungrig nach geistigen Genüssen verlangen oder von Halbwüchsigen, deren Taschengeld nicht ausreicht, um sich einen Theaterbesuch zu leisten. Die gehen rührenderweise auf die Galerie, warten stundenlang angestellt und schreien sich dann auch noch die Kehle wund. Nein! — Die Verlockung, etwas umsonst genießen zu können, steckt in der besitzenden Klasse; jene paart sich mit der Genugtuung, boshaft auf die Mitmenschen herabsehen zu können, die weiter hinten sitzen und auch noch so dumm waren, ihr gutes Geld zur Kasse des jeweiligen Theaters zu tragen!

Diese Leute sind komischerweise auch noch der festen Ueberzeugung, daß man die Billetts immer in der Tasche mit sich herumträgt, und ahnen nicht, welch ein umständlicher und langwieriger Weg zu beschreiten ist, um sie zu erlangen.

Meist muß man ein oder zwei Tage vorher einreichen, und zwar persönlich, in der Direktion, und das schriftlich. (Erster Weg.) Dann ein oder mehrere Male telephonieren, um anzufragen, ob sie bewilligt sind. (Zweiter Weg.) — Dann kommt die Verständigung des Benutzers des Lustobjektes, welche telephonisch erfolgen kann, im Falle er aber keines besitzt, mit Briefschreiben, Hinsenden eines Bekannten usw. verbunden ist. (Dritter Weg.) Hat er aber ein Telephon und ruft man ihn an, ist er selbstverständlich nicht zu Hause; man bittet die Magd, den Untermieter oder die Zimmerfrau, sie beschwörend, die Post gewissenhaft auszurichten. Ebenso selbstverständlich ist es dann, daß dies meistens nicht oder zumindest falsch vor sich geht. Die Karten werden also nicht abgeholt. Der Schnorrer flucht, weil er sich vergessen glaubt, der Kassier flucht, weil er die Karten bis zur letzten Sekunde zurückgehalten hat und natürlich hätte x-mal verkaufen können. Wütend holt er dich aus der Garderobe heraus (vierter Weg) und stellt dich kurz vor dem Auftreten zur Rede. Es entspinnt sich ein häßlicher Streit, man schreit und schwört, niemals mehr auf solche Bitten zu reagieren — um am nächsten Tag wieder denselben Bestürmungen machtlos zu erliegen.

Obgenannte Situation muß sich aber nicht immer einstellen. Es gibt auch andere Variationen dieses liebenswürdigen Themas, Der entgegengesetzte Weg ist ebenso beliebt.

Alle Telephonate haben am Vormittag wie durch ein Wunder funktioniert, man legt sich nach dem Mittagessen noch auf ein Stündchen zu wohlverdientem Schlafe nieder, da schrilk die Glocke des Teufelsapparates grell in die Ruhe der Siesta hinein. Mit grenzenloser Kaltblütigkeit wird man verständigt, daß der gütige Nutznießer den überraschenden Besuch seiner Großmutter bekommen hat und tief bedauert, der Vorstellung nicht beiwohnen zu können. Er oder sie miauen verführerisch ins Telephon: „Sie werden die Karten doch sicherlich noch verwerten können, wo doch s o viele Leute darauf warten, Sie in dieser schönen Rolle endlich zu bewundern. Nicht wahr, Sie sind nicht böse. Es geht wirklich nicht. Aber am nächsten Sonntag gehen wir ganz bestimmt“, flötet der oder die Holde, „vergessen Sie bitte nicht, wir halten uns den Abend nur deswegen frei! Wann darf ich wieder anrufen? Morgen früh? Ah, da wissen Sie es noch nicht? Ja wieso?“ — „Am Sonntag früh, aber nicht vor 10 Uhr“, rufe ich fassungslos und hänge ab. — Nun stehe ich da mit meiner ganzen Weisheit und habe das Vergnügen, die Liste meiner Abnehmer durchzugehen und einen nach dem anderen anzurufen. Wie das eben so ist, hat auf einmal niemand Lust und Zeit, jeder ist schon verabredet oder eingeladen. Idi bekomme noch bittere Vorwürfe zu hören, denn drei Stunden vorher hat man niemandem zuzumuten, eine Vorstellung zu besuchen! — Wütend wende ich mich an die Direktion zurück. „Was, jetzt kommen Sie daher, Sie Unglücksvogel“, donnert der zufällig anwesende Dramaturg, „und den ganzen Vormittag habe ich mit dem Kassier gekämpft, um ihre blöden Plätze freizuhalten. Kommen Sie wenigstens eine Stunde früher, damit ich sie noch zur Abendkasse geben kann. Das nächste Mal werden Sie mir gütigst ersetzen müssen, lieber Herr Aslan und...“

Ich hänge ermattet den Hörer an, die Laune ist mir gründlich verdorben.

Weit gefehlt wäre es aber, anzunehmen, daß die geliebten Freikartfcr, wenn sie dann endlich doch im Zuschauerraum sitzen, dankbar sind und begeistert Beifall klatschen. O nein, sie sind im Gegenteil äußerst anspruchsvoll, ja sogar unendlich verwöhnt und wählerisch. Das ordinäre Applaudieren überlassen sie der Galerie, nach der sie sich vorwurfsvoll und kopfschüttelnd umdrehen, und von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Man wird mit bitteren Vorwürfen übea häuft, sollte man sie zu einer Darbietung gelockt haben, die nicht ihre Zustimmung findet. Dann hat man diesen bösen Mißgriff wieder gutzumachen, muß mindestens Premierenbilletts besorgen oder eine Loge zum Opernball...

Ja, die Tragödie der Freikarte muß noch geschrieben werden, sie könnte endlose Bände füllen. Ich werde die Idee kolportieren; vielleicht findet sich ein williger Autor, der diesen Stoff aufgreift. Ich biete ihn feil! Zum ersten — zum zweiten — zum dritten. Zuge-* sprochen!

Aus „Nichts Menschliches ist mir fern“, Verlag Wilhelm Frick, Wien.

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