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Diese komischen Leute mit den scharfen Zähnen

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DER KRITIKER STEHT, so will es die ideale Vorstellung, zwischen dem Kunstwerk und dem Publikum als Vermittler. Freund und Berater der Künstler. Helfer und Führer seiner Leser, ist er, wie es einmal formuliert wurde, „ein Anwalt echten Lebens in der Kunst und ein Anwalt echter Kunst im Leben". Objektiv, das heißt von persönlichen Neigungen und Antipathien unbeeinflußt, dient er dem Wertvollen, indem er ihm den Weg bereitet und das Mittelmäßige und Wertlose zurückdrängt.

DAS REALISTISCHE, gleichfalls traditionelle Bild, das die Oeffentlichkeit vom Kritiker hat, sieht freilich anders aus. Es ist vor allem durch das Odium des mißvergnügten Kontrollbeamten bestimmt, der als Aufpasser im Konzert sitzt und nach Unvollkommenheiten und Fehlern sucht. Ist er im Recht und hat er genügend Autorität, so billigt man ihm — wenn auch ein wenig widerwillig — die nicht gerade sympathische Rolle des Kunstrichters zu. Irrt er sich, so steht er als Beckmesser da, zuweilen schon vor seinen Zeitgenossen, aber sicherer noch vor der Nachwelt blamiert.

DENN DAS PUBLIKUM ist zutiefst davon überzeugt, daß es der Kritiker leichter hat als der Künstler. Zweifellos — so argumentiert man — ist es schwieriger, eine Symphonie zu schreiben als sie zu kritisieren, und es erfordert n ’hr Talent, eine Beethoven-Sonate gut zu spiflMi, als Fehler der Interpretation herauszufinden.

ANDERSEITS ERGÖTZT MAN SICH gern an den Kritikern, diesen komischen Leuten mit den scharfen Z’ahnug und der spitzen Feder, die jedqn Tag, oftmals loch in der Nacht, wenn der Konzertbesucher n,ch gehabtem Kunstgenuß ruhig- schläft, eine erühmte Primadonna zerreißen oder einem so komischen Vogel wie einem modeinen wölftonkoaiponisten die Federn ausrupfen. Hier wirkt das Vergnügen an Zirkusspielen, öffentlichen Hinrichtungen und Raufereien, die ja immer ihr Publikum finden, zu seinen Gunsten, Und man findet, was die

Leute von der Presse produzieren, zwar nicht immer ganz seriös, aber oft amüsant.

DIE GEFÜHLE DES KÜNSTLERS, des Schaffenden oder des Interpreten, für den Kritiker reichen von milder Nachsicht bis zu wildem Haß. „Jedes Land“, schreibt zum Beispiel ein angesehener italienischer Komponist, „hat seine Kritik. Die der Tageszeitungen meines Landes arbeitet seit dreißig Jahren an dem Beweis, daß ich nicht existiere.“ Und ein bekannter österreichischer Musikverleger urteilt: „Die Musikkritik ist eine Aeußerung der menschlichen Unzulänglichkeit, gefährlich allerdings nur für den, der sie ernst nimmt. Da sie mich nur im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit für Propaganda interessiert, finde ich diese Unzulänglichkeit zuweilen nützlich.“ So nüchtern freilich vermag nur einer zu urteilen, dem die kritische Feder nicht ins eigene Fleisch, sondern höchstens in die Partituren seiner Autoren sticht.

BETRACHTET MAN DAS VERHÄLTNIS der Künstler zur Kritik, so ist zunächst die Gruppe derjenigen anzuführen, die angeblich keine Kritik liest und denen, was in den Zeitungen steht, vollkommen gleichgültig ist. Wiederholte Erfahrungen mit diesen Künstlern dementieren freilich ihre Einstellung. Kommt man nämlich zufällig mit so einem „prinzipiellen Nichtleser“ ins Gespräch, so kann man es erleben, daß der von einer Kritik Betroffene oft noch nach Jahren auswendig auf sagen kann, was der oder jener einmal über ihn geschrieben hat.

DIE ÜBERWIEGENDE MEHRHEIT der Künstler, Komponisten und Interpreten, hat dem Kritiker gegenüber folgende Einstellung: Er sei streng und unnachsichtig — gegen die anderen, wohlwollend — was die eigene Person betrifft; er gehöre zu keiner Richtung und zu keiner Clique — außer zu derjenigen, der man selbst angehört; er soll sich nicht beeinflussen lassen — von den anderen und soll Belehrungen natürlich nur wieder von einem seihst entgegennehmen. Der gute, lobenswerte Kritiker ist, kurz gesagt, derjenige, der lobt; und als böser Dilettant wird jeder bezeichnet, der tadelt. Zwar bekennen sich manche Künstler zur „positiven Kritik“, aber was sie darunter verstehen, ist nicht Kritik, sondern zumindést ein halbes Lob. Ein Tadel, auch wenn er wohlbegründet ist, wird selten angenommen, das Lob dagegen willig auch aus der Hand dessen empfangen, dem man sonst nicht gerade Hochachtung entgegenbririgt.

DER SCHAFFENDE KÜNSTLER, der Komponist, kann aus subtileren psychologischen Gründen der Kritik keinen besonderen Wert beimessen, vor allem dann nicht, wenn sich diese auf sein letztes Werk, das jüngste Kind, bezieht, das man bekanntlich immer am meisten lieht. Hat ein Komponist keinen Erfolg, so ist daran, zum großen Teil, die Kritik schuld. Hat er Erfolg, so braucht er diese nicht zu beachten. Ein sehr berühmter zeitgenössischer Komponist schrieb einmal: „Die Musikkritiker müßten ebenso kompetent sein wie ich selber, um meine Absichten kritisieren zu können. Sie sind aber nicht reif genug, über mich ein Urteil zu fällen. Ich bin zu sicher in dem, was ich tue. Ich bin nicht vollkommen, aber s i e können es nicht wissen.“

WAS MAN VOM KRITIKER vor allem - und mit Recht — erwartet, ist Fachwissen, Vertrautheit mit der Materie. Ja man neigt dazu, darin ausschließlich die Legitimation zum Amt des Kunstrichters zu sehen. Aber wären dann nicht der Wissenschaftler, der Gelehrte oder der selbst schöpferisch Tätige die besten und kompetentesten Kritiker? Nun, man hat mit den einen und den ändern seine Erfahrungen gemacht. Und sind nicht auch sie überfordert, wenn man von ihnen — wie vom Berufskritiker — erwartet, daß sie auf sämtlichen Spezialgebieten ausgebildet sein sollen? Denn es kann einer nicht gleichzeitig Geiger und Pianist, Orgelspieler, Dirigent, Komponist und Sänger sein.

Wohl aber darf man vom Kritiker erwarten, daß er über jede dieser Sparten einen Ueberblick hat, der ihn zu einem fundierten Urteil befähigt.

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ÄNDERN ERSCHEINT DAS nicht genug, ja nicht einmal wichtig. „Jeder Fachmann ist in seinem Fach ein Esel", schrieb schon Jean Paul, und das Verschwinden des kritikenschreibenden Komponisten, also des „Fachmannes“, der über den Fachmann urteilt, wurde vor kurzem in Frankreich mit Jubel begrüßt. Ein großer zeitgenössischer Komponist meint: „Um ein Kunstwerk empfangen zu können, muß die eigene Phantasie schöpferisch mitwirken. Der Empfangsapparat muß auf den Sender abgestimmt sein. Man braucht eigene Wärme, um ein Kunstwerk aufnehmen zu können, um zu einem Werturteil zu kommen."

UND WIE WÜNSCHT MAN SICH den Kritiker? „Die Kritik soll mutig und leidenschaftlich subjektiv sein“, meint ein argentinischer Musiker. „Für mich ist das Subjektive dasjenige, vor dem sich die Kritik am meisten zu hüten hat“, urteilt ein französischer Kollege. Lassen wir die schwierige Frage nach der Möglichkeit (und absoluten Wünschbarkeit) völlig objektiver Urteile unbeantwortet. Künstler, Publikum und Kritiker wissen sehr wohl, welche Grenzen einem abstrakt-sachlichen Urteil gesetzt sind. Seine Neigungen und Abneigungen, den persönlichen Geschmack und das gelegentlich mit ihm durchgehende Temperament wird man einem Kritiker verzeihen. Nur nicht, daß sein Urteil durch persönliche Beziehungen, durch Freunderlwirtschaft und durch materielle Faktoren beeinflußt ist. Ebenso empfindlich sind Publikum und Künstler in puncto „Inkompatibilität“, und auf diesem Gebiet wünscht man manchen Kritikern eine dünnere Haut. Aber das ist ein weites Feld

DER KRITIKER SELBST stellt sich immer wieder die Frage: Für wen schreibe ich eigentlich? Für die Künstler, das heißt für die Ausführenden und Schaffenden, oder für das Publikum? Für diejenigen, die das betreffende Konzert besucht haben, oder für die viel zahlreicheren anderen, die nicht dabei waren und die sich ein Bild machen wollen von dem, was geboten wurde? Schreibt er für Fachleute oder für „Laien", die kein spezielles Fachwissen, vielleicht auch kein ausgesprochenes Interesse an der Technik einer Komposition und den Details einer Aufführung1 haben, aber trotzdem gern auch auf diesem Gebiet „auf deni laufenden“ bleiben wollen?

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SO VIEL FRAGEN, so viel Antworten. Notieren wir nur zwei davon. Ein bekannter deutscher Verleget sagte einmal, der Kritiker habe seinen Auftrag von der Gesellschaft. Sein

Platz sei im Publikum, nicht auf dem Sessel des „Fachmannes“. Fachwissen und Kennerschaft ‘taugen zu nichts, wenn sie ihn nicht zum Liebenden machen, zum Liebenden der Kunst und des Publikums, dem er die große Einheit, die Architektur dessen, was es nur bruchstückhaft erlebt und begreift, verdeutlicht und erklärt. Ein zeitgenössischer Instrumentalsolist hat auf eine besonders schöne und wichtige Mission des Kritikers hingewiesen. Es sei, meint er, eine akute und gewaltige Aufgabe, dem Publikum das falsche Schuldgefühl zu nehmen, wenn es genießt, was ihm gefällt, und es von seinen Komplexen zu befreien, wenn es nicht gleich genießen kann, was es nicht begreift.

DAMIT WIRD ZUM SCHLUSS das Thema: der Kritiker als Mittler zwischen der zeitgenössischen Kunst und dem Publikum angeschlagen. Hierzu aber ist — und das scheint das wichtigste Kriterium des Kritikers zu sein — nur der befähigt, der den festen Glauben hat, daß die schöpferischen Kräfte des Menschen unerschöpflich sind. Er darf nicht glauben, daß wir nur schwache Epigonen einer großen Vergangenheit sind. Er muß die Kunst seiner Zeit im Zusammenhang aller ihrer geistigen Phänomene sehen, und er soll sie nicht, von vornherein verdammen. Ein Kulturpessimist taugt nicht zum Kunstkritiker. Er soll also ja sagen zu seiner Zeit — und zur Kunst seiner Zeit. Und er ist nür dann ein guter Kritiker, wenn er die Kunst, in deren Dienst er sich gestellt hat, die Musik, so liebt, daß ihm das Leben minder lebenswert erschiene, wenn es sie nicht gäbe.

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